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Später, als Kara den Teil des Überfalls rekonstruierte, den sie schlicht und einfach verschlafen hatte, gestand sie sich ein, daß sie alle sowohl die Intelligenz als auch die technischen Möglichkeiten ihrer Gegner unterschätzt hatten. Die Libellenreiter mußten unterhalb der Wolkendecke des Schlundes angeflogen sein, und sie mußten auch die Möglichkeit haben, das schrille Heulen ihrer Maschinen zu einem Wispern zu dämpfen, das im Geräusch des Windes unterging, denn der einzige überlebende Posten, der auf der Klippe Wache gehalten hatte, schwor später Stein und Bein, daß sie lautlos wie Gespenster aus den Wolken hochgeschossen waren und so schnell, daß den Männern nicht einmal Zeit geblieben war, einen Warnruf auszustoßen, ehe sie von einem Gewitter grüner Lichtblitze niedergestreckt wurden. Eine zweite, unvorstellbar präzise Salve traf den Hort und löschte jedes Leben hinter den dem Schlund zugewandten Zinnen aus; dann teilte sich der Schwarm, wobei ihre Maschinen wieder mit diesem schrillen, nervenzerfetzenden Heulen anhoben, Die meisten erreichten binnen weniger Augenblicke sämtliche Ausflugöffnungen der Drachenhöhlen und blieben reglos in der Luft stehen, um mit ihren grünen Blitzen auf jede Bewegung dahinter zu reagieren. Nicht einem einzigen Drachen gelang es, sich in die Luft zu erheben und in den Kampf einzugreifen. Das alles erfuhr Kara allerdings erst später. Donay, Aires und sie hatten noch bis tief in die Nacht miteinander geredet, und sie war erst lange nach Mitternacht in einen erschöpften Schlaf gesunken. Sie erwachte weder vom Heulen der Libellenmotoren noch von den erschrockenen Rufen und Schreien, die plötzlich in der Festung widerhallten. Was sie weckte, war das Krachen einer ungeheuerlichen Explosion, die den westlichen Turm samt einem Teil des Hauptgebäudes in Schutt und Asche legte und ein halbes Dutzend lodernder Brände in den Trümmern entfachte.

Die Erschütterung war so gewaltig, daß Kara aus ihrem Bett geschleudert wurde. Der Aufprall auf den harten Steinboden raubte ihr beinahe wieder das Bewußtsein. Benommen plagte sie sich auf. Im allerersten Moment wußte sie nicht, ob sie wach war oder einen Alptraum erlebte.

Sie war wach; aber es war eine Realität, die es spielend mit jedem Alptraum aufnehmen konnte. Der Boden zitterte. In der Wand neben ihrem Bett war ein gezackter Riß. Die Luft war voller Staub und schmeckte nach Feuer, und durch das Fenster drang lodernder Flammenschein und das Flackern grüner Blitze herein; ein unvorstellbarer Lärm, Schreie, das Krachen von Explosionen, das Prasseln von Bränden und ein schrilles, in den Ohren schmerzendes Heulen und Kreischen.

Libellen! dachte Kara entsetzt. Das waren Libellen!

Sie verschwendete keine Zeit damit, zum Fenster zu stürzen und sich von der Richtigkeit ihrer Vermutung zu überzeugen, sondern nahm ihr Schwert vom Boden und band den Gürtel mit fliegenden Fingern um, während sie bereits aus dem Zimmer stolperte.

Die dicken Mauern sperrten den Lärm und den Feuerschein ein wenig aus, aber der Boden zitterte auch hier. Staub hing in der Luft, und auf dem Boden lagen Steinbrocken und Trümmer, die aus der Decke herausgebrochen waren. Gestalten mit wehenden Mänteln und gezückten Schwertern stürmten ihr entgegen, und noch bevor sie das Ende der Treppe erreichte, erschütterte eine weitere, dröhnende Explosion die Festung. Kara taumelte gegen eine Wand. Sie glaubte zu spüren, wie das gesamte Gebäude sich neigte. Feuerschein drang durch die zerborstene Tür herein, als sie das Ende der Treppe erreichte. Hustend und mit tränenden Augen stolperte sie auf den Hof hinaus – und blieb vor Entsetzen gelähmt einfach stehen. Was sie erblickte, war ein Inferno. Die Festung lag in Trümmern. Überall brannte es. Libellen kreisten mit heulenden Motoren über dem Hof und spien grüne Blitze aus, die immer wieder in Mauerwerk oder durch Türen und Fenster hämmerten. Kara sah mit eigenen Augen, was Donay ihr aus Schelfheim berichtet hatte: Die Maschinen spien ihre tödlichen Blitze nicht nur gegen die Gebäude, sondern machten auch Jagd auf einzelne Menschen. Gestalten rannten im Zickzack zwischen den immer dichter niederprasselnden Blitzen hin und her, aber sie wurden nur zu oft getroffen. Kara hatte ihr Schwert gezogen, aber plötzlich begriff sie, wie hilflos sie waren. Die Libellen kreisten über der Burg und schossen auf alles, was sich bewegte. Und sie konnten nichts tun. Überhaupt nichts! »Zurück!« schrie Kara so laut sie konnte. »Zieht euch zurück! Geht in Deckung!«

Ihre Worte gingen im Durcheinander der Schlacht unter, aber es gab ohnehin niemanden, der nicht versuchte, sich irgendwo zu verkriechen. Es war kein Kampf – die Libellen kreisten in sicherem Abstand über dem Burghof und schossen die Festung und ihre Bewohner methodisch zusammen. Nur ein einziges Mal zuckte ein dünner grüner Lichtblitz aus einem Fenster, als einer der Drachenreiter das Feuer mit einer der in Schelfheim erbeuteten Waffen erwiderte. Der Strahl prallte wirkungslos vom unsichtbaren Schild der Libellen ab, und fast im gleichen Augenblick erwiderten fast ein halbes Dutzend Maschinen das Feuer. Das gesamte Gebäude, aus dem der Schuß gefallen war, ging in Flammen auf.

Kara rannte los, um das brennende Haupthaus zu erreichen. Ihr schwarzer Umhang und das dunkle Haar schienen ihr Deckung zu geben, denn niemand schoß auf sie. Aber als sie den Hof zur Hälfte überquert hatte, raste ein weißglühender Ball auf sie zu und fegte heulend über sie hinweg. Eine Sekunde später explodierte das Haus, in dem Kara vor wenigen Minuten aufgewacht war, in einem grellen Feuerball.

Die Druckwelle fegte Kara von den Füßen. Sie schlitterte über den Boden und riß schützend die Arme über den Kopf, als rings um sie herum Trümmer und Flammen niederregneten. Ein Felsbrocken traf ihr rechtes Bein und jagte ihr einen betäubenden Schmerz bis in den Rücken hinauf. Aus tränenden Augen blickte sie hinter sich. Der Turm mit den Quartieren der Schüler war verschwunden. Ein lodernder Trümmerhaufen hatte seinen Platz eingenommen. Kara fragte sich entsetzt, wie viele von ihren Freunden dort drinnen gewesen sein mochten.

Als sie sich in die Höhe stemmte, änderte sich die Angriffstaktik der Libellen. Ein Teil der Maschinen kreiste weiter über dem Hof und verschleuderte grünes Feuer, aber sechs oder acht Maschinen begannen langsam tiefer zu sinken. Als sie drei Meter über dem Hof angelangt waren, hielten sie mit wirbelnden Rotoren in der Luft an. Die Kanzeln öffneten sich, und Männer in blauen Uniformen mit glasverhüllten Gesichtern sprangen auf den Hof hinab. Sie hatten gelernt, dachte Kara zornig. Diesmal stellten sie ihre Maschinen nicht mehr auf dem Boden ab, wo sie verwundbar waren. Die Männer verteilten sich, während die Maschinen heulend wieder an Höhe gewannen, um einer zweiten Staffel Platz zu machen, die weitere Krieger hinabschickte.

Kara erwachte erst aus ihrer Erstarrung, als sie begriff, daß das Ziel der meisten Soldaten das brennende Haupthaus war. Aires und Elder waren dort! Sie rannte los, schlug einen Haken nach links und kletterte über einen rauchenden Trümmerhaufen hinweg, um das Hauptgebäude durch einen Nebeneingang zu betreten. Fettiger Rauch schlug ihr entgegen. Sie hustete, sah eine Bewegung in den brodelnden Schwaden vor sich und hob ihr Schwert. Im letzten Moment erkannte sie, daß es keiner der Angreifer war, sondern ein verwundeter Krieger, der ihr blutüberströmt entgegentaumelte.

Kara wankte weiter, sah eine weitere Gestalt vor sich und erkannte, daß es diesmal wirklich einer der Angreifer war. Sie stieß ihm das Schwert in die Brust und sprang zurück, als er zusammenbrach. Einer von dreißig, dachte sie voller Haß. Zu wenig. Viel zu wenig.

Vorsichtig tastete sie sich durch den immer dichter werdenden Qualm, bis sie die Tür zur großen Eingangshalle erreichte. Sie blieb stehen. Der Saal stand in Flammen. Drachenkämpfer in schwarzem Leder, die reglos auf dem Boden lagen, dokumentierten den erbitterten Widerstand, den die Verteidiger geleistet haben. Kara verspürte eine grimmige Befriedigung, als sie zwischen ihnen auch zwei Gestalten in schwarz-gestreiftem Dunkelblau erkannte. Zumindest bekamen sie nicht ganz umsonst, was immer sie hier wollten.

Eine Anzahl Blauuniformierter hielt sich in der Halle auf. Einer von ihnen gab in jener fremden Sprache, von der Tess geredet hatte, Befehle. Einige Soldaten rannten nach rechts und links, um die übrigen Räume im Erdgeschoß zu durchsuchen, aber der Großteil – einschließlich des Offiziers – wandte sich zur Treppe und lief hinauf. Also hatte sie richtig vermutet, dachte Kara grimmig. Es waren entweder Aires oder Elder, die sie haben wollten. Sie würde sehen, was sie dagegen tun konnte.

Der Weg durch die Halle war ihr verwehrt, denn drei Männer waren zurückgeblieben, die mit schußbereiten Waffen auf jede Bewegung lauerten.

Sie wich vorsichtig ein paar Schritte zurück, dann drehte sie sich herum und rannte auf die zweite Treppe zu, die nach oben führte. Sie hoffte, daß sie noch begehbar war. Auf halbem Weg trat ihr eine massige, grüngelb gefleckte Gestalt entgegen. »Hrhon!« fauchte Kara. »Wo warst du?«

»Ihsss habhe eihnhen vohn ihnenh ehrwhisssht«, erwiderte der Waga.

»Gut«, sagte Kara. Sie deutete zur Decke. »Sie sind oben. Vermutlich wollen sie Elder oder Aires.«

»Ohdher dhisss«, zischelte Hrhon.

»Dann wollen wir sie nicht warten lassen, nicht wahr?« Kara packte ihr Schwert fester und eilte an Hrhon vorbei.

Auf ihrem Weg schlossen sich ihnen vier weitere Krieger an. Das Schwert des einen war blutig, wie Kara voller Zufriedenheit registrierte. Ganz so billig wie in Schelfheim würden die PACK-Truppen hier nicht davonkommen. Sie stürmten an einem schmalen Fenster vorbei, und Kara sah, daß die Festung fast vollkommen in Flammen stand. Über dem Hof kreisten noch immer Libellen, die dann und wann grüne Blitze auf den Hof spien.

»Verdammt, wo bleiben die Drachen?« fragte Kara.

»Ssshie khohmmhen nhissst«, antwortete Hrhon. »Ssshie whissssssehn ghenhau, who dhie Ausssflughhöhlhen ssshind, uhnd lhasssssshen kheinhen hinhausss.«

»Aber das ist doch unmög...« begann Kara, sprach aber den Satz nicht zu Ende. Zwei der vier Ausflugsöffnungen waren zwar so gut versteckt, daß eine zufällige Entdeckung ausgeschlossen schien, aber es gab eine Erklärung: Tess mußte etwas verraten haben.

Sie erreichten das Stockwerk, auf dem Elders Zimmer lag, und stießen fast sofort auf heftigen Widerstand. Zwei PACK-Soldaten stellten sich ihnen entgegen. Ein greller Lichtblitz tötete den Mann neben Kara, dann schleuderte einer der anderen Krieger seinen Dolch und verletzte den Schützen am Arm. Die beiden Soldaten zogen sich wild um sich schießend zurück, trafen aber nichts mehr.

Karas Herz machte einen erschrockenen Sprung, als sie sah, daß die Tür zu Elders Zimmer zertrümmert war. Ein Teil des Mobiliars brannte, der Rest war zerschlagen, und sie erwartete schon, Elders Leichnam zwischen den Trümmern zu finden, aber das Zimmer war leer.

Sie rannten weiter. Ein paarmal hörten sie Kampflärm, sahen aber keinen Blauuniformierten mehr, bis sie Karas Zimmer erreichten. Auf dem Gang davor lag ein toter PACK-Soldat, umgeben von einem halben Dutzend regloser Drachenkrieger. Kara erkannte auch Zen unter ihnen, und aus ihrem brodelnden Zorn wurde pure Mordlust.

Ihr eigenes Zimmer war zerstört und verwüstet worden wie Elders. Die Angreifer hatten sich sogar die Mühe gemacht, das Bett in Brand zu schießen. Tess allerdings lebte noch. Sie hockte mit angezogenen Knien in einer Ecke unter dem Fenster und blutete aus einer frischen Platzwunde an der Stirn. Offenbar hatte man sie geschlagen, aber darauf verzichtet, sie umzubringen. Kara gab einem ihrer Begleiter einen Wink. »Bring sie weg. Ihr darf nichts geschehen. Ich habe später noch ein paar Fragen an sie.« Sie warf Tess einen drohenden Blick zu, den diese aber nicht zur Kenntnis nahm oder nicht verstand.

Sie liefen weiter. Die Luft wurde heißer, und einmal erbebte der ganze Bau unter einer neuerlichen Explosion, die Kara und die anderen fast von den Füßen riß.

Kurz vor dem Aufgang zu Aires’ Turmkammer wurden sie in ein heftiges Handgemenge mit PACK-Soldaten verwickelt. Sie überraschten die Männer so sehr, daß die nicht dazu kamen, ihre Glasgewehre einzusetzen. Doch die Blauuniformierten waren neben ihren Gewehren auch mit Schwertern bewaffnet, mit denen sie ausgezeichnet umzugehen verstanden, wie Kara ja schon am eigenen Leibe erfahren hatte. Wahrscheinlich lag es einzig an Hrhon, daß es ihnen schließlich doch gelang, das halbe Dutzend Männer langsam vor sich herzutreiben, bis sie den Fuß der Treppe erreichten.

Dann wendete sich das Blatt schlagartig, denn am oberen Ende der Treppe tauchte ein Trupp von sicherlich acht oder zehn weiteren PACK-Soldaten auf, die sofort das Feuer eröffneten. Grüne Blitze fuhren unter Karas Krieger und streckten drei von ihnen nieder, töteten aber auch einen der Blauuniformierten. Dann fühlte sich Kara von hinten gepackt und herumgewirbelt. Eine Sekunde später fuhr ein zischender Lichtblitz in Hrhons Rückenpanzer. Der Waga kreischte so schrill auf, wie Kara es noch nie zuvor gehört hatte, kippte zur Seite und begrub sie unter sich.

Die Soldaten stürmten an ihnen vorüber. Kara beobachtete, daß sich auch der Offizier, den sie unten in der Halle gesehen hatte, bei ihnen befand – und erst jetzt erkannte sie ihn. Es war unmöglich – aber es war zweifelsfrei der Mann, dem sie schon zweimal gegenübergestanden hatte: einmal in einer Gasse in Schelfheim, das zweite Mal an einem steinigen Strand fünf Meilen unter der Erde. Und bei ihrer zweiten Begegnung hatte sie ihn ganz zweifelsfrei getötet.

Kara war hilflos unter Hrhons zentnerschwerem Körper eingeklemmt, so daß sie absolut nichts tun konnte, als der Mann stehenblieb und auf sie hinabstarrte. Sekundenlang blickte er sie nur an, dann senkte er ganz langsam seine Waffe, richtete den Lauf auf Karas Gesicht – und schwenkte den Lauf urplötzlich zur Seite.

»Peng!« sagte er. »Siehst du? So einfach wäre das – wenn ich so unfair wäre wie du, Kindchen.« Er lachte, klemmte sich das Gewehr unter den linken Arm und schob mit der anderen Hand das halbierte Glasvisier seines Helmes hoch. Seine Augen glitzerten spöttisch.

»Aber weißt du, ich bin nicht so unfair. Ich denke, ich lasse dich diesmal am Leben. Aber ich warne dich: Wenn du mich noch einmal umbringst, dann werde ich wirklich sauer.« Er lachte, klappte sein Helmvisier wieder hinunter und ging weiter. Die Männer folgten ihm, wobei sie nicht nur ihre Verwundeten, sondern auch die Toten mitnahmen.

Kara versuchte mit aller Gewalt, sich unter Hrhons reglosem Körper hervorzuarbeiten, aber es ging nicht. Hrhons vierhundert Pfund nagelten sie regelrecht an den Boden, so daß sie kaum noch Luft bekam. Der Waga lebte noch, aber sie wußte nicht, wie schwer er verwundet war. Obwohl sie sich der Sinnlosigkeit ihrer Bemühungen bewußt war, versuchte sie weiter mit aller Kraft, die reglose Riesenschildkröte von sich hinunterzuwuchten. Es gelang ihr erst, als Hrhon nach guten zehn Minuten grunzend wieder zu sich kam.

Der Waga war noch benommen. Kara brauchte ein wenig länger, um auf die Füße zu kommen. Sie fühlte sich an, als wäre ihr ganzer Körper eine einzige schmerzhafte Wunde. »Was ist mit dir?« fragte sie schweratmend. »Bist du verletzt?«

»Jha«, antwortete Hrhon mühsam. »Esss thut sssher wheh. Ahbher isss wherdhe nhissst ssstherbhen.«

Kara wollte an ihm vorbeigehen, um sich die Verletzung in seinem Rückenpanzer anzusehen, aber Hrhon drehte sich rasch herum. Sie versuchte es nicht noch einmal, sondern ließ ihren Blick betroffen durch den Gang schweifen. Hrhon hatte ihr zweifellos das Leben gerettet, als er sie hinter seinem eigenen Körper in Deckung zerrte. Außer ihm und ihr selbst lebte hier niemand mehr.

Plötzlich fuhr sie erschrocken zusammen. Aires!

Immer drei Stufen auf einmal nehmend, rannte sie die Treppe zu Aires’ Turmkammer hinauf. Sie stieß auf zwei verwundete und einen toten Krieger, aber sie beachtete sie nicht, sondern rannte nur noch schneller, bis sie Aires’ Zimmer erreichte. Es war ziemlich verwüstet, aber Aires selbst lag mit blutüberströmtem Gesicht neben der Tür. Kara fiel mit einem Schrei auf die Knie und ergriff sie bei den Schultern.

»Aires!«

Die alte Magierin öffnete die Augen, und Kara atmete unendlich erleichtert auf. Aires lebte. Die Angreifer hatten sie wie Tess nur niedergeschlagen.

»Was ist passiert?« fragte Aires. Sie schien kaum bei Bewußtsein zu sein und nahm anscheinend gar nicht richtig wahr, was um sie herum geschah. Sie versuchte sich aufzusetzen, aber es gelang ihr nur mit Karas Hilfe.

»Lebe ich noch?« murmelte sie.

Kara tupfte ihr behutsam mit einem Zipfel ihres Umhanges das Blut aus dem Gesicht. Aires hatte eine üble Platzwunde über dem linken Auge. Sie fuhr zusammen, als Kara sie berührte. »Doch«, sagte sie gepreßt. »Ich muß wohl noch leben, so weh wie das tut.«

»Du lebst noch«, sagte Kara. »Allerdings frage ich mich wieso.«

»Wie nett«, murmelte Aires.

»So meine ich das nicht«, sagte Kara. »Ich wundere mich nur – sie haben mindestens ein Dutzend Männer verloren, um hier heraufzukommen. Wenn sie es nicht getan haben, um dich zu töten... weshalb dann?« Sie sah sich in dem vollkommen verwüsteten Zimmer um. »Vielleicht haben sie etwas gesucht?«

Hrhon kam schweratmend hereingewankt. »Sssie sssihehn sssisssh ssshurhück«, stieß er hervor.

Kara war mit einem einzigen Satz am Fenster.

Der Burghof bot ein apokalyptisches Bild. Nicht ein einziges Gebäude war unbeschädigt geblieben. Der Himmel über der Festung glühte rot im Widerschein der Flammen. Eine Handvoll Libellen kreiste noch immer über dem Hort, aber die meisten waren mittlerweile gelandet. Dutzende von Männern in blauen Uniformen rannten auf die offenstehenden Glaskanzeln zu. Viele von ihnen trugen andere, reglose Körper mit sich. »Hrhon!« sagte sie. »Lauf hinunter. Sie sollen sie auf keinen Fall verfolgen, hörst du? Ich will keinen einzigen Drachen in der Luft sehen. Und jemand soll nachsehen, ob Elders toter Kamerad noch da ist.« Sie begegnete Aires fragendem Blick und deutete auf den Hof hinunter. »Sie nehmen all ihre Toten mit.«

»Aber warum?« wunderte sich Aires. Ächzend stemmte sie sich an der Kante des umgestürzten Tisches in die Höhe und trat zu ihr ans Fenster.

»Vielleicht, weil sie nicht tot sind«, murmelte Kara.

»Wie bitte?«

Kara sah weiter auf den Hof hinab. Der Kampf war vorbei. Dann und wann zuckte noch ein grüner Blitz auf, wenn einer der PACK-Soldaten nervös wurde und auf einen Schatten feuerte, aber die meisten hatten ihre Maschinen wieder erreicht. Die ersten Libellen starteten bereits wieder.

»Ich weiß, daß es verrückt klingt«, sagte Kara. »Aber... erinnerst du dich, daß ich dir von dem Mann erzählt habe, der Angella und mir in dieser Gasse in Schelfheim aufgelauert hat!«

»Der, den du nachher unten am Strand erschossen hast!«

»Das dachte ich bis jetzt«, antwortete Kara. »Aber vor zehn Minuten habe ich ihn wiedergesehen, Aires. Es war der Offizier, der die Soldaten angeführt hat. Du müßtest ihn eigentlich auch gesehen haben – er trug einen dünnen Bart.«

Aires nickte. »Das war der Kerl, der mich niedergeschlagen hat.« Sie blinzelte. »Aber du mußt dich täuschen. Du kannst ihn nicht getötet haben!«

»Doch, Aires.« Kara drehte sich langsam zu der alten Magierin um und sah ihr ins Gesicht, während im Hof unter ihr die letzten Libellen kreischend abhoben. »Verstehst du immer noch nicht, Aires! Wir kämpfen gegen eine Armee von Unsterblichen!«

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