49

Sie kam auch in dieser Nacht nicht dazu, ihrem Körper die Stunden Schlaf zurückzugeben, die sie ihm in den letzten Wochen vorenthalten hatte. Hrhon hatte vor ihrer Tür Posten bezogen und versprochen, niemanden hereinzulassen, ganz gleich, wie dringend es war, aber Kara erwachte zwei Stunden vor Sonnenaufgang durch einen Laut, der sie selbst in den Tiefen ihres Schlafes aufschreckte und schlagartig erwachen ließ: dem Geräusch eines Drachenschwarmes, der sich der Festung näherte.

Mit einem Satz war sie aus dem Bett und am Fenster. Draußen herrschte fast vollkommene Dunkelheit, in der die wenigen brennenden Feuer verloren und kalt wirkten. Der Himmel hatte sich bewölkt und hing so niedrig über den Ruinen des Hortes, daß man fast meinte, ihn anfassen zu können. Sie hörte noch immer das gewaltige dunkle Flügelschlagen, das sie geweckt hatte, aber es vergingen einige Augenblicke, bis sie die Drachen sah: drei, fünf, acht – schließlich ein Dutzend dreieckiger schwarzer Schatten, die von Westen nach Osten über die Festung zogen und zwischen den scharfkantigen Felsen zur Landung ansetzten. Offenbar versuchten die Reiter, ihre erschöpften Tiere unmittelbar zu den Höhlen zu bringen, um ihnen die Anstrengung eines neuerlichen Starts zu ersparen.

Das waren... die Krieger aus Schelfheim! dachte Kara verblüfft. Das Dutzend Drachen, das sie zum Schutz der Stadt zurückgelassen hatte!

Eine Sekunde lang blickte sie das Dutzend riesiger Schatten noch an, das beinahe lautlos über die Zinnen der Burg dahinzog, dann fuhr sie herum, lief zum Bett zurück und schlüpfte rasch in ihre Kleider, ehe sie das Zimmer verließ. Sie war nicht die einzige, die die Rückkehr der Drachen bemerkt hatte. Eine ganze Anzahl von Kriegern schloß sich ihr an, als sie das Haus verließ und sich auf den Weg zu den Drachenhöhlen machte, unter ihnen auch Cord und Elder, dessen blasses Gesicht verriet, daß auch er abrupt aus dem tiefsten Schlaf gerissen worden war.

Da der direkte Zugang zu den Höhlen bei Thorns Angriff verschüttet worden war, mußten sie einen zeitraubenden Umweg in Kauf nehmen, so daß ihnen die ersten der zurückgekehrten Drachenreiter bereits entgegenkamen, als sie die Treppe erreichten. Die Männer wirkten erschöpft und zitterten vor Kälte, trotz der dicken Kleider und Mäntel, in die sie sich gehüllt hatten. Die Nächte waren zu dieser Jahreszeit ohnehin nicht mehr warm; auf den Rücken der Drachen aber mußte es eisig sein.

Kara wandte sich ohne die Formalität einer Begrüßung an den ersten Krieger, der ihr auf der Treppe entgegenkam. »Wo ist Ian?« frage sie. Ian war ein älterer Krieger, nicht ganz so alt wie Cord, aber erfahren genug, daß sie ihm ohne zu zögern das Kommando über das Geschwader übergeben hatte. Außerdem war er einer der ganz wenigen Menschen, die Markor außer Kara selbst auf seinem Rücken duldete, und sie hatte ihn gebeten, den Drachen zu reiten, der in Schelfheim zurückgeblieben war.

Noch ehe der Mann antworten konnte, erblickte sie Ians verschwitztes Gesicht hinter ihm auf der Treppe. Im Fellbesatz seiner Jacke hatte sich glitzerndes Eis gebildet, und er trug ein flaches, metallenes Kästchen in der Rechten. Als er Kara erblickte, stahl sich ein Ausdruck von Sorge auf seine Züge.

»Ian! Was ist geschehen? Wieso kommt ihr mitten in der Nacht zurück?« Zum ersten Mal kam ihr die Idee, daß die Männer vielleicht angegriffen worden waren. Hastig ließ sie ihren Blick noch einmal über die pelzvermummten Wesen gleiten, die vor Kälte dampften, entdeckte aber nichts, was auf einen Kampf hingewiesen hätte.

»Sie haben uns rausgeworfen«, sagte Ian.

»Wie bitte?«

»Es gab einen Zwischenfall«, fuhr Ian fort. »Aber es war nicht unsere Schuld. Trotzdem kam dieser Karoll eine Stunde später und forderte uns auf zu verschwinden.« Er reichte Kara das schmale Kästchen. »Hier – das soll ich dir geben.«

Kara griff danach und hätte es beinahe fallengelassen, denn es war unerwartet schwer. Einen Moment lang betrachtete sie es unschlüssig, reichte es dann an Cord weiter und wandte sich wieder an Ian. »Das wirst du uns genauer erklären müssen«, sagte sie. »Aber nicht hier. Deine Männer sollen sich ausruhen. Wir gehen zu Aires und besprechen, was genau passiert ist.« Sie wollte sich umdrehen, wandte sich aber dann noch einmal an Ian: »Wie geht es Markor?«

»Gut«, antwortete Ian in einem Ton mühsam unterdrückter Wut, den Kara nicht verstand.

»Was ist los mit ihm?« fragte sie noch einmal.

»Nichts«, beharrte Ian. »Außer, daß er der Grund für die ganze Aufregung war.«

»Wieso?« Kara machte eine abwehrende Geste, als Ian antworten wollte. »Komm – gehen wir zurück, bevor du alles zweimal erzählen mußt.«

Sie überquerten den Hof in umgekehrter Richtung, wobei sich die Männer auf die wenigen noch bewohnbaren Gebäude verteilten, jeder von einer ganzen Meute Neugieriger belagert, die ihn mit Fragen bestürmten. Wahrscheinlich, dachte Kara spöttisch, würde sie die letzte in dieser Burg sein, die erfuhr, was sich in Schelfheim zugetragen hatte. Es fiel ihr schwer, ihre Neugier noch zu bezähmen, bis sie Aires’ Turmkammer erreichten; um so mehr als die Magierin noch schlief und sie sich einige Minuten gedulden mußten. Kara nutzte die Zeit, sich eingehender mit Karolls ›Geschenk‹ zu beschäftigen – ohne daß sie indes hinterher sehr viel klüger gewesen wäre. Es war ein flacher Kasten aus Metall, an dessen Schmalseite sich ein Tragegriff befand.

Elder sah ihr eine Weile wortlos dabei zu, wie sie den Kasten betrachtete, dann trat er ebenso wortlos neben sie und berührte ihn an einer bestimmten Stelle, und das Kästchen klappte lautlos auseinander wie ein zusammengefaltetes Blatt Papier. In seinem Inneren kam eine mattgraue Glasscheibe und eine Anzahl winziger, mit fremdartigen Zeichen beschrifteter Tasten zum Vorschein. Das Gerät ähnelte dem Apparat, den sie in der Höhle unter der Stadt gefunden hatten, nur daß es kleiner war. »Ein Kommunikator«, sagte Elder. »Man benutzt sie, um über große Entfernungen miteinander zu reden.«

»Wie ein Funkgerätl« vermutete Cord.

»Ja«, bestätigte Elder. »Nur komfortabler. Man kann seinen Gesprächspartner sehen.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Euer Freund Gendik scheint keine Zeit zu verlieren. Das Ding da kommt von Thorn.«

Die Neuigkeit überraschte Kara überhaupt nicht. Sie hatte gewußt, daß es so kommen würde.

»Hier schaltet man es ein«, sagte Elder mit einer Geste auf eine besonders auffällig gehaltene Taste unmittelbar unter dem gläsernen Rechteck. »Aber das würde ich nicht tun«, fügte er hinzu, als Kara die Hand nach der Taste ausstrecken wollte. »Jedenfalls nicht, solange ich noch im Zimmer bin. So deutlich, wie wir sie sehen, sehen sie auch uns.« Plötzlich lächelte er. »Weißt du was? Das Ding hat mir noch gefehlt. Ich hätte es gern, sobald ihr es nicht mehr braucht.«

»Warten wir ab, weshalb Karoll es uns geschickt hat«, sagte Cord – ehe Kara ihrem allerersten Impuls nachgeben und Elder dieses Stück verhaßter Technik in die Hand drücken konnte. »Dieser Thorn scheint ein großzügiger Mann zu sein«, sagte Cord. »Wenn er solche Dinge verschenkt.«

»Großzügig!« Elder lachte. »Nun ja – wenn du es großzügig nennst, ein paar Helikopterladungen voll technischem Firlefanz gegen eine ganze Welt einzutauschen...«

Aires kam, und sie vergaßen für einen Moment den Kommunikator und hörten Ian zu, der ihnen berichtete, was in den letzten fünf Tagen in Schelfheim geschehen war. Das meiste wußten sie allerdings bereits, denn Sakara hatte schon nach einem Tag einen neuen Partner in der Stadt gefunden, der zwar noch einen langen Weg vor sich hatte, um ein vollwertiger Seher zu werden, aber doch zumindest auf gezielte Fragen antworten konnte. So wußte Kara, daß Thorn Wort gehalten und den Angriff der Ungeheuer aus dem Schlund zurückgeschlagen hatte. Neu war ihnen allen, daß er dazu nicht wie versprochen eine Stunde, sondern fast die ganze Nacht gebraucht und mindestens ein halbes Dutzend Maschinen verloren hatte.

»Bist du sicher?« fragte Elder.

»Völlig«, antwortete Ian. »Ich habe nicht gesehen, was es war, aber etwas hat sie gepackt und in die Tiefe gezerrt. Eine ist in die Stadt gestürzt und explodiert, die anderen in den Schlund.«

Interessant, dachte Kara. Sie mußte an ihr letztes Gespräch mit Donay denken. Ihn würde bestimmt brennend interessieren, was Ian und die anderen beobachtet hatten. Elder wirkte eher unangenehm überrascht als interessiert. Vielleicht, dachte Kara, wäre es ihm gar nicht so recht, wenn sie wirklich die Schwachpunkte der Libellenmaschinen entdeckten. Sie nahm sich vor, Donay in spätestens einer Stunde zu wecken und zu den zurückgekehrten Kriegern zu bringen, damit er mit ihnen sprach.

Wie lan weiter berichtete, hatte es bis in den nächsten Tag hinein gedauert, ehe die letzten Feuer gelöscht worden waren. Fast ein Drittel der Stadt war niedergebrannt, von den angreifenden Ungeheuern aus dem Schlund oder auch von Thorns Maschinen zerstört worden, die sich zum Schluß nicht mehr anders zu helfen gewußt hatten, als mit ihren Schallwaffen einen fünfzig Meter breiten Korridor der Zerstörung quer durch die Stadt zu ziehen, wobei sie rücksichtslos auf Freund und Feind schossen. Allein bei dieser Aktion, so schätzte Ian, seien Hunderte von Schelfheimern ums Leben gekommen.

»Und du konntest sie nicht daran hindern?« fragte Cord scharf.

Ian schüttelte den Kopf, wobei er gleichzeitig betroffen wie zornig aussah. »Ich habe es versucht«, sagte er. »Beinahe hätten sie angefangen, auf uns zu schießen.«

»Wahrscheinlich haben sie ohnehin nur auf einen Vorwand gewartet«, fügte Elder hinzu.

Für einen Moment kehrte wieder betroffenes Schweigen ein, bis Aires dem Drachenreiter mit einem Handzeichen zu verstehen gab, daß er weitererzählen sollte. Einer der ersten Befehle Gendiks nach der Schlacht war gewesen, sämtliche Zugänge zu den unterirdischen Teilen der Stadt zu versiegeln. Trotzdem kam es immer wieder zu Überfällen der Monster, die sich dort zurückgezogen hatten. Natürlich hatten auch Ian und seine Kameraden versucht, sich an den Aufräumungsarbeiten zu beteiligen, sie waren aber von Karoll in Gendiks Auftrag daran gehindert worden; vorgeblich aus dem Grund, daß sie schon mehr als genug für die Stadt getan und sich einige Tage der Ruhe verdient hatten. Aber keiner der Anwesenden zweifelte daran, den wirklichen Grund dafür zu kennen: Gendik wollte die ungeliebten Drachen samt ihren Reiter so schnell wie möglich wieder loswerden, kaum daß sie ihre Aufgabe erfüllt hatten. Thorns Männer waren noch am gleichen Tag gekommen und hatten zwei, vielleicht drei Basen in der Stadt aufgeschlagen. Sie hatten sogar versucht, den Schelfheimern zu helfen. »Und was ist gestern abend passiert?« fragte Aires, nachdem Ian eine ganze Weile und sehr ausführlich erzählt hatte, was sich in Schelfheim getan hatte.

»Nicht gestern abend«, antwortete er mit einem Kopfschütteln. »Es begann schon am Tag nach der Schlacht. Hat Sakaras neuer Partner euch nichts berichtet?«

»Das konnte er nicht«, antwortete Kara. »Er ist noch nicht so weit. Wir sind froh, daß er uns erzählen konnte, daß die Schlacht vorüber war.«

»Und gewonnen«, fügte Aires hinzu.

Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, stimmte Ian zumindest dem letzten Wort nicht unbedingt zu. »Sie haben uns dieses alte Kastell an der Klippe zugewiesen«, berichtete er. »Angeblich, damit die Drachen die Bevölkerung der Stadt nicht zu sehr in Unruhe versetzten. Aber ich bin sicher, in Wirklichkeit wollten sie uns möglichst weit abschieben.«

»Was ihnen offensichtlich auch gelungen ist«, sagte Cord düster.

»Ja«, gestand Ian. »Ich habe versucht, zu Fuß in die Stadt zu gehen, aber sie haben mich nicht gelassen.«

»Was soll das heißen – nicht gelassen?« fragte Aires.

»Die Brücke war verschlossen«, antwortete Ian. »Und die Wächter behaupteten, niemanden hereinlassen zu dürfen auch uns nicht.«

»Und das hast du dir gefallen lassen?« fragte Kara.

»Was hätte ich tun sollen?« gab Ian zurück. »Mir gewaltsam Zutritt verschaffen? Sie haben zwei oder drei Stationen in der Stadt errichtet«, fuhr er fort. »Ich konnte nicht nahe genug heran, um Einzelheiten zu erkennen, aber immerhin konnte ich sehen, daß sie offensichtlich streng abgeschirmt sind. Auf der anderen Seite helfen sie den Leuten, wo sie nur können. Ich werde nicht schlau aus ihrem Verhalten.«

»Ich schon«, sagte Elder.

Aires sah ihn fragend an, und er antwortete mit den gleichen Worten, die auch Thorn vor fünf Tagen an Bord der Drohne benutzt hatte: »Es ist billiger, sich einen Gegner zum Verbündeten zu machen, als ihn zu besiegen. Meistens jedenfalls.«

»Du sagtest, Markor wäre schuld daran, daß sie euch aus der Stadt geworfen haben?« fragte Kara.

Ian aber schüttelte den Kopf. »Sie haben es provoziert«, antwortete er. »Du weißt, wie die Drachen auf Hornköpfe reagieren.«

»Sie haben einen Hornkopf in ihre Nähe gelassen?« fragte Cord in einem Ton völliger Verblüffung.

»Einen?« Ian lachte. »Dieser wahnsinnige Gendik hat ein ganzes Bataillon Termitenkrieger keine fünfzig Meter von der Festung entfernt stationiert. Ich habe dagegen protestiert, aber er ließ mir ausrichten, daß es zu unserem eigenen Schutz geschehe.«

»Schutz? Vor wem?« fragte Kara.

»Das hat er nicht gesagt«, antwortete Ian mit einem schiefen Grinsen. »Auf jeden Fall kam es, wie es kommen mußte: Die Drachen witterten die Hornköpfe und wurden immer unruhiger. Eine Weile gelang es uns, sie im Zaum zu halten, aber du weißt, wie Markor ist.«

Kara seufzte. Und ob sie das wußte! Selbst sie hatte sich frühzeitig angewöhnt, einen großen Bogen um den Drachen zu schlagen, wenn er schlechter Laune war.

»Gestern abend riß er sich los und griff die Quartiere der Hornköpfe an. Wir haben versucht, ihn zu beruhigen, aber es war unmöglich. Von Karolls Schutztruppe ist nicht viel übriggeblieben.«

Kara sah, wie schwer es Aires fiel, ein schadenfrohes Lächeln zu unterdrücken, und auch in Cords Augen glitzerte es verräterisch. Aber die beiden wußten so gut wie sie, wie teuer dieses flüchtige Gefühl von Schadenfreude bezahlt worden war.

»Nach kaum einer Stunde kamen Karoll und ein Dutzend seiner gelben Lackaffen zu uns«, fuhr Ian fort, »und baten uns zu gehen. Die Bevölkerung würde nervös, und wenn sich der Zwischenfall in der Stadt herumspräche, dann könnte er nicht mehr für unsere Sicherheit garantieren, und außerdem hätten wir mehr als genug für Schelfheim getan und uns eine Ruhepause verdient...« Er zog eine Grimasse. »Er hat noch mehr gesagt und mit schönen, wohlklingenden Worten – aber es lief darauf hinaus, daß er uns einen Tritt verpaßte. Also sind wir zurückgekommen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Kommunikator, der aufgeklappt vor Kara auf dem Tisch lag. »Das da sollte ich dir persönlich übergeben. Er sagte, es enthielte eine Botschaft für dich.«

»Eine Botschaft?« Kara sah verwirrt auf das fremdartige Gerät herab. Sie hatte bisher ganz selbstverständlich angenommen, daß Karoll ihr dieses Gerät hatte übergeben lassen, um selbst mit ihr zu reden.

»Man kann eine Nachricht darauf sprechen«, sagte Elder. Er stand auf. »Trotzdem ist es besser, wenn ich aus dem Zimmer gehen, sobald du dieses Ding einschaltest. Ich traue Thorn nicht.« Er schob seinen Stuhl zurück, ging zur Tür und blieb noch einmal stehen. »Ruft mich, sobald ihr das Ding wieder ausgeschaltet habt.«

Kara war ein wenig verblüfft, daß er so schnell und widerspruchslos ging, aber er verließ das Zimmer, ehe sie ihn zurückhalten konnte, und so streckte sie nach einem letzten kurzen Zögern die Hand nach der Taste aus, die Elder ihr gezeigt hatte, und drückte sie. Auf der grauen Glasfläche in der oberen Hälfte des Gerätes bildete sich ein weißes Flimmern, aus dem sich nach einigen Sekunden farbig und dreidimensional Gendiks Gesicht herausschälte; Cord und Aires, die auf der anderen Seite des Tisches saßen, standen auf und traten hinter sie, während sich Ian nur neugierig auf seinem Stuhl vorbeugte, um ebenfalls einen Blick auf den Bildschirm werfen zu können. »Kara!« begann Gendik mit seinem gewohnten öligen Lächeln. »Ich hoffe, daß die Männer, die dir diese Botschaft überbringen, wohlbehalten im Drachenhort angelangt sind.«

Die Illusion war so perfekt, daß Kara automatisch dazu ansetzte, zu antworten, aber Gendiks Abbild auf dem Schirm sprach bereits weiter, ehe sie Gelegenheit dazu fand. »Ich bedauere es, auf diesem Wege in Kontakt mit dir treten zu müssen, vor allem, da ich weiß, wie wenig du von technischen Gerätschaften aller Art hältst. Aber du wirst verstehen, daß ich die Stadt im Moment unmöglich verlassen kann. Deshalb muß ich diesen Weg wählen, um dir und auch deinen Kriegern unseren Dank zu überbringen. Ohne eure tapfere Hilfe gäbe es Schelfheim jetzt vielleicht nicht mehr. Wir alle stehen dafür tief in der Schuld des Drachenhortes.«

»Gut, daß er es einsieht«, murmelte Cord. »Ich hätte Lust, hinzufliegen und ihm eine Rechnung zu präsentieren.«

Aires machte eine unwillige Handbewegung.

»Still!«

»Sicher hat dir Ian inzwischen erzählt, was hier geschehen ist«, fuhr Gendik fort. »Ich möchte nicht, daß du einen falschen Schluß aus den Ereignissen ziehst, deshalb versichere ich dir noch einmal, daß unsere Bitte an deine Krieger, Schelfheim zu verlassen, nichts mit Undankbarkeit zu tun hat oder gar der Tatsache, daß wir nun neue, mächtige Beschützer gefunden haben.«

»Beschützer?« Kara zog die linke Augenbraue hoch. »Als er das letzte Mal in meiner Gegenwart mit Thorn gesprochen hat, waren es noch Verbündete.« »Die Geschehnisse der letzten Tage«, fuhr Gendik fort, »haben gezeigt, wie gefährlich der Feind ist, gegen den sich Schelfheim verteidigen muß. Selbst deine Drachen hätten den Angriff nicht abschlagen können; du warst selbst mit an Bord des Schiffes der Fremden, Kara. Ich muß dir nicht erklären, daß ein Kampf gegen sie sinnlos wäre. In Abstimmung mit den anderen Mitgliedern des Rates habe ich also entschieden, Thorns Freundschaftsangebot anzunehmen und es seinen Männern zu erlauben, sich in Schelfheim und seiner Umgebung aufzuhalten. Im Gegenzug dazu hat mir Thorn versichert, jeden Angriff und jede Handlung, die uns und unserer Stadt zum Nachteil gereichen könnte, einzustellen. Und ich glaube, daß dieses Angebot ehrlich gemeint war. Wir werden deshalb in den nächsten Tagen einen Friedens- und Freundschaftsvertrag mit den Fremden von den Sternen unterzeichnen. Es tut mir leid, daß kein Vertreter des Drachenhortes dabeisein kann, aber ich weiß, was du und deine Brüder den Fremden gegenüber empfindet. Ich kann diese Gefühle verstehen, auch wenn ich sie für falsch halte.«

»Was soll das heißen?« fragte Cord verblüfft. »Kein Vertreter des Drachenhortes?«

»Deshalb halte ich es für besser, wenn die Drachen und ihre Reiter Schelfheims Nähe für eine Weile meiden«, fuhr Gendik fort. Kara mußte sich plötzlich beherrschen, um nicht die Faust zu ballen und in den Schirm zu schlagen. »Sobald sich die Situation entspannt hat und die schlimmsten Folgen der Katastrophe überwunden sind, werde ich Karoll zu euch schicken, damit er euch eingehend informiert. Bis dahin bitte ich dich einfach, mir zu glauben, daß sich an der alten Freundschaft zwischen Schelfheim und dem Drachenhort nichts geändert hat.« Er legte eine kurze Pause ein, in der sich der Blick seiner elektronisch simulierten Augen auf dem Schirm so tief in den Karas zu bohren schien, daß es ihr immer schwerer fiel zu glauben, daß dies nur eine Aufzeichnung sein sollte. Schließlich fuhr er fort. »Mir ist zu Ohren gekommen, daß auch der Drachenhort angegriffen und schwer getroffen worden ist. Aus diesem Grund habe ich eine Karawane mit Hilfsgütern und Medikamenten zusammenstellen lassen, die euch binnen einer Woche erreichen wird.«

Die Aufzeichnung erlosch in einem weißen Flimmern, ohne daß Gendik es für nötig gehalten hatte, noch ein Wort des Abschieds hinzuzufügen.

Kara starrte den Schirm fast eine Minute lang fassungslos an. »Ich glaube das nicht«, flüsterte sie. »Das... das muß ein schlechter Scherz sein. Oder ein Trick Thorns, um Unfrieden zwischen uns zu säen. Gendik kann nicht so dumm sein, im Ernst zu glauben, daß wir das schlucken.«

»Das ist er auch nicht«, sagte Elders Stimme von der Tür her, Kara wandte sich im Stuhl um und sah, daß er das Zimmer wieder betreten hatte. Offensichtlich hatte er draußen gelauscht und nur abgewartet, bis die Aufzeichnung beendet und das Gerät wieder abgeschaltet war. Mit seinen nächsten Worten bestätigte er diesen Verdacht. »Ihr müßt mir nichts erklären ich habe alles gehört. Du hast recht, Kara – er ist nicht so dumm, euch diese Kröte hinzuwerfen und sich einzureden, ihr würdet sie herunterschlucken. Ich nehme an, Thorn hat ihm dieses Gespräch Wort für Wort diktiert und ihm keine andere Wahl gelassen.«

»Dann ist er ein Narr«, sagte Cord. »Glaubt er wirklich, wir würden es hinnehmen, daß ein Vertrag, der seit fünfundzwanzig Jahren Bestand hat, so einfach gebrochen wird?«

»Ja«, sagte Elder ruhig. »Das glaubt er. Und er hat recht damit. Was wollt ihr tun?« Er machte eine besänftigende Geste, als Cord auffahren wollte. »Sicher, ihr werdet ein paar Tage schnauben und toben und ein bißchen Porzellan zerschlagen aber irgendwann werdet ihr einsehen, daß ihr gar keine andere Wahl habt, als euch für den Fußtritt zu bedanken, mit dem sie euch fünfundzwanzig Jahre Treue entlohnt haben.«

»Ich hätte große Lust, ihm das Gegenteil zu beweisen«, grollte Cord. »Vielleicht findet er seine Entscheidung nicht mehr ganz so gut, wenn wir ein zweites Drittel seiner Stadt in Rauch und Asche verwandeln.«

»Aber genau darauf wartet Thorn doch nur«, sagte Elder. »Begreifst du nicht? Auch er ist kein Dummkopf. Er weiß genau, daß der Drachenhort und seine Bewohner immer eine Gefahrenquelle bleiben werden. Er wartet nur auf eine Gelegenheit, euch auszulöschen.«

»Die hat er gehabt«, sagte Aires.

»Und verpaßt«, bestätigte Elder. »Mit seinem Friedensengelbot Gendik gegenüber hat er sich selbst jedes Vorwandes beraubt, euch ein zweites Mal anzugreifen und diesmal endgültig zu erledigen. Aber wenn Gendik ihn offiziell um Hilfe bittet, weil er sich von euch bedroht fühlt, sieht die Sachlage ganz anders aus.«

»Das ist mir alles zu kompliziert«, maulte Cord. »Ich halte nichts von diesen Intrigenspielen.«

»Aber das ist genau PACKs Art, einen Krieg zu führen«, versetzte Elder. »Und bisher haben sie damit meistens Erfolg gehabt.«

»Meistens bedeutet nicht immer«, sagte Kara.

Elder sah sie an, und in seinem Blick lag eine tiefe Sorge. »Das wird er auch diesmal nicht«, versprach er. »Aber du solltest jetzt nichts übereilen. Warte einfach drei oder vier Tage ab und freu dich auf das Gesicht, das Gendik machen wird, wenn seine neuen Freunde plötzlich nicht mehr da sind.«

»Weißt du, Elder«, sagte Kara leise, »es kommt selten vor aber diesmal bin ich ganz Cords Meinung. Auch ich mag diese Intrigenspiele nicht.«

Elder antwortete nicht mehr darauf. Statt dessen trat er an den Tisch heran, streckte die Hand nach dem Kommunikator aus und warf Aires – nicht Kara – einen fragenden Blick zu. »Kann ich ihn haben?«

»Und wenn er versucht, mit uns Kontakt aufzunehmen?« fragte Aires.

Elder lachte. »Dann wird er feststellen, daß es nicht mehr funktioniert, und annehmen, Kara hätte es vor die Wand geworfen, sanftmütig, wie sie nun einmal ist.«

Aires blieb ernst. Nach einigen Momenten nickte sie, und Elder klappte das Gerät mit einer hastigen Bewegung wieder auf die Hälfte seiner Größe zusammen, klemmte es sich unter den Arm und wollte sich umwenden, blieb aber dann noch einmal stehen. »Da ist noch etwas«, sagte er. »Ich wollte es euch schon die ganze Zeit über fragen, bin aber irgendwie nie dazu gekommen.«

»Ja?« fragte Aires.

»Ich brauche einen geeigneten Landeplatz für das Schiff«, antwortete Elder. »Er muß groß sein, möglichst unbewohnt und ein Stück von der nächsten menschlichen Ansiedlung entfernt.«

Er lächelte flüchtig. »Es könnte sein, daß es zu ein paar Schäden kommt, wenn das Schiff landet. Natürlich muß er aber nahe genug liegen, damit ich ihn innerhalb einer oder zwei Stunden erreichen kann. Weißt du einen solchen Platz?«

»Ich werde darüber nachdenken«, antwortete Aires.

Elder entfernte sich mit einem dankbaren Nicken, und diesmal warteten sie nicht nur, bis er das Zimmer verlassen hatte;

Kara stand auf, ging zur Tür und warf einen sichernden Blick hinaus, ehe sie wieder zurückkam und sich an Ian wandte. »Du wirst müde sein«, sagte sie, »aber ich fürchte, ich muß dich bitten, noch eine halbe Stunde durchzuhalten.«

»Wieso?« fragte Aires.

Kara deutete auf den Drachenreiter. »Donay arbeitet an einer Möglichkeit, den Schutzschild der Libellen zu überwinden«, sagte sie. »Ich bin sicher, daß er sich brennend für das interessiert, was Ian ihm zu erzählen hat.«

»Kein Problem«, sagte Ian und stand auf. »Ich bin zwar müde, aber viel zu wütend, um jetzt zu schlafen. Laß uns gehen.«

Aires machte keinen Versuch, ihn oder Kara zurückzuhalten, als sie das Zimmer verließen, aber Kara bemerkte sehr wohl den Blick, den sie ihnen nachwarf. Er war sehr ernst und sehr besorgt.

Und voller Angst.

Donay war mehr als interessiert an dem, was Ian ihm zu erzählen hatte. Als Kara ihn weckte und er nach einem raschen Blick in den Himmel feststellte, wie lange er geschlafen hatte, schenkte er ihr einen langen, vorwurfsvollen Blick, enthielt sich aber jeden Kommentars, sondern hörte mit wachsender Erregung zu, was Ian von der Schlacht um Schelfheim erzählte. »Abgestürzt, sagst du?« unterbrach er ihn schließlich. »Wie?«

»Wie?« wiederholte Ian verständnislos. »Sie sind vom Himmel gefallen und explodiert. Zumindest die eine, die über der Stadt abgestürzt ist.«

»Das meine ich nicht«, sagte Donay unwillig. »Was ist passiert? Genau? Wurden sie von irgend etwas getroffen? Sind sie einfach heruntergefallen oder kamen sie ins Trudeln, oder sind vielleicht die Triebwerke ausgefallen?«

»Das weiß ich nicht«, verteidigte sich Ian. »Sie haben uns nicht einmal in ihre Nähe gelassen! Meine Männer und ich haben in der Stadt Jagd auf die Ungeheuer gemacht, die die Feuerbarriere durchbrochen hatten, während sie die Klippe angriffen. Wir hatten genug damit – «

»Donay hat es nicht so gemeint«, fiel ihm Kara ins Wort. Sie machte eine beruhigende Geste.

»Doch, ich habe es so gemeint!« polterte Donay los. Kara sah überrascht auf. Sie hatte Donay noch nie so zornig erlebt. »Begreifst du denn nicht, wie wichtig das ist? Wenn es dort draußen im Schlund irgend etwas gibt, gegen das sie nicht einmal ihr Schild schützt, dann müssen wir wissen, was es ist.«

»Es tut mir leid«, sagte Ian. »Ich konnte nichts tun. Ich war schon froh, daß sie nicht auch uns angegriffen haben. Hätte ich geahnt, wie wichtig es ist...«

»Soldaten«, knurrte Donay. »Im Grunde seid ihr alle gleich. Keiner von euch blickt weiter als über die Spitze seines eigenen Schwertes hinweg!«

»Das reicht!« sagte Kara scharf, als Ian nun seinerseits auffahren wallte. »Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können nichts mehr daran ändern.«

»O doch!« widersprach Donay.

»Wir können und wir werden.« Er stand auf und sah Ian herausfordernd an. »Was man nicht im Kopf hat, das hat man eben im Hintern. Ich hoffe, du hast gutes Sitzfleisch, Drachenreiter.«

»Wieso?« fragte Kara und Ian wie aus einem Mund.

»Weil er mich nach Schelfheim zurückfliegen wird, und zwar auf der Stelle«, antwortete Donay mit einer gleichzeitig anklagenden und fordernden Geste auf Ian.

»Was, zum Teufel, versprichst du dir davon?« fragte Kara. »Ich muß mir das Wrack dieser Libelle ansehen«, sagte Donay. »Vielleicht finde ich noch etwas.«

»Das ist unmöglich«, widersprach Ian. »Wir kämen nicht einmal in seine Nähe. Davon abgesehen, daß sie es wahrscheinlich längst weggeschafft haben, würden sie uns abfangen, ehe wir uns Schelfheim auch nur nähern.«

»Das ist noch etwas, was du nicht weißt«, sagte Kara hastig, als sich schon wieder Zorn auf Donays Zügen breitzumachen begann. »Gendik hat mir eine Botschaft zukommen lassen. Er hat es etwas vornehmer ausgedrückt, aber im Klartext lautet sie: Haut ab und kommt nie wieder!«

»Ist das wahr?« fragte Donay verstört. »Ich fürchte«, sagte Ian. »Du siehst also, wir können nicht zurück nach Schelfheim.«

Aber Donay wirkte keineswegs enttäuscht. »Dann müssen wir uns eben die anderen ansehen«, sagte er.

»Welche anderen?«

»Die, die in den Schlund gestürzt sind«, antwortete Donay. »Du hast selbst gesagt, die meisten wären über die Klippe gestürzt.«

»Was glaubst du denn, was davon übrig ist?« fragte Ian fassungslos. »Nachdem sie drei Meilen tief gefallen sind! Außerdem wirst du sie in dem Dschungel dort unten niemals finden.«

»Das werden wir sehen«, antwortete Donay knapp. »Können wir gleich aufbrechen?«

»Niemand hat gesagt, daß wir das überhaupt tun«, sagte Kara ruhig. »Ich werde mit Aires und Cord darüber reden. Aber falls wir aufbrechen, dann erst am späten Nachmittag. Die Tiere brauchen eine Pause – und ihre Reiter auch. Nicht jeder ist in der Lage, so ungestraft Raubbau mit seiner Gesundheit zu treiben wie du.«

»Aber dann verlieren wir einen ganzen Tag!« jammerte Donay.

»Wir werden sehr viel mehr verlieren als ein paar Stunden, wenn wir uns der Stadt bei Tageslicht nähern und sie uns sehen«, sagte Ian.

Donay schnaubte zornig. »Und du denkst, sie wären auf Tageslicht angewiesen, um uns zu sehen?«

»Sie vielleicht nicht«, antwortete Ian. »Aber zwei Millionen neugieriger Augenpaare, deren idiotische Besitzer sich fast dabei überschlagen, ihren neuen Freunden zu beweisen, was für hervorragende Verbündete sie sind.«

»Ist es tatsächlich so schlimm?« fragte Donay betroffen. »Ich weiß es nicht«, gestand Ian. »Aber die Stimmung in der Stadt ist ziemlich gereizt, was uns Drachenkämpfer angeht.«

»Ich werde mit Aires reden«, versprach Kara, während sie sich erhob und zur Tür umwandte.

»Mit Aires?« Donay sah sie auf eine sonderbare Weise an. »Manchmal, Kara, frage ich mich, wer eigentlich über diese Festung herrscht.«

»Da bist du nicht der einzige, Donay«, antwortete Kara so leise, daß eigentlich nur sie selbst die Worte verstand.

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