27

Als sich der Abend über den Schlund senkte, befanden sie sich über dreihundert Meilen weiter im Norden; und anders als am vorangegangenen Abend hatten sie einen Platz für die Nacht gefunden, an dem sie keine Angst haben mußten, unversehens in den Boden einzubrechen oder mit fremden Tieren unliebsame Bekanntschaften zu machen.

Mit Hilfe der Karte, die Zen im Wrack des Heliotopters gefunden hatte, hatten sie einen der steilen Lavafelsen ausfindig gemacht, die sich hier und da aus den Wipfeln des Waldes emporreckten; nicht annähernd so hoch wie der Drachenfels, aber hoch und vor allem unwegsam genug, um Sicherheit vor uneingeladenen Gästen zu bieten. Nahe des Gipfels entdeckten sie eine niedrige, aber sehr tiefe Höhle, wo sie die Nacht verbringen konnten. Sie waren allerdings nicht allein; als Kara einen vorsichtigen Blick in die Höhle warf, stellte sie fest, daß es bereits einen Mieter gab. Er war ziemlich groß, hatte zu viele Beine und entschieden zu große Zähne, aber Markor erledigte das Problem mit einem brüllenden Feuerstrahl. Was von dem Monstrum übrigblieb, eignete sich vorzüglich, ein Feuer für die Nacht zu entzünden.

Im Schein der übelriechenden Flammen studierten sie die Karte zum ersten Mal genauer. Kara war noch nicht überzeugt davon, daß Zen mit seiner Behauptung, das Hauptquartier der Fremden gefunden zu haben, wirklich recht hatte – obwohl einiges dafür sprach. Sie hatten dieses Thema am Mittag allerdings nicht diskutiert, sondern es vorgezogen, so schnell wie möglich von der sonderbar toten Lichtung zu verschwinden. Der See auf ihrem Boden war nicht der einzige Grund, aus dem es dort so wenig Leben gab. Auf dem Rückweg hatten sie mehrere eigentümliche Pflanzen entdeckt, und sie alle kannten die Zeichen einer strahlenverseuchten Region zu gut, um noch länger zu verweilen.

Der größte Teil der kontinentalen Landmasse war noch immer so verstrahlt, daß er gänzlich unbewohnbar war. Nur der Schlund war vom Allerschlimmsten verschont geblieben, weil er früher der Grund des Meeres gewesen war. Welchen Sinn sollte es schon gemacht haben, eine Atombombe ins Wasser zu werfen? Kara verdrängte diese Frage und strich die Landkarte sorgsam auf dem Boden glatt. Die Karte war viel größer, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Sie bestand aus einem dünnen, aber reißfesten Material; völlig auseinandergefaltet, maß sie gute achtzig Zentimeter im Quadrat. Ihr oberer Rand war verkohlt; vermutlich war ein Stück von nicht mehr zu schätzender Größe beim Absturz verbrannt. »Wo genau sind wir?« fragte Maran, während er sich über ihre Schulter beugte.

Nun, da die Karte in voller Größe ausgebreitet war, brauchte Kara einige Sekunden, bis sie ihren derzeitigen Standpunkt wiederfand. Sie deutete auf den winzig kleinen Felsen. Maran blickte den Punkt, auf den sie gedeutet hatte, eine geraume Weile wortlos an. Es fiel Kara nicht sehr schwer, seine Gedanken zu erraten. Sie waren tiefer in den Schlund vorgedrungen als je ein Mensch vor ihnen, und in das aufregende Gefühl, ein phantastisches Abenteuer zu erleben, mischten sich Sorge und Angst vor den Libellenflugzeugen und ihren mysteriösen Erbauern. Außerdem ergab sich ein viel profaneres Problem: Sie hatten seit gestern abend weder etwas gegessen noch getrunken.

»Schade, daß man auf der Karte nicht mehr Einzelheiten erkennt«, sagte Maran. Stirnrunzelnd blickte er Zen an. »Was bringt dich zu der Überzeugung, daß das...« Er wies auf einen Punkt, der fast am Ende der Karte lag. »... ihr Hauptquartier ist?«

Zen verdrehte die Augen, seufzte tief und warf Maran einen vorwurfsvollen Blick zu, weil die Antwort auf diese Frage für ihn viel zu offensichtlich war. »Es ist ein strategisch idealer Punkt«, erklärte er. »Außerdem erkennt man, daß die Karte an dieser Stelle ganz besonders oft gefaltet worden ist. Und sie ist schmutzig.«

»Aha«, sagte Tess. »Was uns beweist, daß wir es mit einer Bande von Schmutzfinken zu tun haben.«

Zen schien ihre Worte nicht besonders amüsant zu finden. »Was uns beweist«, sagte er in belehrendem Tonfall, »daß die Besitzer dieser Karte ganz besonders oft auf diese Stelle gedeutet haben.«

Plötzlich vernahm Kara vom Höhleneingang ein machtvolles Rauschen. Einer der Drachen war zurückgekommen. Die Tiere flogen abwechselnd aus, um irgendwo im Dschungel zu jagen. Kara fragte sich, was sie in diesem beinahe leblosen Wald finden mochten, aber fast im selben Moment drang ein lautes Schlingen und Schmatzen an ihr Ohr; gefolgt von einem Rülpser, der die ganze Höhle zum Zittern zu bringen schien. Kara lächelte, während Silvy fast schmerzhaft das Gesicht verzog. »Drache müßte man sein«, sagte sie. »Ich sterbe gleich vor Hunger.«

»Frag sie doch mal, ob sie dir etwas abgeben«, sagte Kara. Die Worte waren eigentlich als Scherz gemeint, aber Silvy sah sie nur eine Sekunde kopfschüttelnd an, dann stand sie auf, zog ihr Messer aus dem Gürtel und verließ die Höhle. Kara sah ihr kopfschüttelnd nach. Silvy mußte wirklich sehr hungrig sein. Sie wandte sich wieder der Karte zu. Je länger sie sie betrachtete, desto verwirrender kam sie ihr vor. An ihrem Rand befand sich eine Anzahl einfacher, aber unverständlicher Symbole. Eigentlich ohne besonderen Grund streckte Kara die Hand aus und berührte eines davon.

Am Rand der Karte leuchtete plötzlich ein Rechteck aus orangeroten Linien auf.

Kara zog erschrocken die Hand zurück, und Zen und Tess blickten verblüfft auf die Karte hinab. Maran beugte sich stirnrunzelnd vor. »Was war das?« fragte er.

Kara zögerte, dann streckte sie abermals die Hand aus und berührte das Symbol ein zweites Mal. Das Rechteck erlosch. Und leuchtete wieder auf, als sie das Symbol zum dritten Mal berührte. Dann probierte sie auch die anderen Symbole aus, aber nichts geschah.

»Irgendeine Bedeutung muß es doch haben!« murmelte Zen. Er sah Kara fragend an, erntete ein hilfloses Achselzucken als Antwort – und berührte das Rechteck mit dem Zeigefinger. Es begann zu zittern. Zen zog die Finger erschrocken wieder zurück.

Aber Kara beugte sich neugierig vor. Sie hatte etwas entdeckt: Wenn man genau hinsah, erkannte man, daß sich das Rechteck um wenige Millimeter verschoben hatte. Zögernd streckte sie die Hand aus und berührte es auf die gleiche Weise wie Zen zuvor. Aber sie zog die Finger nicht wieder zurück, sondern ließ sie langsam über das Papier gleiten. Das Rechteck folgte der Bewegung.

Zen sperrte Mund und Augen auf, während Kara das Rechteck langsam weiter über die Karte verschob, bis es über der Region angekommen war, in der sie sich befanden. Sie zog die Hand zurück und rechnete fast damit, daß das Gittersegment einfach an seinen angestammten Platz zurückkehren würde, aber es blieb, wo es war.

»Beeindruckend«, sagte Tess. »Und jetzt?«

Kara zuckte mit den Schultern. Sie hatte erwartet, daß irgend etwas geschah, aber nichts war passiert.

Zen fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen, streckte einen zitternden Finger aus und berührte das zweite Symbol auf dem Rand der Karte. Die orangeroten Linien leuchteten auf – und plötzlich begann das Rechteck zu wachsen, bis es fast die gesamte Karte bedeckte.

Und mit ihm wuchs sein Inhalt. Statt einer recht kleinen Darstellung des gesamten Schlundes blickten sie plötzlich auf eine in großem Maßstab gehaltene, farbige und dreidimensionale Darstellung des Berges herab, in dessen Innerem sie sich befanden. Und als wäre dies allein noch nicht erstaunlich genug, bewegte sich das Bild! Sie konnte sehen, wie der Wind mit den Blättern spielte. Die Schatten großer Vögel glitten über die Wipfel dahin, ohne daß die Tiere selbst zu erkennen gewesen wären, und durch eine Lücke in den Bäumen konnte sie Wasser am Grunde des Waldes glitzern sehen. Bald bemerkte man aber, daß sich immer dieselbe Bewegung abspielte, eine Sequenz von nicht ganz zehn Sekunden, die sich ununterbrochen wiederholte. »Das ist... unglaublich!« flüsterte Zen.

Kara sah flüchtig auf, als Silvy zurückkehrte. Sie brachte nichts von der Beute des Drachen mit, war aber ziemlich bleich geworden.

»Schaut euch das an«, murmelte Tess. »Man... man kann sogar die einzelnen Blätter erkennen.«

Das war zwar übertrieben – aber auch Kara hatte nie zuvor eine Karte (Karte?) von solcher Detailgenauigkeit gesehen. Über zehn Minuten saßen sie über die Karte gebeugt da und staunten über dieses Wunderwerk aus einer alten, längst untergegangenen Welt, dann machten sie sich daran, die Funktion der Karte genauer zu ergründen. Kara und Zen experimentierten eine Weile herum, bis sie herausfanden, wie der zu vergrößernde Ausschnitt genau festgelegt oder auch aufgeteilt werden konnte, so daß man zwei, vier oder auch acht unterschiedliche Bereiche der Karte gleichzeitig betrachten konnte. Die Karte war ein kleines Wunderwerk, das allein ihre Expedition in den Schlund gelohnt hatte.

»So«, sagte Maran in fast fröhlichem Ton und wandte sich an Zen. »Dann wollen wir uns dein Hauptquartier ein wenig genauer ansehen.« Mit übertriebenen Bewegungen verschob er das orangerote Rechteck dorthin, wo Zen die Zentrale der Fremden vermutete, dann berührte er das Symbol auf dem Kartenrand, und...

Wahrscheinlich vergingen weitere fünf Minuten, in denen sie völlig reg- und wortlos dasaßen und die Karte anstarrten, gelähmt von einer Mischung aus Entsetzen und Erstaunen. Endlich war es Maran, der das Schweigen brach. »So ist das also«, murmelte er. »Jetzt verstehe ich, daß nie jemand zurückgekommen ist.« Seine Stimme bebte vor Zorn. Er war leichenblaß.

»Ein... ein zweiter Drachenfels«, flüsterte Kara. »Großer Gott. Er ist... er ist mindestens doppelt so groß wie der andere!«

Niemand antwortete ihr. Das Schweigen dauerte an und wurde bedrückender und schwerer, je länger es währte. Kara hatte das Gefühl, daß ihr gleich schwindelig wurde. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Ein zweiter Drachenfels! Und sie hatten geglaubt, Jandhis Hauptquartier aufgespürt und zerstört zu haben! Was für ein grausamer Witz des Schicksals – zehn Jahre lang hatten sie immer und immer wieder junge Reiter in den Schlund geschickt, ohne zu ahnen, daß der wirkliche Feind noch immer da war, genauso stark, wenn nicht stärker als zuvor.

»Was tun wir?« fragte Tess schließlich. Der Klang ihrer Stimme ließ Kara aufblicken. Tess war blaß und zitterte, aber sie war auf eine ganz andere Art erschreckt als Kara.

»Wir fliegen zurück«, antwortete Kara. »Morgen früh, sobald die Sonne aufgeht.«

Zen, Silvy und Maran atmeten erleichtert auf, während Tess Kara fast haßerfüllt anstarrte. »Zurück? Wieso willst du...«

»Wir kehren zum Hort zurück«, unterbrach sie Kara in schärferem Tonfall. »Sofort.«

»Jetzt, wo wir so weit gekommen sind?« schnappte Tess.

»Willst du warten, bis es zu spät ist?« fragte Kara. »Was glaubst du, warum keiner der anderen zurückgekehrt ist?« Sie legte demonstrativ die Hand auf die Karte. »Diese Karte ist vielleicht das Wertvollste, was je im Schlund gefunden wurde! Wir müssen sie zurückbringen!«

Tess schwieg, aber ihr Blick sprach Bände.

»Ich weiß, was du denkst«, sagte Kara ruhig, aber bestimmt. »Vergiß es. Einmal seid ihr damit durchgekommen, aber ein zweites Mal werde ich keinen Alleingang zulassen.«

Tess’ Augen blitzten auf, aber sie schwieg. Kara sah sie einen Moment lang an, dann wandte sie sich an Maran. »Du bist mir dafür verantwortlich, daß sie keinen Unsinn macht, ist das klar? Wenn ich morgen früh aufwache und sie weg ist, dann werde ich dir höchstpersönlich den Kopf dafür abreißen.«

Maran lächelte über ihre Formulierung, aber Kara blieb sehr ernst, und nach einigen Sekunden erlosch Marans Lächeln und machte einem nervösen, fast infantilen Grinsen Platz. Kara war nicht sicher, ob ihre Reaktion richtig gewesen war. Sie kannte Tess gut genug, um zu wissen, daß sie mit ihren Worten wahrscheinlich eher Tess’ Trotz schüren als ihre Einsicht fördern würde. Verdammt, warum war es nur so schwer, Entscheidungen zu treffen?

Sie beugte sich wieder über die Karte und musterte den gewaltigen Felsen. Er war größer als der Drachenfelsen und wurde vom gleichen Gewirr von Mauern, Türmen, Innenhöfen und zinnengesäumten Terrassen gekrönt.

»Das ist... unvorstellbar«, murmelte Zen. Er streckte die Hand aus, als wolle er den Berg berühren; ein Impuls, den Kara sehr gut verstand. Die dreidimensionale Abbildung war so naturgetreu, daß auch Kara glaubte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um den glatten Fels zu fühlen. »Er muß groß genug für Hunderte von Drachen sein!«

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Silvy.

»Ach? Und warum nicht?«

»Weil wir sie schon vor zehn Jahren geschlagen haben«, antwortete Silvy heftig. »Wenn sie tausend Drachen hätten, hätten sie uns längst überrannt.«

»Laßt uns hinfliegen und nachsehen«, sagte Tess. »Wir finden es nicht heraus, wenn wir hier sitzen und herumraten.«

»Wir werden nachsehen«, versprach Kara. »Aber nicht allein.« Sie machte eine entschiedene Handbewegung, und Tess schluckte die Antwort herunter, die ihr auf der Zunge gelegen hatte.

»Ich verspreche dir, daß du dabeisein wirst«, sagte Kara, »Ihr alle werdet dabeisein, wenn ihr das wollt. Doch zuerst müssen wir diese Karte zurückbringen. Aires und Cord müssen sie sehen.«

Sie blickte Tess aufmerksam an. Sie war sich nicht sicher aber sie glaubte zumindest, daß sich das zornige Funkeln in ihren Augen ein wenig gelegt hatte. »In Ordnung«, sagte sie. »Laßt uns sehen, welche Überraschungen diese Karte noch für uns bereit hat.«

Zwei Dinge versetzten sie noch in Erstaunen.

Zum einen war der Fundort der Karte nicht auf ihr eingetragen. Sie fanden eine ganze Reihe der großen, kraterförmigen Lichtungen, die das monotone Grün des Blätterdachs durchbrachen, aber an der Stelle, an der die abgestürzte Libelle gelegen hatte, fand sich etwas anderes, was kaum zu beschreiben war, irgend etwas Formloses befand sich unter den Baumwipfeln, etwas, das sich im Zehnsekundentakt der Karte bewegte, aber es war nicht zu erkennen, was es genau war.

Die zweite erstaunliche Entdeckung machten sie, als sie sich die Randbezirke der Karte ansahen. Ein Ausschnitt Schelfheims war zu erkennen, so detailliert, daß selbst einzelne Häuser auftauchten und Kara sich nicht einmal mehr gewundert hätte, wären plötzlich Menschen und Hornköpfe aus den Häusern getreten und hätten ihr zugewinkt. Auch die dahinterliegende Küstenregion – leider nicht der Drachenhort – ließ sich auf der Karte ausmachen.

Kara starrte eine der Küstenstädte so fassungslos an, daß es schließlich auch den anderen auffiel. »Was hast du?« fragte Zen.

»Diese Stadt«, murmelte Kara benommen.

Zen blickte das Rechteck am Rande der Steilküste einige Augenblicke lang verwirrt an, aber offenbar fiel ihm nichts Außergewöhnliches daran auf. »Und?«

»Es ist meine Heimatstadt«, antwortete Kara.

»Wie bitte?«

Kara nickte. »Ich bin dort aufgewachsen«, sagte sie. »Versteht ihr nicht? Diese Stadt war die letzte, die von Jandhis Feuerdrachen zerstört wurde. Sie existiert nicht mehr.«

»Aber das war vor zehn Jahren«, sagte Silvy. »Das bedeutet, daß...«

»Daß dieses Wrack seit mindestens zehn Jahren im Dschungel liegt«, führte Kara den Satz zu Ende. »Und die Karte ebenso alt ist.«

»Wahrscheinlich sogar älter«, sagte Zen düster. »Dieses Wrack sah aus, als läge es seit einem Jahrhundert dort.« Er atmete tief und hörbar ein. »Ist euch klar, was das bedeutet?«

Er sah sich fragend um. Als er keine Antwort bekam, fuhr er fort: »Es heißt nichts anderes, als daß sie seit mindestens zehn Jahren hier sind und uns beobachten.« Keiner der anderen antwortete darauf.

Aber als Kara am nächsten Morgen aufwachte, war Tess verschwunden. Sie bekam allerdings keine Gelegenheit, sich Maran vorzuknöpfen, wie sie ihm angedroht hatte. Maran und sein Drache waren ebenfalls fort. Und die Karte hatten sie auch mitgenommen.

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