Sie hatten verabredet, in der gleichen Höhle auf die Rückkehr der Drachen zu warten, in der sie auch die letzte Stunde der Nacht zugebracht hatten. Da sie diesmal nichts suchten und nicht in einem wirren Zickzack über das Kadaverfeld gingen, brauchten sie kaum zwei Stunden, um den Rückweg zu bewältigen – aber allein das erschien Kara hinterher wie ein kleines Wunder. Sie machte sich nichts vor. Karoll war kein Irgendwer, der so einfach verschwinden konnte, ohne daß es jemandem auffiel. Schon bald würde es hier von Fliegern und vielleicht sogar Libellen wimmeln, die nach den Verschwundenen suchten.
Als sie in die Höhle zurückgingen, erwartete sie die nächste unangenehme Überraschung. Jemand hatte ihr Feuer gelöscht und die Brandstelle so zertrampelt, daß Kara die Idee, das Feuer zu entfachen, sofort fallenließ.
Sie blieben dicht beim Höhleneingang, aber die Helligkeit, die durch die Öffnung hereinfiel, vermochte die gestaltlose Furcht, die in der Schwärze dahinter lauerte, nicht zu vertreiben. Einen Moment lang spielte Kara mit dem Gedanken, auf diesem Weg nach oben zurückzukehren, verwarf ihn aber gleich wieder. Zweifellos führte der Gang in das Labyrinth aus Katakomben und Treppen unter der Stadt, aber sie hatten kein Licht und waren erschöpft und müde. Außerdem wußte niemand, ob sich nun eine ganze Armee oder nur einige wenige Ungeheuer in Schelfheims Unterwelt geflüchtet hatten. Und so ganz nebenbei hatte Kara auch keine besondere Lust, eine drei Meilen lange Treppe hinaufzusteigen...
Seufzend wandte sie sich wieder dem Höhleneingang zu und entdeckte fast im gleichen Augenblick das, was sie befürchtet hatte: Über der Klippe war ein halbes Dutzend der riesigen Käfer aufgetaucht sowie zwei Libellen.
Das gefiel ihr nicht. Vier oder auch vierzig Flieger hätten ihr wenig Kopfzerbrechen bereitet; auf diesem gigantischen Insektenfriedhof konnte eine ganze Armee von Schelfheims Soldaten nach ihnen suchen, bis sie schwarz wurden. Sie war allerdings ziemlich sicher, daß die PACK-Leute in den Libellen technische Möglichkeiten zur Verfügung hatten, sie auch in der Höhle aufzuspüren.
Während die Käfer ziemlich ziellos zu kreisen begannen, sank eine der Libellen dort nieder, wo sie den toten PACK-Soldaten zurückgelassen hatten. Die andere drehte sich schwerfällig einmal im Kreis – und begann dann langsam, aber sehr zielsicher, auf ihr Versteck zuzufliegen!
»Mist!« fluchte Kara. Ihre beiden Begleiter sahen sie fragend an, und Kara deutete mit einer abgehackten Geste nach draußen. »Sie haben uns entdeckt. Oder wenigstens die Höhle. Wir können nicht hierbleiben.«
Sie überlegte einen Moment, versuchte die Zeit abzuschätzen, die die Libellen brauchen würden, um herzukommen allerhöchstens zwei Minuten, vermutete sie, und wandte sich dann an die beiden gefesselten Soldaten.
»Wir haben genau drei Möglichkeiten«, sagte sie und deutete mit einer Kopfbewegung in das Dunkel des Ganges. »Wir können gemeinsam dort hinein gehen. Ich glaube, ihr wißt so gut wie wir, was das bedeutet. Ich kann euch beiden die Kehlen durchschneiden und versuchen, zusammen mit meinen Männern allein durchzukommen. Das würde uns eine Menge Unannehmlichkeiten ersparen und uns ein schönes Stück schneller machen.« Obwohl im Moment nichts für sie so kostbar war wie Zeit, ließ sie fünf Sekunden verstreichen. »Oder ich könnte euch vertrauen und am Leben lassen. Ihr könntet den Männern, die gleich hier erscheinen werden, erzählen, daß wir euch gefesselt und einfach hier zurückgelassen haben, während wir mit unseren Drachen weggeflogen sind – so tief, daß man uns von der Stadt aus nicht sehen konnte.« Sie ließ weitere fünf Sekunden verstreichen, in denen die Libellen so nahe kamen, daß sie jetzt bereits das schrille Heulen der Rotoren hören konnte. »Ich persönlich würde die dritte Möglichkeit vorziehen. Die Frage ist nur: Kann ich euch vertrauen?« Sie suchte in den Gesichtern der beiden Männer nach irgendeinem Zeichen von Verrat oder Lüge, aber sie fand nichts.
»Ich werde nichts sagen«, sagte der eine schließlich. Der andere schwieg.
Kara sah zum Eingang. Die Libellen waren nicht mehr zu sehen, aber das Heulen ihrer Rotoren war noch lauter geworden. Offensichtlich suchten sie bereits nach einem geeigneten Landeplatz. Sie wandte sich an den zweiten Soldaten, während sie die Hand auf den Griff des Schwertes sinken ließ.
»Ich habe nicht mehr viel Zeit«, sagte sie. »Du hast noch fünf Sekunden, um dich zu entscheiden.«
»Ich verrate euch nicht«, versprach der Gardist. »Falls sie mich nicht dazu zwingen. Sie können so etwas.«
»Ich weiß«, antwortete Kara. »Ich verlange zehn Minuten von euch, mehr nicht. Bis dahin sind wir weit genug weg, daß uns niemand mehr einholt. Nicht dort drinnen.« Mit einem Ruck drehte sie sich herum und warf den beiden Drachenkämpfern einen auffordernden Blick zu.
»Du läßt sie am Leben?« fragte einer der beiden.
»Ich habe ihr Wort«, erinnerte Kara. »Sie werden es halten also kommt.«
Die Zeit reichte nicht mehr aus, um sich mit den beiden Kriegern darüber zu streiten, ob es nun gefährlich war, ihre Gefangenen am Leben zu lassen oder nicht. Das Heulen der Libellenmotoren nahm ab, als eine der Maschinen offensichtlich landete und der Pilot die Triebwerke abschaltete; ihnen blieben jetzt nur noch ein paar Augenblicke, bis der erste PACK-Krieger auftauchen würde.
Kara versuchte vergeblich, sich das Bild der Höhle ins Gedächtnis zurückzurufen, so wie sie es heute morgen im Schein des Feuers gesehen hatte. Sie glaubte zumindest, daß der Weg auf eine Strecke von dreißig oder vierzig Metern geradeaus in den Berg führte und der Boden keine weiteren bösen Überraschungen enthielt als einige heruntergefallene Steine. Sie stürmten ein Stück weit, das sich in der absoluten Dunkelheit nicht schätzen ließ, in den Gang hinein, wobei Kara immer wieder rasche Blicke über die Schulter zurückwarf. Die Schritte der beiden anderen waren neben ihr, und sie war sich schmerzhaft der Tatsache bewußt, wie laut und überdeutlich sie in der unheimlichen Stille zu hören sein mußten. Sie reagierten genauso rasch und richtig wie sie: Kaum erschien der Schatten des ersten PACK-Soldaten unter dem Höhleneingang, da erstarrten sie zur Reglosigkeit. Auch Kara sank in eine geduckte Position herab und drehte sich vollends zum Eingang um. Sie konnte die gedämpften Atemzüge von einem der beiden Krieger neben sich hören.
Die Libellenflieger waren nur als Umrisse zu erkennen. Der wuchtige Helm mit dem gläsernen Visier verlieh als Schatten ihren Köpfen etwas Insektenhaftes und Bedrohliches. Einer der beiden blieb reglos unter dem Höhleneingang stehen, der andere sah sich rasch um und eilte dann auf die beiden gefesselten Soldaten zu. Sie waren schon zu weit entfernt, als daß Kara hören konnte, was sie sagten, aber ihre wilden, abgehackten Gesten bewiesen ihr, daß die Gardisten offensichtlich wirklich bei der abgesprochenen Geschichte blieben. Sie deuteten nach draußen, nicht tiefer in den Gang hinein. Kara verspürte ein flüchtiges, aber tiefes Gefühl von Erleichterung. Völlig überzeugt von der Aufrichtigkeit der beiden Männer war sie nicht gewesen.
Die beiden hatten jedoch ihre Geschichte noch nicht einmal zu Ende erzählt, da hob der zweite PACK-Soldat die Hand an den Kopf, tat irgend etwas an seinem Helm – und dann ging alles so schnell, daß selbst Karas warnender Schrei viel zu spät kam. Die Gestalt in der blauen Uniform bewegte sich unvorstellbar rasch. Ihre Hände, die gerade noch leer gewesen waren, hielten plötzlich einen länglichen, plumpen Schatten, und im gleichen Moment schnitt ein giftgrüner Lichtblitz durch die Dunkelheit und traf mit tödlicher Präzision sein Ziel.
Es war pures Glück, daß es nicht Kara traf. Der Mann neben ihr verwandelte sich in eine lodernde Fackel, die hilflos nach hinten kippte und vermutlich schon tot war, ehe Kara sich zur Seite warf und mit einer Flugrolle wieder auf die Füße kam. Im flackernden Licht des brennenden Körpers erkannte sie, daß der Gang sich nicht auf zwanzig, sondern auf mindestens hundert Meter vor ihr erstreckte. Aber es gab einen mehr als meterbreiten, bis an die Decke reichenden Spalt nur wenige Schritte vor ihr, der die Wand in zwei Teile zerrissen hatte. Es war möglich, daß dahinter nichts als zwei oder drei Meter Raum war, aber sie hatte keine Wahl. Der Soldat schoß sich allmählich auf sie ein. Ein, zwei grüne Blitze verfehlten sie so knapp, daß sie die verbrannte Luft riechen konnte; neben ihr stoben Funken und winzige Spritzer geschmolzenen Gesteins aus der Wand. Im Zickzack rannte sie weiter, warf sich mit einem verzweifelten Satz in den Spalt hinein und schrie vor Schmerz auf, als ein weiterer Schuß sie nur um Haaresbreite verfehlte und glühendes Gestein Löcher in ihre Jacke brannte. Aber sie hetzte weiter. Vor ihr war nichts als Schwärze – und die hastigen Schritte des zweiten Drachenkriegers, der sich in diesen Spalt gerettet hatte, ohne daß sie es bisher überhaupt bemerkt hätte. Dann brachen sie plötzlich ab, sie hörte einen Fluch und kurz darauf das Geräusch eines Körpers, der zu Boden stürzte und in einer Lawine aus Steinen und Geröll weiterschlitterte. Trotzdem rannte sie weiter. Wenn sie stehenblieb, war alles zu Ende. Der Fremde würde sie verfolgen, und in diesem engen Spalt mußte er gar nicht zielen, um sie zu treffen.
Zwei, drei Schritte weit fühlte sie noch festen Boden unter den Füßen, dann hatte sie plötzlich das entsetzliche Gefühl, ins Leere zu treten. Sie stürzte, prallte dann auf einer schräg in die Tiefe führenden Böschung aus Stein und Geröll auf und versuchte vergeblich, sich irgendwo festzuklammern. Wie der Mann vor ihr schlitterte sie hilflos in die Tiefe, überschlug sich dabei mehrmals und beließ es schließlich dabei, die Hände schützend vor das Gesicht zu reißen, um nicht von den scharfkantigen Felsen verletzt zu werden.
Schließlich prallte sie in der Dunkelheit gegen den Drachenkämpfer, der vor Schmerzen aufstöhnte und mit einer Hand, die feucht von Blut war, nach ihr tastete.
»Ich bin es!« sagte Kara erschrocken. »Kara!«
Der Griff des Drachenkriegers lockerte sich für einen Augenblick, dann packte er ihre Schulter. Sie spürte, wie stark seine Hand zitterte. Und es klebte sehr viel Blut darauf. Er mußte sich schwer bei seinem Sturz verletzt haben.
Behutsam streckte auch sie die Hände aus und tastete nach seinem Gesicht. Es war so zerschlagen und zerschunden wie ihr eigenes und warm vor Blut. Sie fühlte eine schmale, sichelförmige Narbe unter seinem rechten Auge, und daran erkannte sie ihn. Es war Tyrell, ein Krieger, der nur zwei oder drei Jahre älter war als sie. Sie war nie besonders gut mit ihm ausgekommen, wußte aber, daß er tapfer und klug war.
»Bist du schwer verletzt?« fragte sie.
»Ich glaube, ja«, stöhnte Tyrell. »Aber das spielt jetzt keine Rolle. Wir müssen... ein Versteck finden. Er kann... im Dunkeln sehen.«
Kara schrak so heftig zusammen, daß er es fühlen mußte. Sie hätte sich ohrfeigen können, daß nicht sie, sondern er darauf gekommen war. Völlig sinnlos, aber einem plötzlichen Reflex folgend, hob sie den Kopf und blickte dorthin, wo Tyrell und sie hergekommen waren. Natürlich sah sie nichts außer Schwärze, aber er hatte recht – in ein paar Momenten würde ihr Verfolger dort oben auftauchen und sie wahrscheinlich so deutlich vor sich sehen, als säßen sie im hellen Sonnenlicht. Sie löste behutsam Tyrells Hand von ihrer Schulter, griff mit der Rechten nach seinen Fingern und hielt sie fest, während sie vorsichtig mit dem ausgestreckten linken Arm um sich tastete. Nichts. »Kannst du gehen?« fragte sie.
»Ja«, murmelte Tyrell. Sie hörte und spürte, wie er aufstand. Steine rollten weiter den Abhang hinab. Offensichtlich waren sie noch lange nicht auf dem Grund dieser lichtlosen Höhle angekommen. »Das ist besser als nichts«, murmelte sie. Auch sie selbst konnte sich nur mit zusammengebissenen Zähnen fortbewegen; ein pochender Schmerz schoß durch ihr rechtes Bein, wenn sie versuchte, es zu belasten. Und Tyrells Gewicht zerrte wie eine Zentnerlast an ihrem rechten Arm. Trotzdem quälte sie sich Schritt für Schritt weiter – und nach einem Dutzend dieser qualvollen Schritte stießen ihre Finger auf harten glatten Widerstand. Sie war noch immer vollständig blind, aber sie ertastete einen gut anderthalb Meter hohen Felsbuckel. Kara nahm all ihren Mut zusammen, stieg vorsichtig hinauf und ließ sich auf der anderen Seite wieder hinabsinken. Ihre Phantasie gaukelte ihr Bilder von bodenlosen Schächten und Ungeheuern mit rasiermesserscharfen Zähnen vor, die auf der anderen Seite auf sie lauerten, aber wie so oft übertraf die Phantasie die Wirklichkeit. Sie fand nichts außer rissigem Felsboden, zog Tyrell hastig zu sich herab und ließ sich in die Hocke sinken. Sie lauschte mit angehaltenem Atem und rasendem Herzen in die Dunkelheit hinein. Im ersten Moment hörte sie nichts, aber dann begannen ihre überreizten Sinne doch Geräusche auszumachen. Ein Knacken und Rumoren im Fels, das Kullern von Steinen, die noch immer in die Tiefe stürzten, das weit entfernte, monotone Tropfen von Wasser, ein Huschen und Gleiten, Schaben und Knirschen... Es war, als wären sie unversehens in einen Jahrmarkt steinerner Ungeheuer geraten, nicht in eine Höhle, die noch nie von einem lebenden Wesen betreten worden war. Dann vernahm sie unter all diesen Lauten ein anderes, alarmierendes Geräusch: die vorsichtigen, tastenden Schritte eines Menschen, der sich den Geröllhang herabarbeitete und dabei versuchte, die Balance zu halten, um nicht wie sie und Tyrell kopfüber den Rest des Weges zurückzulegen. Sie fragte sich, ob er sie gesehen hatte oder ob sie in ihrem Versteck sicher waren.
Es gab nur einen einzigen Weg, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Mit ein paar beruhigenden Berührungen versuchte sie, Tyrell zu verstehen zu geben, daß er hierbleiben sollte, ließ seine Hand los und kroch ein gutes Stück in der Dunkelheit nach rechts, um sie nicht beide in Gefahr zu bringen. Dann richtete sie sich unendlich behutsam hinter ihrer Deckung auf und starrte in die Dunkelheit hinein. Ihre Augen waren so weit aufgerissen, daß es weh tat, aber sie sah ihn. Nicht ihn selbst, denn er war nicht so dumm gewesen, eine Lampe einzuschalten, sondern die winzigen grünen, roten und blauen Lämpchen, die an den Instrumenten in seinem Gürtel brannten, und das pulsierende böse Licht, das im Lauf seiner Waffe darauf wartete, ein neues Opfer zu finden. Im allerersten Moment war sie über diesen Leichtsinn sogar ein wenig erstaunt, aber dann begriff sie, daß diese Lichter so schwach waren, daß man sie selbst in einer normalen Nacht nicht hätte sehen können.
Rasch ließ sie sich wieder hinter ihre Deckung zurücksinken und überlegte, was zu tun war. Ihn direkt anzugreifen, wäre Selbstmord gewesen. Zweifellos konnte er in der Dunkelheit so gut sehen wie sie und Tyrell am hellen Tage, und er hatte bewiesen, wie wenig Skrupel er hatte, von seiner Waffe Gebrauch zu machen. Sie konnten aber auch nicht hierbleiben. Früher oder später würde er sie in ihrem Versteck entdecken.
Vorsichtig richtete sie sich auf und warf einen weiteren Blick auf den Angreifer. Er war näher gekommen, hatte sich aber ein Stück nach links entfernt. Das konnte allerdings auch ein Trick sein. Sie tastete um sich, fand einen glatten Stein von der Größe ihrer Faust und versuchte, die Distanz zwischen sich und den scheinbar im Nichts schwebenden, bunten Lichtpunkten abzuschätzen. Sie warf den Stein mit aller Kraft und ließ sich gleichzeitig zur Seite fallen. Natürlich traf sie nicht, sie hörte, wie ihr Geschoß irgendwo harmlos gegen einen anderen Stein prallte und damit eine weitere, polternde Geröllawine auslöste, aber die Reaktion ließ nur eine Sekunde auf sich warten. Sie konnte hören, wie er mit einer viel zu hastigen Bewegung herumfuhr, und im gleichen Augenblick stach ein grellgrüner Blitz durch die Dunkelheit und explodierte irgendwo fünfzig oder sechzig Meter hinter ihr an einer Felswand. Er ging einen halben Meter über den Rand ihrer Deckung hinweg, war aber trotzdem zu genau gezielt, um Zufall zu sein. Er hatte sie gesehen. Nun, das hatte sie auch beabsichtigt.
Kara hörte hastige, trappelnde Schritte und versuchte, sich auf nichts anderes als darauf zu konzentrieren. Die Schwärze verzerrte die Geräusche, doch sie hatte nur diesen einen, einzigen Versuch. Sie schätzte, daß er noch fünf Meter entfernt war, dann vier, drei, zwei... Etwas im Rhythmus seiner Schritte änderte sich, als er abbremste, weil er das Hindernis vor sich erkannte.
Kara sprang mit einem Schrei in die Höhe, riß das Schwert aus dem Gürtel und führte es in einem weit geschwungenen, kraftvollen Halbkreis durch die Dunkelheit vor sich.
Die Leere war nicht ganz so leer, wie es den Anschein hatte. Etwas traf ihr Schwert und schlug es ihr fast aus der Hand, sie hörte einen keuchenden, überraschten Laut – und dann prallte ein schwerer Körper gegen sie, riß sie von den Füßen und begrub sie unter sich.
Kara reagierte ganz instinktiv. Blitzschnell riß sie die Knie an den Körper und rammte sie dem Angreifer mit aller Kraft in den Leib, gleichzeitig bekam sie eine Hand frei und tastete über sein Gesicht. Sie fühlte Metall und glattes Glas, und dann Blut. Sehr viel Blut, das aus seiner durchschnittenen Kehle quoll. Erleichtert und entsetzt zugleich stieß sie den Toten von sich, richtete sich auf und starrte im Dunkeln in die Richtung, in der sie den Eingang der Höhle vermutete. Nichts. Keine weiteren bunten Lichter, kein verräterisches Geräusch. Der zweite Mann war ihnen nicht gefolgt – oder er bewegte sich sehr viel vorsichtiger als sein Kamerad.
»Kara?« drang Tyrells Stimme schwach durch die Dunkelheit zu ihr. Der Tonfall erschreckte Kara. Tyrell mußte sehr viel schwerer verwundet sein, als er zugegeben hatte.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie rasch. »Warte einen Moment.«
Sie beugte sich über den Toten, löste das Gewehr aus seinen Händen und legte es behutsam neben sich. Dann wanderten ihre tastenden Hände an seinem Körper hinauf, glitten über die Schultern und legten sich schließlich um den Helm. Es kostete sie einige Mühe, ihn abzuziehen, aber es war so, wie sie vermutet hatte: Sie hatte ihn kaum aufgesetzt, da konnte sie sehen. Allerdings auf eine Art und Weise, wie sie niemals zuvor gesehen hatte. Die Welt um sie herum war grün. Kein Schwarz, kein Weiß, nur dieses unheimliche, unangenehme Grün in allen nur vorstellbaren Schattierungen. Auch ihre eigene Hand und selbst das Blut darauf leuchteten grün, als Kara sie vor das Gesicht hob und prüfend die Finger bewegte. Es war unheimlich; wie ein Bild, dessen Maler nur eine einzige Farbe besessen hatte – und der die Dinge ein ganz kleines bißchen anders sah, als sie wirklich waren. Kara konnte es nicht in Worte fassen. Alle Umrisse und Konturen schienen zu stimmen, und doch... Es war wie ein Blick in eine durch und durch fremde Welt, in der sie nicht sein sollte.
Sie verscheuchte den Gedanken, warf einen raschen, besorgten Blick zu Tyrell hinüber, der mit an den Leib gezogenen Knien gegen den Felsen gelehnt dasaß, und wandte sich dann wieder dem toten Soldaten zu. Sein Anblick rief ein leises Schaudern in Kara hervor. Für einen Moment war die Verlockung fast übermächtig, die Waffe des PACK-Soldaten zu nehmen und auf das Ding in seinem Kopf zu richten, ehe sie abdrückte. Der Gedanke, daß dieser Mann tot vor ihr lag und doch nicht tot war, erfüllte sie mit rasendem Zorn, ohne daß sie im allerersten Moment selbst wußte warum. Sie untersuchte den Toten und nahm schließlich seinen Instrumentengürtel an sich. Er enthielt eine Menge kompliziert aussehender Dinge, von denen sie nicht eines begriff, aber schließlich hatte ihnen der Zufall schon mehr als einmal geholfen.
Nach kurzem Zögern hob sie auch die Waffe auf, hängte sie sich über die Schulter und ging zu Tyrell zurück.
Der Drachenflieger stöhnte leise, und sein Gesicht, seine Hände und seine Kleider waren über und über voll grün leuchtendem Blut. Es irritierte Kara ein wenig, daß er sie nicht ansah, obwohl sie kaum anderthalb Schritte vor ihm stand; erst dann fiel ihr wieder ein, daß sie zwar ihn, umgekehrt er aber nicht sie sehen konnte.
»Was ist mit dir?« fragte sie.
»Ich weiß nicht...« murmelte Tyrell schwach. »Ich muß mir irgend etwas... gebrochen haben. Ich kann... kaum noch atmen.«
»Aber wir können nicht hierbleiben«, sagte Kara ernst.
»Ich weiß«, murmelte Tyrell mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Es wird schon irgendwie... gehen.« Er versuchte, sich in die Höhe zu stemmen. Zu Karas Überraschung gelang es ihm sogar, aber er stand taumelnd da, mit verzerrten Zügen, und sein Atem wurde von einem schrecklichen, rasselnden Geräusch begleitet.
»Ich glaube nicht, daß das viel Sinn hat«, sagte Kara leise. »Du solltest hierbleiben. Früher oder später werden sie kommen, um ihren Kameraden zu suchen. Ich glaube nicht, daß sie dir etwas antun, wenn du dich ergibst.«
»Unsinn«, antwortete Tyrell. »Sie werden mich umbringen. Und selbst wenn nicht...« Er wankte, und Kara streckte schon die Hände aus, um ihn aufzufangen, aber dann fand er im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder. »Ich weiß zuviel. Ich würde... euch alle in Gefahr bringen.«
Kara wußte, daß es Tyrell vermutlich umbrachte, wenn sie ihn zwang, sie weiter zu begleiten – aber wenn er in die Hände der PACK-Leute fiel, dann bedeutete das vielleicht ihrer aller Todesurteil. Thorn würde nicht begeistert von der Neuigkeit sein, daß sie Karoll gefangengenommen hatten.
»Versuchen wir es«, sagte sie schweren Herzens. Sie deutete nach links. »Dort entlang.« Tyrell sah irritiert in die Richtung, aus der ihre Stimme kam. »Ich habe seinen Helm«, erklärte Kara. »Ich kann jetzt auch im Dunkeln sehen.«
»Gut«, murmelte Tyrell gepreßt. Er versuchte zu lächeln. »Aber tu mir einen Gefallen, ja? Verrat mir nicht, wie ich aussehe.«
Kara lachte leise, dann griff sie nach Tyrells Arm, legte ihn behutsam um ihre Schulter und ging los, nachdem sie einen letzten sichernden Blick zum Eingang der Höhle hinauf geworfen hatte. Als sie sah, wie weit Tyrell und sie die Geröllhalde hinuntergestürzt waren, spürte sie ein eisiges Schaudern. Daß sie sich nicht beide tödlich verletzt hatten, glich einem Wunder. Die Höhle gehörte nicht zum unterirdischen Schelfheim, aber an ihrem jenseitigen Ende gab es einen Durchgang, dessen Form Kara ein wenig zu regelmäßig schien, um natürlichen Ursprungs zu sein. Und sie hatte recht. Der Ausgang stellte sich als Ende eines gemauerten, halbrunden Tunnels heraus, der fünfundzwanzig Schritte weit geradeaus führte und sich dann verzweigte. Auf gut Glück nahm Kara den rechten Abzweig. In weiteren zwanzig oder dreißig Schritten Entfernung gewahrte sie die ersten Stufen einer uralten Treppe, die in steilen Windungen in die Höhe führte.
Tyrell keuchte vor Schmerz, als sie die erste Stufe erklommen hatten, und fuhr so heftig zusammen, daß sie ihn beinahe losgelassen hätte. Stöhnend sank er gegen die Wand und preßte die linke Hand gegen die Brust. »Das hat keinen Sinn«, murmelte er. »Das schaffe ich nie.«
»Unsinn!« widersprach Kara, obwohl sie nur zu gut wußte, wie recht er hatte. »Du wirst doch nicht vor einer kleinen Treppe kapitulieren, oder?«
»Nein«, antwortete Tyrell mühsam. »Aber das ist keine kleine Treppe. Es müssen Tausende von Stufen sein. Laß mich hier. Ich werde irgendwie versuchen, allein durchzukommen.«
»Das ist Unsinn«, entgegnete Kara.
»Kann schon sein«, stöhnte Tyrell. »Aber schlimmstenfalls habe ich immer noch das da.« Er schlug mit der Hand auf das Messer an seinem Gürtel.
»Soweit ist es noch nicht«, sagte Kara bestimmt. »Komm wir suchen einen anderen Weg.« Welchen anderen Weg? fragte Tyrells Blick. Aber er sprach diese Frage nicht aus, sondern humpelte gehorsam und auf ihre Schulter gestützt neben ihr her.
Jeder Schritt schien ihr ein wenig schwerer zu fallen als der vorhergehende, mit jedem Schritt wurde ihr die Ausweglosigkeit ihrer Situation ein wenig mehr bewußt. Selbst wenn beide gesund und ausgeruht gewesen wären, wäre ihre Chance, lebendig zur Oberfläche zu kommen, erbärmlich gering gewesen. Sie hatte auch mit dem Gedanken gespielt, sich einfach irgendwo hier in der Nähe zu verbergen und nach einigen Stunden zu dem Ausgang zurückzukehren, den sie kannte, aber den Plan wieder verworfen. Überall traf sie auf neu entstandene Risse und Sprünge in den Wänden und der Decke, hier und da blockierten Geröllhalden ihren Weg, und manchmal mußten sie vorsichtig um bodenlose Löcher herumbalancieren, die dort gähnten, wo vor ein paar Tagen noch massiver Fels gewesen war. Sie waren auch keineswegs die einzigen, die einen Ausweg aus diesem Labyrinth suchten. Fast auf Schritt und Tritt trafen sie auf alle nur vorstellbaren Kreaturen, die sich vor Gäas Amoklauf hierher geflüchtet hatten. Die meisten waren klein und harmlos, und ein großer Teil schien blind und vollkommen hilflos durch die ewige Schwärze hier unten zu irren. Einige wenige versuchten sie zu attackieren, ließen sich aber durch ein Händeklatschen, einen Schrei oder nötigenfalls einen beherzten Fußtritt sofort verscheuchen. Trotzdem... früher oder später würden sie auf irgend etwas treffen, das sowohl im Dunkeln sehen konnte als auch wehrhaft genug war, es mit ihnen aufzunehmen.
Sie waren eine halbe Stunde marschiert, als Kara die erste Pause einlegte. Sie konnte einfach nicht mehr. Jeder Schritt gab ihr das Gefühl, sich durch einen unsichtbaren, zähen Sumpf zu quälen. Behutsam ließ sie Tyrell auf einen steinernen Vorsprung sinken, überzeugte sich davon, daß er sicher dasaß und hockte sich dann selbst hin. Sie nahm den Helm ab, dessen Gewicht sie ebenfalls spürte, setzte ihn aber hastig wieder auf, als die Dunkelheit wie eine erstickende Woge über ihr zusammenschlug, »Geht es besser?« wandte sie sich an Tyrell, eigentlich um einfach überhaupt etwas zu sagen.
Sie sah, daß er den Kopf schüttelte, aber er antwortete: »Ja. Die Schmerzen lassen nach. Ich schätze, ich schaffe es.«
Aber sein Gesichtsausdruck und die verkrampfte Haltung, in der er dasaß, verrieten, daß er sich etwas vormachte. Sie wollte eine Bemerkung machen, als sie ein Geräusch hinter sich hörte. Erschrocken fuhr sie herum und nahm gleichzeitig die erbeutete Waffe von der Schulter. Ihr Blick bohrte sich in die grüne Dämmerung, die alles verschlang, was weiter als vierzig oder fünfzig Schritte entfernt war. Etwas bewegte sich darin.
»Was ist?« fragte Tyrell.
»Nichts«, murmelte sie. »Still!«
Sie hob die Waffe ein wenig höher und ließ ihre Finger unsicher über den gläsernen Schaft gleiten. Sie spürte mehrere kleine Knöpfe und begriff zum ersten Mal und voller Schrecken, daß sie nicht einmal wußte, wie diese Waffe funktionierte.
Die Bewegung wiederholte sich. Langsam, und sich auf einer Unzahl von Beinen voranschiebend, die so dünn und zahlreich waren, daß sie wie wehendes Haar im Wind wirkten, kam ein riesiges Etwas auf sie zugekrochen. Es war so groß, daß es den Gang fast völlig ausfüllte, und ähnelte einer ins Absurde vergrößerten Küchenschabe. Der gepanzerte, vielfach untergliederte Leib schrammte mit einem Geräusch, das ihr einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ, an den Wänden entlang, und aus dem kleinen Kopf glotzten sie ein paar grün leuchtender, starrer Insektenaugen an. Mit einer Unzahl scharfer Zähne war das Maul der Kreatur versehen. Auch die beiden Zangen, die sie wie die Mandibeln einer Ameise davor trug, reichten aus, eine Beute wie Kara und Tyrell in handliche Stücke zu zerreißen. Und offensichtlich konnte die Kreatur ebensogut im Dunkeln sehen wie Kara, denn sie bewegte sich sehr zielsicher auf sie zu.
»Was ist das?« fragte Tyrell alarmiert.
»Besuch«, antwortete Kara leise. »Warte – ich werde ihn gebührend begrüßen.«
Sie erhob sich auf ein Knie, stützte den Ellbogen auf das andere und visierte das Monster über den Lauf der gläsernen Waffe hinweg an. Dann drückte sie auf alle Knöpfe gleichzeitig, die ihre Finger fanden.
Das Ergebnis war kein grüner Lichtblitz, sondern eine unterbrochene Perlenschnur winziger, giftiggrüner Lichtpunkte, die auf das Ungeheuer zurasten, faustgroße Löcher in seinen Panzer brannten, seine Augen verdampfen ließen, eine seiner Zangen absägten und seine wirbelnden Beine in Brand setzten. Eine der Lichtperlen schlug in sein offenes Maul und ließ einen Schwall aus kochendem Blut und Fleisch hervorsprudeln.
Kara hatte aber die Waffe vor Schrecken um eine Winzigkeit hochgerissen, und eine Salve schlug in die Decke über dem sterbenden Monster. Die Wirkung auf den uralten, zermürbten Stein war beinahe noch schrecklicher. Ein dumpfer Schlag ließ den gesamten Gang erzittern. Einige Tonnen Stein und Erdreich prasselten auf das sterbende Ungeheuer herab, und plötzlich spaltete ein Riß wie ein gezackter schwarzer Blitz die Decke über ihnen. Trümmer, Staub und Felsbrocken füllten die Luft wie tödlicher Regen, und Kara sah entsetzt, wie auch der Boden aufriß. Ein handbreiter Spalt raste auf sie und Tyrell zu und knickte im buchstäblich allerletzten Moment im rechten Winkel ab, um die Wand zu ihrer Linken zu zertrümmern. Und das Zittern des Bodens und der Wände hielt an.
»Weg hier!« schrie sie. Mit einem Satz war sie auf den Füßen, packte Tyrells Arm und zerrte ihn einfach mit sich, während sie mit weit ausgreifenden Schritten davonlief. Sie kamen nicht schnell genug voran. Hinter ihnen brach der Stollen immer mehr zusammen. Kara warf einen Blick über die Schulter zurück und sah, daß der Vorsprung, auf dem Tyrell gesessen hatte, bereits unter niederstürzenden Felsen verschwunden war, die Decke senkte sich immer noch weiter und weiter, als versuche das Chaos, seine Opfer noch einzuholen, die ihm zu entkommen drohten.
Tyrell stolperte. Kara versuchte, ihn wieder hochzureißen, aber ihre Kraft reichte nicht. Mit einem Schmerzensschrei fiel er zu Boden, ließ ihre Hand los und hob schützend die Arme über den Kopf. Kara fluchte, fuhr herum und riß ihn grob wieder auf die Füße. Ein kopfgroßer Stein stürzte von der Decke, streifte ihren Helm und prallte mit einem betäubenden Schlag gegen ihre Schulter. Sie wankte, hielt Tyrell aber eisern fest und brachte irgendwie sogar die Kraft auf, ihn mit sich zu zerren. Das Zittern des Bodens ließ jetzt doch allmählich nach. Aber sie waren noch lange nicht in Sicherheit. Immer noch stürzten Steine von der Decke. Kara bekam kaum noch Luft. Sie hustete, prallte gegen die Wand und torkelte weiter, wobei sie Tyrell einfach mit sich zerrte. Erst als sie ganz sicher war, daß sie aus dem gefährlichen Trümmerhagel heraus waren, wagte sie es, stehenzubleiben und ihn loszulassen. Er brach auf der Stelle zusammen, und Kara hatte diesmal nicht mehr die Kraft, ihn aufzufangen. Mit einem erschöpften Keuchen ließ sie sich neben ihn sinken, nahm nun doch den Helm ab und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn, ehe sie ihn wieder aufsetzte und besorgt auf Tyrell herabsah.
»Was... ist passiert?« murmelte Tyrell.
»Nichts«, antwortete Kara. »Es war mein Fehler.« Sie schauderte, als sie sich vor Augen zu führen versuchte, wie die Sache möglicherweise ausgegangen wäre, wäre das Monster nicht dreißig, sondern vielleicht nur drei Meter vor ihr aufgetaucht. Es war tatsächlich ihr Fehler. Sie hätte sich mit dieser Waffe vertraut machen sollen, ehe sie sie benutzte.
Tyrell blickte zu ihr auf, als könne er sie sehen, und Kara erblickte etwas in seinen Augen, was ihr nicht gefiel.
»Es wird nicht noch einmal passieren«, versprach sie. »Ich werde ein bißchen mit diesem Ding üben, sobald wir einen geeigneten Platz finden.«
»Aber bitte nicht hier«, sagte Tyrell gepreßt. »Sonst fällt uns nachher noch der halbe Berg auf den Kopf.«
Kara lachte flüchtig, dann half sie ihm auf die Füße, und sie schleppten sich weiter. Je tiefer sie in das Labyrinth eindrangen, desto schlimmer wurden die Beschädigungen, auf die sie stießen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Kara den Fehler in ihren Gedanken bemerkte: Die Schäden nahmen nicht zu, weil sie tiefer in den Berg vordrangen, denn sie bewegten sich im Kreis. Kara behielt diese Beobachtung vorsichtshalber für sich. Aber sie trug nicht unbedingt dazu bei, ihren Optimismus zu steigern.
Sie wurden ein zweites Mal angegriffen, als sie eine große, scheinbar vollkommen leere Halle durchquerten; diesmal von einer ganzen Armee winziger, heuschreckenähnlicher Scheusale, die gleich zu Dutzenden über sie herfielen. Ihre winzigen Beißwerkzeuge waren nicht kräftig genug, das zähe Drachenleder ihrer Kleidung zu durchdringen, aber sie sprangen an ihnen empor und zwickten sie heftig in Hände und Gesichter. Wäre Kara allein gewesen, hätte sie den beißwütigen Zwergen mit Leichtigkeit davonlaufen können, aber sie mußte nicht nur sich, sondern auch noch Tyrell verteidigen, der vollkommen blind war. Als sie schließlich genügend der kleinen Widerlinge in den Boden gestampft hatte, um die Angriffslust der Überlebenden zu dämpfen, bluteten sie nicht nur beide aus zwei oder drei Dutzend winziger Bißwunden, sondern waren auch so erschöpft, daß sie einfach nicht mehr weiterkonnten.
Sinnlos, dachte sie. Das ist vollkommen sinnlos.
Und als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Tyrell in diesem Moment neben ihr: »Das ist völlig sinnlos, Kara. Laß mich zurück. Allein hast du vielleicht eine Chance. Wenn du dich weiter mit mir abschleppst, gehen wir beide drauf!«
Damit hast du wahrscheinlich sogar recht, dachte Kara. Laut sagte sie: »Unsinn. Was erwartest du jetzt von mir? Daß ich dich erschieße? Oder ziehst du es vor, dich selbst umzubringen?« Sie lachte, wobei sie sich alle Mühe gab, ihrer Stimme einen möglichst verletzenden, höhnischen Klang zu verleihen. »Was willst du? Den edlen Ritter spielen, der sein eigenes Leben opfert, um das der holden Maid zu retten? Vergiß es. Hier unten ist kein Publikum für einen solchen Auftritt.«
»Aber – «
»Kein Wort mehr!« sagte Kara scharf. »Wir schaffen es entweder beide oder gar nicht. Komm weiter.«
Sie schleppten sich weiter; eine halbe Stunde, eine ganze. Kara war jetzt sicher, daß sie sich im Kreis bewegten. Ihre einzige Hoffnung war mittlerweile, daß sie durch einen reinen Zufall den Ausgang wiederfanden, durch den sie diesen Irrgarten betreten hatten.
Plötzlich wurde das Licht schwächer. Zu Anfang bemerkte Kara es kaum. In der unheimlichen, grünen Welt, durch die sie sich bewegte, war es ohnehin schwer, Entfernungen zu schätzen und die Dinge so zu erkennen, wie sie waren. Aber bald fiel ihr doch auf, daß irgend etwas nicht stimmte: Hatte sie bisher dreißig oder vierzig Meter weit sehen können, so reichte ihr Blick jetzt nur noch knapp halb so weit. Und auch alles, was innerhalb dieses Bereiches lag, erschien ihr sonderbar blaß und konturlos. Und als sie nach einer Weile den Kopf wandte und in Tyrells Gesicht blickte, das sich kaum dreißig Zentimeter neben dem ihren befand, da blieb ihr keine andere Wahl mehr, als sich die Wahrheit einzugestehen: ihr künstliches Sehvermögen ließ rapide nach.
Kara war sowohl der Verzweiflung als auch einer Panik nahe. Ohne Sicht waren sie verloren. Sie blieb stehen, tastete im Dunkeln nach einem sicheren Platz und ließ Tyrells Arm los. »Was ist?« fragte er erschrocken.
»Nichts«, antwortete Kara matt. »Ich bin blind, das ist alles.«
»Oh«, sagte Tyrell. In der völligen Schwärze wirkte seine Stimme noch niedergeschlagener als zuvor, und die Stille danach tat beinahe weh. Lange Zeit schwiegen sie beide, dann sagte Tyrell ganz leise. »Dann ist es aus.«
Sie redeten nicht mehr. Sie hatten es versucht, aber sie hatten sich so ungeschickt dabei angestellt, wie es nur ging, und es hatte sich ganz bestimmt nicht gelohnt. Und auch die anderen würden ihre Aufgaben nicht zu Ende führen, weil es ein Kampf war, der nicht gewonnen werden konnte. Sie waren dem Feind, den sie sich ausgesucht hatten, nicht gewachsen.
Kara fragte sich, ob sie das überhaupt jemals gewesen waren. Die Drachenreiter hatten niemals einen Krieg wirklich gewonnen. Sie hatten es geglaubt, aber das war nicht wahr gewesen. Den Sieg, den sie auf ihrem Konto verbucht hatten, hatten die Männer für sie erzwungen, die ihre eigentlichen Feinde waren. Sie hatten ein paar Räuberbanden in die Flucht geschlagen, ein, zwei aufsässige Barone zur Räson gebracht. Jetzt, wo sie zum ersten Mal wirklich gefordert wurden, mußten sie einsehen, daß sie so hilflos waren wie Kinder, die mit bloßen Händen eine Springflut aufzuhalten versuchten.
Ein leises Geräusch drang in ihre Gedanken. Kara richtete sich erschrocken auf und stellte fest, daß auch der letzte bleiche Geisterschimmer vor ihren Augen erloschen war, während sie dagesessen und sich selbst leid getan hatte. Wider besseren Wissens versuchte sie, die absolute Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen. Sie sah nichts, aber das Geräusch wiederholte sich. Ist es jetzt soweit? dachte sie. Kroch da irgend etwas in der Schwärze auf sie zu? Instinktiv tasteten ihre Finger nach der Waffe, die sie quer über den Knien liegen hatte, aber dann zog sie die Hand wieder zurück. Welche Überraschung die Nacht auch immer noch für sie bereit hatte, ein solches Ende war mit Sicherheit noch immer gnädiger, als hier unten zu verdursten oder an Schwäche zu sterben.
Das Geräusch ertönte zum dritten Mal, und erst jetzt begriff Kara, daß es im Inneren ihres Helmes erklang. Was, zum Teufel, –?
»Kara!«
Die Stimme erscholl direkt in ihrem Helm. Sie war leise, von einem Rauschen begleitet, das es sehr schwermachte, sie zu verstehen – und trotzdem hatte sie das Gefühl, sie irgendwoher zu kennen.
»Kara! Ich weiß, daß du mich hören kannst. Wenn du noch am Leben sein solltest, dann dürftest du jetzt blind wie ein Maulwurf sein. Diese Restlichtverstärker sind eine praktische Erfindung, aber sie verbrauchen eine Menge Energie.«
Thorn! dachte sie überrascht. Das war... Thorn! Sie richtete sich kerzengerade auf, und Tyrell schien die Bewegung zu spüren oder zu hören, denn er stellte eine Frage, auf die Kara nur mit einer unwilligen Geste reagierte.
»Falls du noch lebst«, fuhr Thorns Geisterstimme in ihrem Helm fort, »was ich ehrlich hoffe, und falls du dich noch bewegen kannst, dann antworte mir. Ich weiß, daß du den Instrumentengürtel mitgenommen hast. Über deiner rechten Hüfte befindet sich eine auffallend große, viereckige Taste. Wenn du sie drückst, können wir miteinander reden – und ich kann deine genaue Position feststellen und jemanden schicken, der dich und deinen Freund abholt. Bitte, antworte!«
Karas Fingerspitzen glitten über den Schalter, den Thorn ihr beschrieben hatte. Sie zögerte, ihn zu drücken. Sie fühlte sich so... hilflos. Was sollte sie nur tun? Warum war niemand da, der ihr sagte, was richtig und was falsch war?
»Bist du verletzt?« fragte Thorn. Als sie auch darauf nicht antwortete, fuhr er mit veränderter, sehr ruhiger Stimme fort. »Gut, mein letzter Versuch. Ich weiß, daß du mich für deinen Feind hältst. Ich weiß, daß du Angst vor mir hast. Beides ist falsch. Wir haben Fehler gemacht, so wie ihr Fehler gemacht habt. Aber es ist noch nicht zu spät, sie zu korrigieren, oder wenigstens dafür zu sorgen, daß nicht noch mehr gemacht werden. Wenn du nicht antwortest, dann wirst du sterben, völlig sinnlos.«
Ich weiß, dachte Kara. Aber vielleicht lohnt es sich schon, wenn ich dadurch nicht in deine Gewalt gerate.
»Vielleicht werden außer dir noch sehr viele deiner Freunde sterben, Kara. Ich weiß, daß Elder noch lebt, und ich weiß, daß er bei euch ist und vermutlich versucht, euch zu einem Angriff auf uns zu überreden. Ich nehme es dir nicht übel, wenn du das versuchst. Aber ich könnte dir noch ein paar interessante Dinge über deinen Freund verraten. Möchtest du nicht wissen, wer er wirklich ist und was er hier sucht, bevor er all deine Freunde in einen Kampf ziehen läßt?«
Hör auf, dachte Kara verzweifelt. Ich will dir nicht glauben, aber ich muß es. Hör! Doch! Auf!
»Ich unterbreche jetzt die Verbindung«, sagte Thorn. »Vielleicht rede ich ja mit einer Toten. Falls nicht, gebe ich dir eine letzte Gelegenheit, dein Schweigen aufzugeben und am Leben zu bleiben. Ich gebe dir mein Wort, daß dein Begleiter und du nicht als Gefangene behandelt werden, sondern als Gäste!«
Das Rauschen und Knistern in ihrem Helm erstarb, und Kara saß noch für endlose Sekunden schweigend da und starrte in die Dunkelheit.
»Was... was war los?« fragte Tyrell. »Hast du... irgend etwas gehört!«
»Nichts«, murmelte Kara. »Es ist nichts, Tyrell. Alles in Ordnung.« Dann drückte sie den Schalter auf ihrem Gürtel so fest, daß das Material hörbar knirschte.
»Thorn?« sagte sie laut. »Wir sind hier. Ihr könnt uns holen.«