Selbst Stunden später war es ihnen nicht einmal gelungen, sämtliche Brände zu löschen. Kara hatte alle, die sich nicht um die Verletzten kümmern mußten oder selbst verletzt waren, zum Löschen des Feuers eingesetzt, aber es war ein fast aussichtsloses Unterfangen. Was nicht den grünen Blitzen der Libellen zum Opfer gefallen war, würde bis zum Abend ein Raub der Flammen werden. Der Drachenhort hatte Jahrtausende überdauert, hatte Kriege, Belagerungen und Naturkatastrophen überstanden und ganze Völker aus dem Nichts auftauchen und wieder dorthin verschwinden sehen, doch jetzt war er verloren.
Bis zur Mittagsstunde hatten sie einunddreißig Tote gezählt, und sie gruben immer noch Leichen aus den Trümmern. Kara schätzte, daß es bis zum Abend fünfzig sein würden; wenn sie Glück hatten. Und kaum einer der Lebenden war ohne mehr oder weniger schwere Blessuren davongekommen.
Da sie zu Recht argwöhnte, daß Aires so lange Verwundete versorgen würde, bis sie zusammenbrach, geleitete sie die Magierin selbst in ihre Turmkammer, die in einem der wenigen Teile des Gebäudes lag, das nicht völlig zerstört worden war. Kara war im ersten Moment überrascht, als sie die Kammer betrat und Tess auf einem Stuhl am Tisch vorfand; in eine Decke gewickelt und zitternd. Dann fiel ihr ein, daß sie selbst befohlen hatte, die junge Kriegerin hinaufzubringen. Trotzdem klang in ihrer Stimme keine Spur von Mitgefühl. »Also?« fragte sie kalt. »Ich höre.«
Tess sah sie aus fiebrigen Augen an. »Ich... verstehe nicht...«
»Nein?« schnappte Kara. »Dann geht es dir wie mir. Ich verstehe auch so einiges nicht. Zum Beispiel, woher sie so genau wissen konnten, wie sie uns am härtesten treffen können.« Sie trat beinahe drohend auf Tess zu. »Sie wußten alles über uns und die Festung, Tess! Wie unsere Verteidigung aussieht, wo unsere Wachen stehen und in welchen Gebäuden die Krieger schlafen! Selbst wie sie die Drachen ausschalten können!«
»Ich habe nichts gesagt, wenn du das meinst!« verteidigte sich Tess. »Sie haben mich nicht einmal verhört!«
»Sie...«
»Natürlich haben sie das«, sagte eine Stimme hinter Kara, und sie brach mitten im Satz ab und drehte sich zornig zu Elder herum, der auf einem unbequemen Hocker hinter der Tür saß. Storm, der einen Verband um den linken Arm und einen zweiten über der Stirn trug, stand mit grimmigem Gesichtsausdruck neben ihm und stieß ihn grob auf den Stuhl zurück, als er sich erheben wollte. »Sie haben sie verhört«, sagte Elder noch einmal. »Sie haben jedes bißchen Wissen aus ihrem Gehirn gesaugt, nur erinnert sie sich nicht mehr daran. Es ist nicht ihre Schuld.«
Kara funkelte ihn an. »Elder – wie schön, daß du uns auch wieder einmal die Ehre gibst. Wo bist du gewesen?«
Elder ignorierte die Frage und machte eine Kopfbewegung auf Tess. »Das arme Kind sitzt seit Stunden hier und hat hohes Fieber«, sagte er. »Aber sie kann nichts dafür. Glaub mir auch du hättest ihnen jede Frage beantwortet, die sie dir gestellt hätten.«
»Ich habe ihn in den Drachenhöhlen gefunden«, sagte Storm zornig. »Wo er in Sicherheit war, dieser verdammte Feigling!«
»Feigling?« Elder lachte kurz. »Hältst du es für tapfer, hier oben zu bleiben und als Zielscheibe zu dienen?«
»Wenigstens sind wir nicht weggelaufen und haben unsere Kameraden im Stich gelassen!« entgegnete Kara.
»Ich habe euch oft genug gewarnt!« sagte Elder. »Ihr wolltet mir nicht glauben, wie? Habt ihr gedacht, ich lüge, oder habt ihr euch wirklich für so unbesiegbar gehalten? Weißt du eigentlich, daß ihr noch Glück gehabt habt? Ihr könntet jetzt alle tot sein, wenn sie es ernst gemeint hätten!«
»Wir sind verraten worden!« sagte Storm mit einem fast haßerfüllten Blick auf Tess. »Hätten wir unsere Drachen in die Luft be...«
»Hätten! Wenn! Wäre!« unterbrach ihn Elder. »So ist noch nie ein Krieg gewonnen worden, Storm. Der Trick ist, daß ihr nicht dazu gekommen seid!«
»Noch einmal wird uns das bestimmt nicht passieren«, grollte Storm. »Sicher nicht!« antwortete Elder. »Das nächste Mal denken sie sich etwas anderes aus, um euch zu überraschen. PACK hat noch nie einen Krieg verloren.«
»Sie kämpfen nicht fair!« sagte Storm.
»Na und?« Elder deutete auf Kara. »Um einmal einen der Lieblingssätze eurer Herrin zu zitieren: Wer hat je behauptet, daß ein Kampf immer fair sein muß?«
»Das reicht!« sagte Kara, aber Elder unterbrach sie sofort wieder. »Nein, verdammt, das reicht nicht! Ist das, was heute passiert ist, denn immer noch nicht genug? Wie viele Helikopter habt ihr in Schelfheim zerstört? Fünf? Und jetzt sieh dir eure Festung an und deine toten Kameraden! Das ist die Quittung, die ihr dafür bekommen habt! Und dabei haben sie es noch nicht einmal wirklich ernst gemeint. Sie sind nur einmal kurz gekommen und haben ›Hallo‹ gesagt, glaub mir!«
»Ich würde es dir glauben, hätten sie die Burg einfach nur in Brand geschossen«, erwiderte Kara. »Aber sie waren hier. Sie sind in dieses Zimmer und ein paar andere eingedrungen, und sie haben mindestens ein Dutzend Männer dabei verloren. So etwas tut man nicht ohne Grund.« Sie sah Elder bei diesen Worten scharf an. Aires und sie waren übereingekommen, niemandem von der unheimlichen Wiederkehr vermeintlich toter Krieger zu erzählen.
»Vielleicht haben sie den Piloten gesucht, der Tess hergebracht hat«, sagte Elder.
»Vielleicht auch dich.«
»Kaum«, antwortete Elder achselzuckend. »Wenn sie auch nur den Verdacht gehabt hätten, daß ich noch lebe, dann stünde hier jetzt kein Stein mehr auf dem anderen.«
Kara starrte ihn zornig an, aber zumindest in diesem einen Punkt glaubte sie ihm. Noch immer vor Zorn bebend drehte sie sich zu Hrhon herum. Der Waga war ihr trotz seiner schweren Verletzung bisher kaum von der Seite gewichen. »Hast du getan, was ich dir befohlen habe, und nach dem toten Krieger gesehen?« schnappte sie. »Ist er noch da?«
Hrhon nickte, aber sie glaubte ein Zögern in dieser Bewegung zu erkennen.
»Jha«, sagte er. »Ssseihn Khörpher ssshon.«
»Was soll das heißen – sein Körper?« fauchte Kara. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Elder fast unmerklich zusammenfuhr. »Ist er noch da oder nicht?«
Hrhon druckste einen Moment herum. »Ssshi hahbhen ihn nhissst mhitghenhommhen. Abher ssshie hahbhen ihm dhen Khopfh abghessshnhitthen.«
»Den Kopf abgeschnitten?« Geschlagene zehn Sekunden starrte Kara den Waga fassungslos an – und dann fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen.
Auch Aires vergaß schlagartig ihre Müdigkeit, sprang auf und eilte zu einer umgestürzten Truhe neben ihrem Bett. Mit fliegenden Fingern durchwühlte sie ihren Inhalt, dann richtete sie sich auf und schüttelte den Kopf. »Es ist nicht mehr da. Das war es, was sie gesucht haben.«
»Wovon redet ihr eigentlich?« fragte Elder. Er wirkte mit einemmal sehr nervös.
Kara starrte ihn an, und plötzlich gab sie Hrhon einen Wink. Der Waga packte Elder, ehe der überhaupt richtig begriff, was mit ihm geschah, und drehte ihm die Arme auf den Rücken. Elder keuchte vor Schmerz, begann um sich zu treten und stellte seinen Widerstand hastig ein, als Hrhon seinen Griff verstärkte. »Du weißt ganz genau, wovon wir reden«, sagte Kara. Ihre Stimme zitterte vor kaum noch unterdrücktem Zorn. »Wir reden von dem Ersatzteil, das der tote Mann in Schelfheim im Kopf hatte. Die Prothese, erinnerst du dich? Nicht viel mehr als eine Krücke, nicht wahr? Ich halte jede Wette, daß dein toter Kamerad auch eine solche Prothese im Schädel getragen hat. Dummerweise war jemand so nachlässig, seinen Kopf zu verlegen, so daß wir nicht mehr nachsehen können.«
»Ich... verstehe nicht, was du... was du meinst«, stammelte Elder. In seinen Augen flackerte Angst.
»So?« fragte Kara. »Wirklich nicht? Ich bin sicher, daß wir wahrscheinlich in deinem Kopf auch so eine Krücke finden werden, wenn wir ihn aufschneiden, um nachzusehen.« Sie zog ihr Messer, als wollte sie ihre Worte augenblicklich in die Tat umsetzen, und aus der Angst in Elders Blick wurde Panik. »Was... was hast du vor?« stammelte er.
»Dir ein paar Fragen stellen«, antwortete Kara. »Auch wir haben so unsere Methoden, Antworten zu bekommen. Aber an unser Verhör wirst du dich erinnern, das verspreche ich dir!«
Sie hob das Messer, steckte es dann plötzlich wieder weg und streckte fordernd die Hand in Aires Richtung aus. »Deinen Laser, Aires, Ich glaube, jetzt brauche ich ihn doch.«
»Kara, nein!« keuchte Elder. »Du weißt nicht, was...«
Kara trat dicht an ihn heran, drückte seinen Kopf zur Seite und setzte den Lauf der kleinen Laserpistole an die linke Seite seines Hinterkopfes. »Genau hier, nicht?« fragte sie. »Ich möchte dir ungern unnötige Schmerzen zufügen, indem ich danebenschieße! «
»Kara, bitte!« stöhnte Elder. »Laß es mich erklären!«
»Was?« fragte Kara. »Daß du uns die ganze Zeit über belogen hast? Daß ihr gar keine Menschen seid? Daß ihr nur mit uns gespielt habt?« Sie zitterte. Für Sekunden mußte sie all ihre Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht wirklich abzudrücken. »Was bist du, Elder?« fragte sie. »Nur ein Haufen grauer Schlamm unter Glas, der nach Belieben in einen neuen Körper schlüpft?«
»Nein«, stöhnte Elder. »Bitte, Kara – ich erkläre es dir. Hör mir nur eine Minute zu, ich flehe dich an!«
Eine Hand legte sich beruhigend auf ihren Arm. »Laß ihn reden«, sagte Aires.
Kara zitterte. Ihr war fast schlecht vor Zorn. Aber dann nahm sie ganz langsam die Waffe herunter und trat einen Schritt zurück. Sie widersetzte sich nicht, als Aires ihr den Laser aus der Hand nahm.
»Rede!« befahl sie.
Elder hob stöhnend den Kopf. »Diese dämliche Schildkröte kann mich jetzt loslassen«, sagte er.
Die Schildkröte knurrte und machte eine kaum sichtbare Bewegung; Kara konnte hören, wie Elders Handgelenk brach. Elders Gesicht wurde grau.
»O Verzeihung«, sagte Kara kalt. »Hrhon ist manchmal auch zu ungeschickt. Du solltest das bei deinen Antworten bedenken, sonst reißt er dir ganz aus Versehen noch einen Arm aus. Allerdings nehme ich nicht an, daß dir das allzuviel ausmacht. Vermutlich wirst du ihn dir einfach nachwachsen lassen.«
Elder stöhnte vor Schmerz. Sein Gesicht war schweißbedeckt. »Es tut mir leid«, sagte er. »Es war meine Schuld. Ich... hätte es euch sagen sollen, ich weiß.«
»Dann tu es doch jetzt«, schlug Kara vor. »Wir sind geduldige Zuhörer.«
»Ich habe dich nicht belogen«, sagte Elder. »Es stimmt, was ich dir über unser Volk erzählt habe. Wir werden sehr alt. Aber wir sind nicht unverwundbar. Deshalb schützen wir unser Gehirn. Verdammt, ich habe die Wahrheit gesagt! Es ist eine Art Ersatzteil! Wie ein Helm, wenn du willst – nur daß wir ihn in unseren Köpfen tragen statt darüber!«
»Ich glaube dir nicht«, sagte Kara. »Der Mann, den ich heute morgen sah, ist derselbe, den ich schon zweimal getötet habe. Getötet, Elder – nicht verletzt!«
»So leicht ist es nicht, einen Menschen umzubringen«, antwortete Elder. »Organe sind austauschbar. Selbst ein ganzer Körper.«
»Soll das heißen, ihr... könnt euch neue Körper besorgen, wenn die alten zerstört werden?« fragte Aires fassungslos. Elder nickte. »Ja. Die Technik ist schon seit Jahrtausenden bekannt. Du brauchst nur eine einzige Zelle, um einen vollkommen neuen Körper daraus zu clonen. Eine perfekte Kopie des alten.«
»Dann... dann seid ihr wirklich unsterblich«, hauchte Kara. »Ihr werdet einfach wiedergeboren, wenn der alte Körper verbraucht ist!«
»Ganz so einfach ist es leider nicht«, antwortete Elder. »Ich kann mich hundertmal kopieren lassen, aber es wären nur... leere Hüllen. Fleisch, das atmet und blutet, aber nicht mehr. Es ist uns nie gelungen, Leben zu erschaffen. Wir können auch das Gehirn nachzüchten, und es funktioniert so gut oder schlecht wie das, nach dessen Vorbild es erschaffen wurde.«
Aires starrte ihn immer ungläubiger an. Dann gab sie Hrhon einen Wink. »Laß ihn los.«
Der Waga gehorchte. Elder stolperte einen Schritt von ihm fort, krümmte sich und preßte stöhnend die gebrochene Hand gegen den Leib.
»Dann ist das, was Kara gefunden hat...«
»... das, was wir nicht kopieren können«, führte Elder den Satz stöhnend zu Ende. »Organisch schon, aber das hat keinen Sinn. Es sind die Erinnerungen, das, was Charakter und das Wesen eines Menschen ausmacht. Der Sitz des Bewußtseins, wenn du so willst.«
»Das heißt, wenn euer Körper getötet wird, nehmt ihr einfach dieses... Ding aus seinem Kopf und pflanzt es in einen neuen«, murmelte Kara. Sie empfand ein nicht mit Worten zu beschreibendes Entsetzen.
»Ganz so einfach ist es nicht«, antwortete Elder. »Aber im Prinzip hast du recht. Die Kapsel enthält eine winzige Überlebenseinrichtung. Und einen Sender, der automatisch ein Notsignal ausstrahlt, wenn sie aktiviert wird.«
»Deshalb sind sie so furchtlose Kämpfer«, sagte Storm düster. »Sie sterben ja nicht wirklich. Jedenfalls nicht für lange.«
»Ja«, fügte Aires hinzu. »Und das ist auch der Grund, aus dem sie unsere Drachen fürchten, nicht wahr?« Sie sah Elder auffordernd an, aber er schwieg, und so fuhr sie nach ein paar Augenblicken fort. »Ich nehme an, diese Kapseln sind aus einem sehr widerstandsfähigen Material gefertigt. Aber sie sind nicht unzerstörbar. Das Feuer eines Drachen kann sie vernichten. Und dann sind sie wirklich tot. Ist es nicht so?«
Elder nickte widerstrebend. Er sagte aber nichts, und nach einem Moment wich er auch Aires’ Blick aus.
»Warum hast du uns nichts davon erzählt?« fragte Kara. »Du hast gewußt, was ich aus Schelfheim mitgebracht habe. Du hast es gesehen, als es vor Aires auf dem Tisch lag! Du hast es in der Hand gehabt! Warum hast du geschwiegen? Du mußt gewußt haben, daß sie kommen würden. Das alles hier ist deine Schuld, Elder, ist dir das klar?«
»Ich weiß«, flüsterte Elder. »Es... es tut mir aufrichtig leid, glaub mir. Ich habe einen Fehler gemacht.«
»Es tut dir leid?« Kara hob zornig die Hand und ließ sie wieder sinken. »Dort draußen liegen dreißig Tote, Elder! Weißt du überhaupt, was dieses Wort bedeutet – ich meine wirklich bedeutet? Sie sind tot, Elder! Niemand wird kommen und ihre Gehirne in neue Körper stopfen! Sie sind tot, und sie werden es bleiben! «
»Es tut mir leid«, sagte Elder zum wiederholten Mal. »Was soll ich tun, außer meinen Fehler einzugestehen? Würde es euch zufriedenstellen, wenn ich Selbstmord beginge?«
Kara wollte auffahren – aber in diesem Moment fiel ihr etwas ein, woran sie bisher nicht einmal gedacht hatten. »O mein Gott«, flüsterte sie entsetzt. »Wißt ihr, was das noch bedeutet?« Aires und Storm sahen sie erschrocken an, und Kara fuhr mit bebender Stimme fort. »Es bedeutet, daß sie auch Schelfheim noch einmal angreifen werden!«