Es war, wie Maran behauptet hatte: Als die Sonne aufging, sahen sie den Schatten des zweiten Drachenfelsens am Horizont. Da sie die Entfernung nicht kannten, war es unmöglich, seine Größe zu schätzen; aber er mußte gewaltig sein. Unter ihnen begann sich das Land auf furchtbare Weise zu verändern. Die Flutwelle, der sie mit knapper Not entkommen waren, hatte wie ein Orkan im Wald gewütet. Gewaltige Schneisen gähnten zwischen den Bäumen. Sie überflogen Gebiete, in denen nur noch zersplitterte Stümpfe aus dem Wasser ragten. Und wo die Springflut nicht zugeschlagen hatte, da hatten gewaltige Brände den Wald verwüstet. Eine unbestimmte Trauer ergriff von Kara Besitz, während sie in zwei Meilen Höhe über den verbrannten Wald dahinglitten. Was immer auch geschah und was immer sie auch taten; die Wunden, die dieses Land davongetragen hatte, würden niemals wieder heilen.
Bevor sie den Drachenfelsen erreichten, wollten sie noch einmal eine Rast einlegen. Es dauerte allerdings eine ganze Weile, bis sie einen geeigneten Landeplatz fanden, denn die Bäume lichteten sich mehr und mehr. Sie flogen im Grunde nicht mehr über einen Wald, der unter Wasser stand, sondern über ein Meer, aus dem hier und da ein Baum ragte. Sie rasteten eine halbe Stunde, dann flogen sie weiter.
Allmählich traten die Einzelheiten des zweiten Drachenfelsens stärker hervor. Anders als sein kleinerer Bruder im Westen glich er einer gewaltigen, sehr schlanken Pyramide. Sämtliche Grate und Kanten wirkten wie abgeschliffen.
Sie überschritten die Grenze, die Maran ihnen genannt hatte, ohne angegriffen zu werden. Keine Libellenmaschinen tauchten auf, kein grünes Licht stach nach ihnen. Sie sahen nicht die geringste Bewegung, nicht das kleinste Zeichen von Leben. Der Berg ragte aus der Oberfläche eines leblosen Ozeans empor. Kara signalisierte Zen, ihr zu folgen, und lenkte Markor fast bis auf die Wasseroberfläche herab. Sie ahnte, daß es eine vergebliche Vorsichtsmaßnahme war – die Männer in den eisernen Libellen waren nicht auf ihre Augen angewiesen, um zu sehen. Ihr Herz begann vor Aufregung hart und schwer zu schlagen, während sie die zyklopische Felsnadel zweimal in respektvoller Entfernung umkreisten. Kara hatte sich geirrt:
Der Berg war nicht glatt geschliffen, sondern geschmolzen. Hier und da glühte die Lava noch in einem tiefen, drohenden Rot. Grauer Rauch kräuselte sich aus gewaltigen Rissen und Spalten, die in seinen Flanken klafften.
In kleiner werdenden Spiralen stiegen sie wieder höher. Karas Blick suchte die schwarze Felswand ab, die rechts von ihr emporwuchs, aber sie entdeckte keine Spur von Leben. Die Maschinen, die Tess und Maran angegriffen hatten, waren nicht mehr da – oder Opfer des höllischen Feuerblitzes geworden, den sie in der Nacht gesehen hatten.
Karas Verdacht, daß dieser Berg im Zentrum der ungeheuerlichen Explosion gelegen hatte, wurde zur Gewißheit, als sie den Gipfel erreichten. Der größte Teil der Verteidigungs- und Festungsanlagen, die seinen Gipfel gekrönt hatten, war völlig zerstört. Mauern und Türme waren zermalmt oder zu Staub zerfallen, große Gebäude wie von einer riesigen Hand zusammengedrückt worden, der Fels war zu riesigen, unförmigen Steinsbrocken zusammengeschmolzen, über denen die Luft noch immer vor Hitze flimmerte.
Von Westen nach Osten hin nahm die Schwere der Zerstörung ab. Offensichtlich hatte der Hauch des tödlichen Feuers die westliche Flanke des Berges getroffen, so daß es an seiner gegenüberliegenden Seite noch Teile der Festung gab, die nur leicht oder auch gar nicht beschädigt waren. Da und dort entdeckten sie die Überreste von Libellenmaschinen, und einmal glaubte Kara auch eine Bewegung zu erkennen, aber als sie genauer hinsah, war es nur ein toter Schatten.
Plötzlich riß Zen seinen Drachen so abrupt zur Seite, daß Kara im allerersten Moment glaubte, er wäre von irgend etwas getroffen worden. Aber im gleichen Augenblick sah sie, daß er heftig gestikulierte, und reagierte ganz instinktiv. In einer engen Kurve jagte sie Markor hinter Zens Drachen her und versuchte, in Blickkontakt mit ihm zu treten.
Sie waren zu weit voneinander entfernt, um zu sprechen, und Zen war so aufgeregt, daß Kara seine Zeichen nicht genau verstand. Aber sie begriff, daß er auf dem Turm über ihnen etwas entdeckt hatte. Völlig ohne Leben schien dieser verbrannte Berg wohl doch nicht zu sein. Kara bedeutete ihm, zurückzubleiben und ihr den Rücken freizuhalten, dann steuerte sie Markor in einer langgezogenen Spirale auf den Turm zu. Sie flog ihn sehr niedrig an, darauf gefaßt, angegriffen zu werden. Sie war sich sehr schmerzhaft bewußt, welch leichtes Ziel sie jedem Heckenschützen bieten mußte. Ärgerlich auf sich selbst verscheuchte sie den Gedanken. Es hatte wenig Sinn, sich selbst verrückt zu machen. Trotzdem waren ihre Hände naß vor Schweiß, als sie sich dem zinnengesäumten Innenhof näherte, vor dem Zen so plötzlich beigedreht hatte.
Es gab keine Heckenschützen. Aber auf dem Hof standen drei der riesigen Libellenmaschinen. Der Anblick hätte Kara nicht überraschen dürfen, aber sie war dennoch so erstaunt, daß sie über den Hof hinwegflog, ohne etwas anderes zu tun, als die plumpen Kolosse aus braungrün geflecktem Stahl anzustarren, die unter ihr auf dem Hof hockten, ihre Köpfe einander zugedreht, als wären es wirklich große, eiserne Tiere, die hierhergekommen waren, um miteinander zu reden. Sie ähnelten den Maschinen kaum, die sie im Wald getroffen und gegen die sie gekämpft hatten. Trotzdem erkannte Kara auf den ersten Blick, daß sie der gleichen Technologie entstammten.
Kara kreiste dreimal über dem Turm, ohne irgendein Anzeichen der Besatzung zu entdecken. Allerdings wurde ihr sehr schnell klar, daß sie hier irgendwo sein mußten. Welche Katastrophe auch immer diesen Berg getroffen hatte: Die Heliotopter waren danach gelandet. Und da die Maschinen weitaus größer waren als die, die sie bisher kennengelernt hatten, standen auch ihre Chancen recht gut, auf mehr als sechs Männer zu stoßen...
Ihre Gedanken drehten sich wild im Kreis, während sie zu Zen zurückflog und ihm mit knappen Gesten ihren Plan signalisierte. Sie wußte eigentlich nicht, was sie tun sollte. Sie hatten nur einen einzigen Vorteil auf ihrer Seite: das Überraschungsmoment.
Sie ließ Markor ein wenig langsamer fliegen, während Zen seinen Drachen vor sie setzte und hoch und schnell auf den Turm zusteuerte. Markor knurrte, als spüre er Karas Erregung. Sie war immer noch nicht sicher, ob sie richtig handelten. Aber es war zu spät für Zweifel. Der Turm raste auf sie zu, und dann waren sie über ihn hinweggeglitten und steuerten die Libellen an. Einen Wimpernschlag bevor sie heran waren, glaubte Kara, eine Bewegung unter einer der Türen wahrzunehmen, die ins Innere des Turmes hineinführten, doch ihr blieb keine Zeit mehr, sich zu überzeugen, ob sie es sich nur eingebildet hatte. Zens Drache breitete einen Vorhang aus orangeroten Flammen über dem Hof aus, und wenig später stieß Markors Feueratem in diese Glut hinein und verwandelte den Turm in einen flammenspeienden Vulkan.
Die drei Libellen explodierten. Während Zen und sie ihre Drachen in verschiedene Richtungen abdrehten, um nicht von ihrer eigenen Glut erfaßt zu werden, glommen inmitten des Feuervorhanges drei grellweiße Bälle auf. In respektvollem Abstand umkreisten sie den Turm, ehe sie es wagten, sich wieder zu nähern. Schwarzer Rauch hing über der Festung, aber das Feuer war bald erloschen, als die Maschinen ausgebrannt waren. Trotzdem war der Stein noch zu heiß, um zu landen. Zweimal flog Markor an, und zweimal zog er sich mit einem zornigen Knurren wieder zurück, als seine Krallen die glühende Lava berührten. Erst nachdem sie noch einmal zehn endlose Minuten gewartet hatten, gelang es dem Drachen, auf einem Teil der zerstörten Zinnenkrone Halt zu finden, so daß Kara absteigen konnte.
Sie rannte auf die Tür zu, hinter der sie eine Bewegung zu sehen geglaubt hatte. Der Stein war noch immer so heiß, daß es ihr selbst durch die dicken Stiefelsohlen hindurch Schmerzen bereitete. Mit großen, beinahe grotesk aussehenden Sprüngen erreichte sie die Tür, stürmte hindurch und stolperte über etwas, das im Schatten dahinterlag. Sie versuchte vergebens, ihren Sturz abzufangen. Sie fiel gegen die Wand, prallte zurück und stürzte auf die Hände und Knie. Selbst hier war der Boden so heiß, daß sie schmerzhaft die Luft einsog und hastig wieder in die Höhe sprang.
Mit klopfendem Herzen sah sie sich um. Sie war allein. Vor ihr verlor sich der Gang nach einem knappen Dutzend Schritten in völliger Finsternis, und hinter ihr, nur einen Schritt vom Eingang entfernt, lag ein geschwärztes Etwas, das einmal ein Mensch gewesen sein mochte. Sie hatte sich also nicht getäuscht; etwas hatte sich hier bewegt.
Sie warf einen Blick auf den Hof und stellte fest, daß Zen noch immer nach einem Landeplatz suchte, dann ging sie neben dem Toten in die Hocke und zwang ihren Ekel soweit zurück, daß sie ihn untersuchen konnte. Es war nicht mehr festzustellen, ob das Kleidungsstück, das der Tote trug, eine jener verhaßten blauschwarzen Uniformen gewesen war. Mit ihrem Schwert drehte Kara die verkohlte Leiche herum. Gesicht und Brust des Toten waren ebenso verbrannt wie sein Rücken, aber seine verkrampften Finger hielten etwas, das Kara sofort wiedererkannte, obwohl es rußgeschwärzt war und sich das Metall in der Glut des Drachenfeuers ein wenig verzogen hatten: Es war eine der Waffen, die das entsetzliche grüne Licht verschossen.
Angewidert löste sie die Waffe aus den Händen des Toten, wischte mit ihrem Umhang die schwarze, schmierige Schicht herunter, die Schaft und Lauf bedeckte, und drehte sie unschlüssig in den Händen. Der gläserne Lauf schimmerte so glatt und bösartig, wie sie ihn in Erinnerung hatte, und als sie mit dem Daumen über den Schaft fuhr, sah sie ein winziges, mattgrünes Licht.
Kara erschauerte, als wäre ihr kalt. Alles in ihr sträubte sich dagegen, dieses Ding auch nur zu berühren. Sie hatte das Gefühl, das, was sie eigentlich verteidigte, zu verraten, wenn sie diese Waffe benutzte.
Aber weder Aires noch Angella hatten je Bedenken gehabt, Dinge der Alten Welt einzusetzen, wenn es ihren Zwecken diente. Und aus Angellas Erzählungen wußte sie, daß auch Tallys Drachenwaffen nichts anderes als Laserpistolen gewesen waren.
Kara zögerte noch einen ganz kurzen Moment, dann hob sie das Gewehr und berührte das, was sie für den Abzug hielt. Ein bösartiges Licht glomm im Lauf der Waffe auf, dann spannte sich plötzlich ein haardünner, singender Lichtfaden von giftgrüner Farbe zwischen Karas Händen und der gegenüberliegenden Wand und erlosch wieder, als sie erschrocken den Finger zurückzog. Wo er den Stein berührt hatte, blieb eine rauchende Linie aus blaßroter Glut zurück.
Kara entschied sich, endgültig die Waffe zu behalten, bis die Gefahr vorüber war.
Sie hörte hastige Schritte, drehte sich herum und erblickte Zen, der durch den Eingang gestürmt kam. Er hatte das Schwert gezogen und sah sehr erschrocken aus. »Kara, was...«
Der Schrecken auf seinen Zügen wandelte sich in Überraschung, als er das Gewehr in Karas Händen entdeckte. Dann fiel sein Blick auf den Toten. Er verzog angewidert das Gesicht, wirkte aber zugleich erleichtert.
»Ich habe das grüne Licht gesehen und dachte, du wärst in einen Hinterhalt geraten«, sagte er.
»Bin ich nicht«, antwortete Kara knapp. »Aber das ist kein Grund, leichtsinnig zu werden. Ich schätze, daß seine Kameraden noch in der Nähe sind. Komm weiter.«
Hintereinander bewegten sie sich tiefer in den Berg hinein. Die Dunkelheit war nicht so vollkommen, wie Kara im ersten Moment angenommen hatte: Vom Ende des Ganges her drang ein schwacher, rötlicher Lichtschimmer zu ihnen, der ausreichte, ihre Umgebung zumindest schemenhaft zu erkennen.
Sie näherten sich der Quelle des roten Lichts, aber der Stein, über den sie liefen, war noch immer so heiß, daß ihnen jeder Schritt Schmerzen bereitete. Und auch die Wände strahlten eine sengende Hitze aus. Die Luft schmeckte nach verbranntem Fels, und manchmal knackte der Stein, und ein paarmal glaubte sie, ein tiefes, mahlendes Geräusch zu hören, als stöhne der ganze Berg vor Schmerzen. Es war, als bewegten sie sich in einen gewaltigen Backofen hinein.
Vor ihnen lag eine halbrunde Tür aus Metall, die sich in der Hitze verzogen hatte, und dahinter, vom düsteren Rot der Notbeleuchtung in eine moderne Version der Hölle verwandelt, erstreckte sich der riesige Versammlungsraum des Drachenfelsen.
Er war völlig zerstört.
Die Monitore, die die Wände in schier endlosen Reihen bedeckten, waren geborsten und wirkten wie schwarze Augenhöhlen, aus denen Nervenenden aus ausgeglühtem Draht ragten. Die meisten Computerpulte mußten explodiert oder ausgebrannt sein, und alles, was aus dem glatten harten Material bestanden hatte, das Aires ›Kunststoff‹ nannte, war in der Hitze zerlaufen wie Wachs. Die abgehängte Decke war verschwunden, so daß man das Gewirr der Kabel und Versorgungsleitungen sehen konnte, das sich dahinter verbarg. Es gab ungefähr ein Dutzend Tote, die auf dem Boden oder auch über den Pulten zusammengebrochen waren. Ihre verzerrten Gesichter bewiesen Kara, daß sie nicht leicht gestorben waren. Die Luft hier drinnen mußte gekocht haben, dachte sie schaudernd.
Kara bewegte sich unschlüssig durch den riesigen Raum. Sie wagte es nicht, irgend etwas zu berühren – nur Zen nahm auch eines der gläsernen Gewehre an sich. Vorsichtig näherten sie sich der Tür am anderen Ende des Raumes. Wenn der Grundriß dieser Festung dem kleineren Drachenfelsen im Süden glich, dann mußte sich dahinter ein Gang befinden, der in die Mannschaftsquartiere und Versorgungsräume des Berges führte. Aber Kara glaubte nicht, daß es so einfach war. Schließlich hatten Jandhis Urahnen diesen Berg nicht gebaut, sondern sich die von der Natur vorgegebenen Bedingungen nur zunutze gemacht. Trotzdem fanden sie sich am Anfang erstaunlich gut zurecht. Auch wenn sie in manchen Räumen Dinge sahen, deren Zweck sie nicht einmal zu erraten imstande waren. Kara begriff hingegen sehr bald, was hier vor ein paar Stunden geschehen war. Es war auch nicht besonders schwer. Manche Teile des Labyrinths waren noch immer so heiß, daß es unmöglich war, sie zu betreten. Was immer sie in der vergangenen Nacht beobachtet hatten – es hatte diesen Berg getroffen und zu einem Grab für alle die gemacht, die sich hinter seinen fünfzig Meter dicken Mauern sicher gefühlt hatten. Nicht einmal die unvorstellbare Explosion, die sie beobachtet hatten, hatte den Berg zerstören können.
»Ob es... eine Waffe der Alten Welt war?« fragte Zen zögernd. Seine Stimme klang belegt, und als Kara sich zu ihm herumdrehte, sah sie, daß er totenbleich war und zitterte. Aber wahrscheinlich sah sie nicht besser aus.
Sie zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Wir wissen ja nicht einmal, ob es überhaupt eine Waffe war. Vielleicht... war es ein Unfall.«
Sie glaubte selbst nicht, was sie sagte. Zen hatte es nicht ausgesprochen, aber sie wußten beide, was er wirklich gemeint hatte. Es war nicht irgendeine Waffe. Er sprach von der Bombe, die diese Welt in einer einzigen Nacht in einen Vorhof der Hölle verwandelt hatte. Aber Kara weigerte sich, es zu glauben. Es konnte nicht sein, weil es nicht sein durfte. Von allen Hinterlassenschaften der Alten Welt hatten sie die Nuklearwaffen niemals angerührt. Die Angst vor dem, was geschehen war, war zu tief in den Genen der Handvoll Überlebender verwurzelt gewesen, die sich aus den radioaktiven Trümmern des letzten der zehn Kriege herausgruben. Es durfte nicht sein.
»Ich glaube es nicht«, sagte sie wie etwas, das sie sich nur oft genug einzureden brauchte, um es Wahrheit werden zu lassen. »Komm weiter. Vielleicht...« Sie fuhr sich nervös über das Gesicht, »... finden wir heraus, was hier passiert ist.«
Tiefer und tiefer drangen sie in die steinernen Eingeweide des Berges ein. Der Anblick ihrer toten Feinde erfüllte Kara schon lange nicht mehr mit Zufriedenheit. Sie fanden nichts mehr heraus, aber dafür wurde Kara mit jedem Schritt, den sie tat, mit jeder Tür, die sie öffnete, klarer, wie falsch das Gefühl der Sicherheit gewesen war, in dem sie sich alle in den letzten zehn Jahren gewähnt hatten. Hatten sie sich wirklich eingebildet, Jandhis Drachentöchter besiegt zu haben? Lächerlich. Das vermeintliche Hauptquartier ihrer Feinde, das sie zerstört hatten, war nichts als ein kleiner Außenposten gewesen. Jandhis Drachentöchter hatten nur mit ihnen gespielt.
Gegen diese Theorie sprach allerdings eine Tatsache: daß Zen und sie hier am Leben und all diese Männer und Frauen tot waren.
Kara vermutete, daß sie etwa ein Viertel des Berges erkundet hatten, als sie zum ersten Mal das Geräusch hörte. Eigentlich spürten sie das Geräusch eher, ein ganz sachtes, aber ungeheuer mächtiges Vibrieren und Zittern, das den Boden, die Wände und sogar die Luft schwingen ließ.
Zen und sie sahen sich nur an. Plötzlich hatten beide das Gefühl, daß dieses Zittern die Lebensäußerungen von etwas Ungeheuerlichem sein mußten, etwas, das unsichtbar und tödlich irgendwo lauerte und sie verschlingen würde, sobald sie auch nur ein verräterisches Geräusch machten.
Unendlich vorsichtig gingen sie weiter. Die Halle, durch die sie sich bewegten, war riesig und vollkommen leer. Das gewaltige Einflugloch an ihrem jenseitigen Ende bewies Kara, daß es sich um eine Drachenhöhle handelte. Mit einem Gefühl eisigen Entsetzens fragte sie sich, ob sie auch hier auf eine ebenso gigantische wie intelligente Ameisenkönigin treffen würden wie die, von der ihr Angella erzählt hatte.
Das Vibrieren und Pochen wurde stärker, je tiefer sie kamen, und nach einer Weile gesellte sich auch ein wirklich hörbares Geräusch dazu: ein dumpfes Dröhnen und Hämmern, das Kara an nichts so sehr erinnerte wie an das Schlagen eines riesigen, schwarzen Herzens. Ihre Angst explodierte förmlich.
Plötzlich hob Zen die Hand und machte ein Zeichen, still zu sein. Kara hörte ein Summen, das rasch näher kam und plötzlich abbrach, dann ein ganz leises, metallisches Gleiten. Plötzlich, von einem Moment auf den anderen, erlosch ihre Angst. Plötzlich war sie nur noch das, wozu Angella und Cord sie zehn Jahre lang erzogen hatten: eine Kriegerin. Bevor Zen seine Handbewegung zu Ende geführt hatte, huschte Kara in eine Nische des Ganges, in dem sie sich befanden, und verschmolz mit dem Schatten. Auch Zen glitt in die nächste Deckung, die er fand.
Das schleifende Geräusch wurde lauter, und in der Wand Kara gegenüber erschien ein schmaler Spalt, der sich rasch zu den Hälften einer auseinandergleitenden Aufzugtür weitete. Kara war verblüfft. Sie hatte Aufzüge im Drachenfels gesehen, aber keiner davon hatte noch funktioniert. Dieser Aufzug jedoch funktionierte ausgezeichnet.
Ein hochgewachsener, sehr breitschultriger Mann trat hervor. Er hatte dunkles Haar und ein kräftiges, von tausend winzigen Narben entstelltes Gesicht – und er trug eine der verhaßten blauschwarzen Uniformen. Den passenden Helm hatte er lässig unter den linken Arm geklemmt, in der anderen Hand schwenkte er ein Gewehr mit gläsernem Lauf.
Kara wartete, bis er aus dem Lift gekommen war, dann trat sie aus ihrer Deckung hervor, richtete die Waffe auf ihn und sagte freundlich: »Hallo.«
Der Fremde erstarrte. Ein Ausdruck vollkommener Fassungslosigkeit erschien in seinen Augen und noch etwas, das Kara nur zu gut kannte.
»Tu es nicht«, sagte sie.
Aber er tat es doch. Plötzlich bewegte er sich so schnell, daß Kara seinen Bewegungen kaum noch folgen konnte: In einem einzigen, gleitenden Satz ließ er seinen Helm fallen, kippte zur Seite und riß gleichzeitig sein Gewehr in die Höhe.
Aus einer Nische im Gang hinter ihm stach eine Lanze aus grünem Licht hervor und durchbohrte sein Herz. Er war tot, noch ehe sein Körper den Boden berührte.
»Das war knapp«, sagte Zen, während er vollends aus seinem Versteck heraustrat und sich dem Toten näherte. Vorsichtig stieß er ihn mit dem Fuß an und blickte in seine gebrochenen Augen, ehe er seine Waffe senkte. »Der Bursche war verdammt schnell.«
»Ja«, murmelte Kara. »Du hättest ihn nicht erschießen sollen.«
Zen starrte sie an, als zweifele er an ihrem Verstand. »Hätte ich vielleicht abwarten sollen, bis er dich erschießt?«
»Nein. Ich... hätte ihm nur gern ein paar Fragen gestellt.«
Sie machte eine entschuldigende Geste. »Außerdem ist mindestens noch einer hier, mit dem wir uns unterhalten können.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf den Aufzug. »Was meinst du? Riskieren wir es?«
Zen würdigte sie nicht einmal einer Antwort, sondern trat an den Lift und musterte die Wand daneben. Es gab nur einen einzigen, sehr großen Schalter, den er nach kurzem Zögern betätigte. Die Aufzugtüren glitten auseinander und gaben den Blick auf eine kleine, rechteckige Kabine frei.
Kara ging mit einem raschen Schritt an Zen vorbei und betrat als erste die Kabine. Sie war nervös, gab sich aber alle Mühe, sich nichts davon anmerken zu lassen. Sie wartete kaum ab, bis Zen die Kabine betreten hatte, ehe sie die Hand ausstreckte und den untersten der zahlreichen Knöpfe berührte, die es an der Wand neben der Tür gab. Zen sah sie fragend an, aber sie ignorierte seinen Blick. Sie hatte das sichere Gefühl, daß sie die Antwort auf die allermeisten Fragen ganz unten in den Kellern des Berges finden würden.
Die Kabine setzte sich mit demselben Summen in Bewegung, das sie bei ihrer Ankunft gewarnt hatte. Die winzigen, mit fremdartigen Symbolen beschrifteten Knöpfe neben der Tür leuchteten der Reihe nach auf und erloschen, um die Etage anzuzeigen, auf der sie sich befanden. Kara staunte nicht schlecht, als sie die Tasten zählte: Der Berg mußte fast zur Gänze ausgehöhlt sein, denn er hatte weit über hundert Etagen. Es war mehr als eine Festung, begriff sie plötzlich. Es war eine unterirdische Stadt, in der vielleicht ebenso viele Menschen Platz fanden wie in Schelfheim.
Das pochende Vibrieren wurde lauter und lauter, je weiter sie sich in die Tiefe bewegten. Kara hatte allmählich das Gefühl, daß ihr ganzer Körper im Rhythmus dieses hämmernden Taktes vibrierte. Die Kabine zitterte, glitt aber summend und gehorsam in die Tiefe. Schließlich leuchtete das unterste der kleinen Lämpchen auf. Die Kabine hielt an, und die Tür begann sich zu öffnen. Kara hob ihre Waffe und legte den Finger auf den Auslöser. Diesmal würde sie erst schießen und dann nachsehen, was sie getroffen hatte.
Aber der Gang hinter der Tür war leer. Gelbes Licht schlug ihnen entgegen, und der Boden vibrierte nicht mehr unter ihren Füßen, er zitterte.
Einen Moment lang blieben sie stehen und sahen sich um, dann deutete Kara nach rechts. Sie war nicht ganz sicher, aber das Geräusch schien von dort zu kommen. Der Stollen war sehr lang. Sie kamen an einer ganzen Reihe geschlossener Türen vorbei, die sie allesamt unbeachtet ließen, und gelangten schließlich in einen runden Raum, der mit technischen Geräten nur so vollgestopft war. Hier unten war nichts zerstört. Die meisten Geräte waren sogar eingeschaltet und erfüllten den Raum mit wisperndem, blinkendem Leben.
Kara hörte Stimmen und legte warnend den Zeigefinger über die Lippen. Zen deutete ein Nicken an. Lautlos huschten sie durch die Kammer und preßten sich rechts und links der Tür, hinter der die Stimmen zu hören waren, gegen die Wand.
Kara lauschte. Sie identifizierte die Stimmen zweier Männer, die sich lautstark unterhielten. Offenbar fühlten sie sich sehr sicher. Kara konnte nicht verstehen, worüber sie sprachen, denn sie redeten in einer ihr unverständlichen Sprache. Aber sie hörte ein Lachen. Und dann Schritte, die sich der Tür näherten. Mit angehaltenem Atem preßte sie sich noch enger gegen die Wand. Die Schritte kamen näher, dann wurde die Tür geöffnet und zwei Männer traten dicht hintereinander hindurch.
Sie bemerkten Kara und Zen sofort. Beide Drachenkrieger standen im toten Winkel und verursachten nicht das mindeste Geräusch, aber die Fremden schienen über die empfindlichen Instinkte von Raubtieren zu verfügen – und deren blitzartige Reflexe.
Kara fand kaum noch Zeit zu begreifen, daß sie die Gefährlichkeit ihrer Gegner zum zweiten Mal unterschätzt hatte, da wirbelten die beiden Männer in einer fast synchronen Bewegung herum und stürzten sich auf Zen und sie. Es gelang Zen, seine Waffe abzufeuern, aber der Lichtblitz fuhr harmlos in die Decke und richtete nicht mehr Schaden an, als ein paar Kabel zu durchtrennen und einen Funkenschauer hervorzurufen.
Kara fand nicht einmal Zeit, ihre Waffe hochzureißen. Eine Hand packte ihren Arm und drückte ihn mit stählernem Griff herunter, eine andere packte ihr Gesicht und preßte ihren Kopf mit furchtbarer Gewalt gegen die Wand.
Kara bäumte sich auf, ließ das nutzlose Gewehr fallen und versuchte, dem Angreifer das Knie in den Unterleib zu rammen, aber er schien die Bewegung vorausgeahnt zu haben, denn er drehte sich blitzschnell zur Seite, so daß sie nur seinen Oberschenkel traf.
Sie hatte mit aller Kraft zugestoßen. Ihr Gegner jedoch zuckte nicht einmal zusammen. Dafür preßte er sie mit seinem ganzen Körper gegen die Wand. Ihr Kopf wurde mit grausamer Kraft gegen den Stein gedrückt. Kara hatte das Gefühl, als ob ihr Schädel platzte. Und sie bekam kaum noch Luft. Sein Handballen schob ihr Kinn zurück, und seine ausgestreckten Zeigeund Mittelfinger versuchten ihre Nasenflügel zusammenzudrücken.
Kara schlug verzweifelt um sich.
Doch ihre Kräfte ließen allmählich nach. Seine Finger hatten ihr Ziel erreicht, so daß sie nun wirklich keine Luft mehr bekam, und der Schmerz in ihrem Hinterkopf trieb sie fast in den Wahnsinn. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, den gleichen Trick noch einmal zu versuchen, der ihr schon einmal zum Sieg verholfen hatte, und sich zum Schein zu ergeben oder die Bewußtlose zu spielen, verwarf ihn aber sofort wieder. Der Mann war nicht einfach nur stark. Er war ein Krieger wie sie, er würde nicht auf solche Mätzchen hereinfallen. Ihre Sinne begannen zu schwinden. Das Gesicht vor ihr verschwamm, und plötzlich war ein dumpfes, dröhnendes Rauschen in ihren Ohren. Ihre Knie wurden weich. Sie konnte spüren, wie die Kraft aus ihr herauszufließen begann, als hätten sich in ihrem Inneren unsichtbare Schleusentore geöffnet. Ihre freie Hand sank kraftlos an seiner Brust herunter, berührte seinen Gürtel – und die Pistole, die in seinem Halfter steckte. Karas Finger handelten vollkommen mechanisch. Sie tastete über den kalten Stahl der Waffe, fanden den Abzug und drückten ab.
Ein peitschender Laut erklang, gefolgt von einem häßlichen Zischen und dem Gestank von brennendem Leder und verschmortem Fleisch. Eine Welle furchtbarer Hitze peinigte Kara, dann verschwand die Hand, die sie zu ersticken drohte, von ihrem Gesicht, und ein schriller Schmerzensschrei gellte in Karas Ohren.
Sie sah Feuerschein, stieß den Mann von sich und versetzte ihm einen Tritt, der ihn vollends zu Boden taumeln ließ. Sein rechtes Bein brannte. Er krümmte sich, schlug verzweifelt mit beiden Händen nach den Flammen, die aus seiner Hose züngelten, und schrie wie von Sinnen.
Kara war mit einem Satz bei ihm, zerrte ihren Umhang von den Schultern und erstickte die Flammen. Zum Dank packte der Bursche in ihre Haare und versuchte, ihr den Kopf in den Nacken zu reißen. Kara gab dem Druck nach, rollte sich rückwärts über die Schulter ab und versetzte ihm einen Handkantenschlag gegen den Hals. Und dann verlor der Kerl endlich das Bewußtsein.
Kara sprang hastig auf und fuhr herum. Auch Zen rang noch mit seinem Gegner – und er steckte ziemlich in Schwierigkeiten. Er hatte sich in eine Ecke zurückgezogen und versuchte verzweifelt, sein Gesicht und seinen Leib vor den schlimmsten Hieben zu schützen. Kara sprang den Burschen von hinten an. Sie wollte ihn niederreißen, aber wieder war es, als hätte er ihre Bewegung vorausgeahnt; er machte blitzschnell einen halben Schritt zur Seite, so daß Kara ins Stolpern geriet. Aber ihr Angriff hatte Zen die nötige Luft verschafft, die er brauchte. Sein Gesicht war blutüberströmt, aber das hinderte ihn nicht daran, den Mann nun seinerseits zu attackieren. Doch selbst zu zweit hätten sie es beinahe nicht geschafft. In einer perfekt aufeinander abgestimmten Folge von Bewegungen deckten sie den Krieger mit einem Hagel von Hieben und Tritten ein, die jeden anderen Gegner binnen Sekunden zu Boden geschleudert hätten. Aber der Bursche schien plötzlich acht Arme und Beine zu haben. Es gelang ihnen kaum, einen Treffer anzubringen; dafür wurden Zen und sie um so öfter von seinen blitzartigen Gegenattacken getroffen. Und seine Hiebe waren so hart, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis er einen von ihnen ernsthaft verwundet oder getötet hätte.
Schließlich brachte Zen mehr durch Zufall einen Schlag an, der den Soldaten ein Stück zurücktaumeln ließ. Einen Atemzug lang war er benommen, und Kara nutzte die Chance, mit einem Tritt gegen die Brust seine Deckung zu durchbrechen. Zen setzte sofort nach, nahm einen Hieb mit der flachen Hand gegen den Hals in Kauf und rammte den rechten Ellbogen in die Rippen seines Gegenübers, dann versetzte ihm Kara einen Handkantenschlag, der ihm eigentlich das Nasenbein hätte brechen müssen. Die Schläge zeigten Wirkung. Der Mann taumelte, und das leise, aber sehr hochmütige Lächeln, das bisher auf seinen Zügen gelegen hatte, machte einem Ausdruck von Überraschung und Schrecken Platz.
Kara bewegte sich mit einem Ausfallschritt an ihm vorbei und versuchte, mit einem Ellbogenstoß seinen Körper zu treffen; aber obwohl er angeschlagen war, gelang es ihm nicht nur, dem Stoß auszuweichen, sondern auch gleichzeitig ihren Ellbogen abzufangen und sie mit der gleichen Bewegung aus dem Gleichgewicht zu hebeln. Sie stürzte und sah, wie sich auch Zen unter einem Fußtritt in den Leib krümmte und auf die Knie fiel. Hätte er sie in diesem Moment angegriffen, wäre das ganze Spiel zu Ende gewesen. Aber statt die Gelegenheit zu nutzen, setzte er mit einem Sprung über Kara hinweg und raste zur Tür. Zen warf sich zur Seite und griff mit weit ausgestreckten Armen nach seinem Gewehr, und Kara begriff ganz plötzlich, in welcher Gefahr er sich befand. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloß, und Zen wälzte sich mit einem knurrenden Laut auf den Rücken und drückte ab. Der grüne Lichtblitz verfehlte Kara um eine knappe Handbreite, brannte ein Loch in das Metall der Tür und erwischte wohl auch den Mann, denn Kara hörte einen erstickten Schrei, dem ein dumpfer Aufprall folgte.
Sie war als erste auf den Füßen. Sie öffnete die Tür mit einem Tritt und sprang kampfbereit hindurch. Der Mann lag mit ausgebreiteten Armen drei Meter hinter der Tür. Er war tot. Kara machte einen Schritt zur Seite, als Zen hinter ihr auf den Gang herausgestürmt kam. Er hob sein Gewehr und legte auf den Toten an. Kara drückte den Lauf der Waffe herunter. »Laß das«, sagte sie. »Wir haben schon zuviel Aufhebens gemacht. Wenn sie uns bis jetzt nicht gehört haben, müssen sie taub sein.«
Zen blickte den Toten mit einer Mischung aus brodelndem Zorn und tiefster Verstörtheit an. Nur ganz langsam senkte er das Gewehr, dann hob er die Hand und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Sein Gesicht begann bereits anzuschwellen. Er sah aus, als hätte er mit einem Drachen gekämpft.
»Großer Gott?« murmelte er erschöpft. »Was sind das für Typen, Kara?«
»Ich... weiß es nicht«, antwortete Kara zögernd. »Ich... ich habe schon einmal mit einem dieser Männer gekämpft – in Schelfheim. Er war genauso zäh. Ich... ich dachte, es wäre einer ihrer besten Krieger. Ihr Anführer vielleicht. Aber sie scheinen alle so gut zu sein.«
Sie war auf eine Art und Weise verstört, die sie beinahe völlig lähmte. Plötzlich verstand sie, wieso Elders Männer so chancenlos gegen die Krieger aus dem Unterwasserboot gewesen waren. Sie machte sich nichts vor: Dieser eine Krieger allein hätte sie beide töten können, hätte er nicht den Fehler begangen, sein Heil in der Flucht zu suchen. Die Vorstellung, gegen eine ganze Armee dieser Männer kämpfen zu müssen, erfüllte sie mit Entsetzen.
Sie gingen zurück zu dem Verwundeten in der Kammer. Der Mann war bei Bewußtsein, reagierte aber nicht, als Kara neben ihm niederkniete. Seine Augen waren trüb. Er atmete schwer, und ein rasselndes Geräusch begleitete jedes Luftholen. Als Kara den Mantel anhob, den sie über sein verbranntes Bein gebreitet hatte, begriff sie auch, warum.
Weder sie noch Zen brachten es fertig, den Wehrlosen zu töten, und so bedienten sie sich des Gürtels des Toten, um ihn zu fesseln – eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme, denn Kara war sicher, daß der Mann die nächste halbe Stunde nicht überleben würde. Doch nach allem, was sie mit diesen unheimlichen Fremden bisher erlebt hatten, war sie einfach auf alles gefaßt.
Sie opferten zwei oder drei Minuten, um wieder zu Kräften zu kommen, dann setzten sie die Erkundung fort. Kara gab sich nicht der Illusion hin, daß sie nunmehr alle Gegner überwunden hätten. Die Libellen waren groß genug gewesen, um zehn Mann aufzunehmen. Sie gingen besser davon aus, daß sie es auch mit dieser Anzahl von Gegnern zu tun hatten. Und ihr einziger wirklicher Vorteil war die winzige Hoffnung, daß ihr Eindringen noch immer nicht entdeckt worden war. Der kurze Kampf hatte Kara sehr deutlich vor Augen geführt, wie lächerlich gering ihre Chancen waren.
Um so vorsichtiger bewegten sie sich weiter. Der Gang endete vor einer Tür. Zen öffnete sie, während Kara ihm mit der Waffe im Anschlag Deckung gab.
Das Dröhnen wurde noch lauter. Ein Schwall feuchtkalter Luft schlug ihnen entgegen.
Hinter der Tür erwartete sie eine in steilen Spiralen in die Tiefe führende Treppe, und auch sie war so neu wie alles, worauf sie bisher in dieser untersten Etage des Berges gestoßen waren. Jemand hatte sie aus der granitharten Lava wie mit einem Messer herausgeschnitten. Kara wechselte das Gewehr wieder gegen ihr Schwert aus, während sie vor Zen in die Tiefe herabstieg. In dem engen Treppenschacht war das Schwert zweifellos die bessere Waffe – und außerdem fühlte sie sich damit sonderbarerweise sicherer als mit dem gläsernen Gewehr. Der Lärm nahm nicht weiter zu, schien aber irgendwie intensiver zu werden, und die Luft war jetzt so feucht, daß sich auf den Wänden kleine Wassertröpfchen bildeten. Kara war nicht sehr erstaunt darüber. Wenn ihre Schätzung richtig war, dann mußten sie sich jetzt unter dem neu entstandenen Ozean befinden. Was, dachte sie schaudernd, wenn der Berg vielleicht nicht ganz so massiv war, wie es von außen den Anschein gehabt hatte?
Die Treppe endete nach genau sechshundertachtzehn Stufen im Inneren einer riesigen Höhle, deren Decke sich vielleicht sechzig Meter über ihren Köpfen erhob. Die Wände waren so glatt, daß sie unmöglich auf natürlichem Wege entstanden sein konnten, und Kara schätzte ihren Durchmesser auf gute zwei oder drei Meilen. Sie mußten sich unter dem Meeresboden befinden.
Der Boden der Höhle, der so glattpoliert war, daß sich ihre und Zens Gestalt verzerrt wie auf schwarzem Glas darauf spiegelten, bestand nur aus einem zehn Meter breiten Sims, der einen kreisrunden See umgab, in dem das Wasser sprudelte und brodelte. Eine zwanzig Meter hohe Glocke aus Gischt erhob sich über dem See, und darunter glitzerten die nassen, silbernen Umrisse gewaltiger Maschinen.
Und ganz plötzlich begriff sie alles.
Das Pochen und Dröhnen machte hier unten jede Verständigung unmöglich, ein Laut, der den Boden vibrieren und das Wasser kochen ließ, der jede Faser ihres Körpers zum Erzittern brachte und ihre Zähne schmerzen ließ. Es war das Schlagen eines Herzens, eines großen, stählernen, durch und durch bösen Herzens, das tief in den steinernen Eingeweiden den Takt zum Untergang der Welt schlug.
Kara stand da wie gelähmt. Sie fühlte nicht einmal Schrecken, denn das Entsetzen, das die Erkenntnis um die Bedeutung dieser zyklopischen silbernen Maschinenkolosse begleitete, war einfach zu gewaltig. Die Möglichkeit des menschlichen Geistes, Entsetzen und Grauen zu empfinden, mochte gewaltig sein, aber sie war nicht grenzenlos. Die Bösartigkeit jedoch, die hinter diesen Maschinen steckte, kannte keine Grenzen.
Die Welt begann sich um Kara zu drehen. Das dumpfe Dröhnen und Hämmern der Maschinen zwang allmählich selbst ihren Herzschlag in seinen Takt, löschte jeden anderen Gedanken, jede Empfindung aus. Das Universum schien rings um sie herum zu verblassen, wurde zu einem Meer von Schwärze, in dessen Zentrum nur noch die silbernen Kolosse Bestand hatten.
»Warum tun sie das, Zen?« flüsterte sie. »Warum tun sie uns das an?!«
Den letzten Satz hatte sie geschrien, aber Zen hätte vermutlich nicht einmal dann geantwortet, wenn er ihre Worte verstanden hätte. Er stand so starr und gelähmt wie sie da, und das Entsetzen in seinen Zügen machte aus seinem Gesicht eine Maske des Grauens.
So fremdartig und monströs die Maschinen waren, an ihrer Funktion bestand kein Zweifel.
Es waren Pumpen. Gigantische Pumpen, in deren schimmernden Rohren Milliarden und Abermilliarden Liter Wasser an die Oberfläche der Welt über ihren Köpfen pulsierten, die Menge eines Sees an einem Tag, ein Meer in einem Monat, ein Ozean in einem Jahr. Der kreisförmige See, aus dem sie sich erhoben, war die Quelle, ein Meilen durchmessender und ebenso tiefer Schacht, der zu einem unvorstellbaren Wasserreservoir tief im Leib der Erde führen mußte. Die alten Legenden waren wahr, dachte Kara matt. Das Meer, das einst den Schlund bis zum Kontinentalschelf hinauf gefüllt hatte, gab es noch. Die Höllennacht des Zehnten Krieges hatte es nicht verdampft, wie man sie gelehrt hatte, sondern den Boden der Meere selbst aufgerissen, bis das Wasser in tiefer gelegene, unvorstellbar große Höhlensysteme abgeflossen war.
Und sie pumpten es wieder zurück.
Im ersten Moment erschien Kara der Gedanke einfach lächerlich. Keine Pumpe konnte ein Becken von der Größe des Schlundes füllen, auch wenn sie eine Million Jahre arbeitete. Und gleichzeitig spürte Kara, daß sie es schaffen würden, irgendwie. Sie waren ihre Feinde. Sie waren vielleicht durch und durch böse, aber sie waren nicht dumm. Selbst für sie mußte es eine ungeheure Aufgabe gewesen sein, diese gewaltigen Maschinen hierherzuschaffen und aufzustellen. Sie hätten es nicht getan, wenn es sinnlos wäre.
Kara wußte nicht, wie lange sie so dastanden und die silbernen Monster anstarrten, deren mechanisches Dröhnen die Todesmelodie ihrer Welt sang, bis Zen schließlich müde seine Waffe hob, auf die Maschinen anlegte und abdrückte. Der grüne Lichtstrahl traf die spiegelnde Flanke des Kolosses und prallte davon ab wie Wasser von einer Mauer. Kara empfand nicht einmal Enttäuschung. Sie hatte gewußt, daß diese Kolosse unzerstörbar waren. Sie legte die Hand auf Zens Arm und schüttelte den Kopf. Eine Sekunde lang stand er einfach nur reglos da, jeder Muskel in seinem Körper bis zum Zerreißen angespannt. Dann schien alle Kraft aus ihm zu weichen. Er taumelte und war kaum noch in der Lage, das Gewehr zu halten. Mit müden, schleppenden Bewegungen wandte er sich um und folgte Kara zurück zum Eingang.
Es dauerte fast eine halbe Stunde, die sechshundert Stufen wieder hinaufzugehen, und kostete sie das letzte bißchen Kraft. Doch es war nicht nur die körperliche Anstrengung, die Kara erschöpft gegen die Wand neben dem Treppenschacht sinken ließ. Sie hatten einen Blick in die Hölle getan, und sie würden beide nie wieder dieselben sein, die sie vorher gewesen waren. »Was... tun wir jetzt, Kara?« flüsterte Zen. Seine Stimme war nur ein Hauch, und als Kara den Kopf hob und in sein Gesicht blickte, sah sie, daß das Entsetzen in seinen Zügen um keinen Deut schwächer geworden war. »Was sollen wir tun?«
Kara antwortete nicht, weil sie keine Antwort wußte.
»Wir... wir müssen sie... zerstören!« stammelte er. »Wir müssen sie anhalten, Kara. Sie zerstören, irgendwie.«
»Ich glaube kaum, daß wir das können«, antwortete Kara leise. »Und ich glaube nicht einmal, daß es noch etwas nutzen würde.«
»Damit hast du sogar ausnahmsweise einmal recht«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Kara fuhr herum, hob instinktiv das Gewehr – und riß erstaunt die Augen auf, als sie den Mann erkannte, der wie aus dem Nichts hinter Zen und ihr aufgetaucht war. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie auch Zen seine Waffe hob, und machte eine hastige Geste. Zen erstarrte.
»Außerdem«, fuhr der dunkelhaarige Mann in der blauschwarzen Uniform fort, »würdet ihr beiden Spezialisten es garantiert irgendwie hinkriegen, daß alles nur noch schlimmer wird.« Er seufzte, kam einen Schritt näher und sah abwechselnd Kara und Zen an. Die dunkelblaue, einteilige Uniform stand ihm ausgezeichnet. Er sah irgendwie... imposanter aus als in dem papageiengelben Mantel der Stadtgarde. In der rechten Hand trug er eines der kleinen weißen Stäbchen, wie sie Kara in dem Kuppelzelt unterhalb Schelfheims gefunden hatte. Zu ihrem Erstaunen glühte sein Ende dunkelrot, und Karas Verwirrung wuchs noch mehr, als er das Stäbchen an die Lippen hob und daran sog, so daß sein Ende noch heller aufglühte.
»Ich hätte mir eigentlich denken können, daß du es bist«, fuhr er fort, während er den Rauch durch die Nase wieder ausblies, wie ein junger Drache das Feuerspeien übte. »Ihr habt vier meiner Männer erledigt. Und die drei Maschinen, die ihr im Hof abgefackelt habt, gehörten mir. Einen solchen Unsinn kannst auch nur du verzapfen.« Er blies eine weitere Qualmwolke von sich, warf das brennende Stäbchen zu Boden und zertrat es mit dem Absatz. Dann kam er mit einem breiten Lächeln auf sie zu. »Hallo, Kara. Es ist schön, dich wiederzusehen.«
»Und ich«, antwortete Kara leise, »hätte mir eigentlich gleich denken sollen, daß du zu ihnen gehörst.«
Elders Augen blitzten freudig auf, aber dann riß Kara ihr Gewehr hoch und schmetterte ihm den gläsernen Lauf mit solcher Wucht gegen die linke Schläfe, daß er zerbrach.