Es war, als wäre ein Stück aus dem Himmel gebrochen, das sich nun langsam der Erde entgegensenkte. Elder hatte ihr das Schiff als groß beschrieben, aber nicht so groß, und Kara hatte es sich bizarr und fremdartig vorgestellt, aber nicht so bizarr und so fremdartig. Karas Sprache reichte nicht mehr aus, dieses fürchterliche, entsetzliche, schöne Etwas zu beschreiben, das sich heulend und tobend von den Sternen auf die Welt herabsenkte. Zuerst war es nichts als ein Schatten vor dem Grau der Dämmerung gewesen, auf dem bunte Lichter glommen und flackerten, ein Ding ohne fest erkennbare Umrisse, aber von unvorstellbarer Größe, und dann war es gewachsen und gewachsen, und es wuchs immer noch weiter, obwohl es den Boden noch längst nicht erreicht hatte. Die Sonne war aufgegangen, aber über dem flachen See, den Donay als Landeplatz ausgesucht hatte, war die Nacht nach wenigen Augenblicken zurückgekehrt. Der meilenlange Schatten des landenden Ungeheuers verdunkelte die Sonne.
»Nun?« fragte Elder. »Habe ich zuviel versprochen?« Er mußte schreien, um den Lärm des niedergehenden Berges aus Stahl und Glas zu übertönen, aber seine Augen strahlten vor Stolz.
Kara ersparte sich eine Antwort, aber Donay brüllte: »Es ist phantastisch! «
Elder nickte mehrmals, dann raffte er mit der Linken die Aufschläge seiner Jacke zusammen, zog den Kopf zwischen die Schultern und drehte sich wieder zu dem landenden Schiff um. Es hatte mittlerweile fast die Höhe der Baumwipfel erreicht. Die Lichtung reichte kaum aus, es aufzunehmen, und sie war beinahe eine Meile lang!
Als das Schiff die Baumwipfel passierte, hörte Kara ein entferntes Knistern und Prasseln, das immer lauter und lauter wurde und sich binnen Sekunden zu einem ungeheuerlichen Bersten und Splittern steigerte. Elder hatte sie darauf vorbereitet, aber sie hatte es sich nicht so schlimm vorgestellt. Der Wald schrie unter dem Schmerz, der ihm zugefügt wurde, aber das Heulen des Schiffes übertönte selbst die Stimme der gepeinigten Natur mit Leichtigkeit.
Kara spürte, wie der Baum unter ihnen zu zittern begann. Die Libelle, die sicher auf einer gewaltigen Astgabel niedergegangen war, schwankte, und Hrhon griff hastig nach einem Ast und klammerte sich daran fest.
Kara wäre sehr viel wohler gewesen, hätte sie festen Boden unter den Füßen gehabt. Aber in den dunklen Tiefen des Waldes, in die sich der Bauch des Schiffes jetzt weiter und weiter hinabsenkte, herrschte immer noch Gäa.
Eine Wand aus Stahl begann vor ihnen nach unten zu gleiten. Fenster und torgroße, hell erleuchtete Öffnungen zogen an ihnen vorbei, buckelige Gebilde aus rostfarbenem Metall und bizarre Gewächse aus buntem Glas. Es war eine ganze Welt aus Metall und Licht, die sich vor ihnen in den Schlund hinabsenkte. Dampf zischte zu ihnen empor, als der Bauch des stählernen Wals in den flachen See eintauchte, der den Grund der Lichtung bedeckte, und Kara fuhr wie unter einem heftigen Schmerz zusammen. Sie wußte, daß Gäa in diesem Moment starb. Elder hatte es nicht gesagt, aber er wußte zu gut um die Gefährlichkeit dieses ungeheuerlichen Lebewesens, um es in der Nähe seines Schiffes zu dulden. Und sie konnte es spüren, wie einen lautlosen Todesschrei, der in ihren Gedanken widerhallte. Eine Bewegung über ihnen ließ sie aufblicken. Für einen winzigen Moment glaubte sie einen riesigen Schatten zu erkennen, der sich zwischen den Blättern bewegte, aber der Schatten verschwand, ehe sie ihn genauer erkennen konnte.
Elder sah sie fragend an.
»Nichts«, sagte Kara. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Aber ich habe mich getäuscht.«
»Keine Angst«, sagte Elder beinahe fröhlich. »Es gibt auf dieser Welt nichts, was diesem Schiff gefährlich werden kann.«
Kara zog es vor, nicht darauf zu antworten, sondern beugte sich behutsam vor und sah auf das Schiff hinab, das unter ihnen lag. Im ersten Moment konnte sie kaum etwas erkennen;
Dampf, Staub und Millionen von abgerissenen Blättern hüllten den stählernen Koloß ein. Zum ersten Mal erblickte sie Elders Sternenschiff – das Beiboot! – in seiner ganzen Größe. »Phantastisch, nicht?« fragte Elder noch einmal. Er sah zu Donay auf. »Die Lichtung paßt, als wäre sie dafür gemacht worden. Eine gute Wahl. Mein Kompliment.«
»Ihsss fhindhe esss hässslihihsss«, sagte Hrhon. »Nhihssst fhahntahssstisss. Ehsss mhacht mhir Ahnghssst.«
Elder grinste. Seine Euphorie schien durch nichts zu erschüttern zu sein. »Das soll es auch, Fischgesicht«, sagte er fröhlich. »Es ist ein Kriegsschiff. Waffen müssen nicht schön sein.« Er lachte, griff in die Tasche und zog ein rechteckiges Gerät hervor, das so aussah, als wäre es aus verschiedenen, nicht ganz zueinander passenden Einzelteilen zusammengebastelt worden, aber es funktionierte immerhin.
»Commander Elder an XANADU 01«, sagte er. »Könnt ihr uns sehen?«
Aus dem Gerät drang ein halblautes Knistern, dann eine verzerrte Stimme. »Klar und deutlich, Commander. Was ist das für ein... Ding da, neben Ihnen?«
Elder warf einen flüchtigen Blick auf Hrhon, dann antwortete er. »Ein Eingeborener. Er wird mit an Bord kommen. Ich brauche eine – nein«, verbesserte er sich nach einem neuerlichen Blick auf den Waga, » – besser zwei Transportmaschinen.«
»Sofort, Commander.«
Elder schaltete das Gerät ab, schenkte Hrhon einen entschuldigenden Blick und wandte sich dann an Kara. »Wir haben es geschafft, Kara«, sagte er. »Noch ein paar Minuten, und ich kann dir endlich auch einmal etwas von meiner Welt zeigen. Nicht nur ihre Waffen.«
Kara nickte wortlos. Wieder sah sie in den Himmel hinauf. Er war wieder leer, ein ganz normaler Morgenhimmel mit einem letzten roten Hauch der Dämmerung. Mittlerweile hatte das Farbgewitter am Himmel nachgelassen. Die Regenbogenblitze waren nicht mehr so häufig aufgeflammt und schließlich ganz erloschen – aber wirklich aufgehört hatte es mit einem ungeheuer grellen, weißen Flackern hinter dem nördlichen Horizont. Sie alle hatten gewußt, was es bedeutete. Nur Elder hatte so getan, als hätte er es nicht bemerkt.
»Hast du Angst?« fragte Elder plötzlich.
»Ja«, sagte Kara und zuckte mit den Schultern. »Ich glaube schon, aber nicht so wie – «
»Ich verstehe schon, was du meinst.« Er lächelte, dann maß er Donay, Cord und vor allem Hrhon mit einem langen Blick und wandte sich schließlich wieder dem gelandeten Schiff zu. Kara hätte gern noch mehr Begleiter mitgenommen, aber Elder hatte sich strikt geweigert. Schon diese drei waren eigentlich mehr, als ihm recht war.
Karas Blick löste sich vom Rumpf des Schiffes und glitt über den Waldrand. Er lag wie ausgestorben da. Nichts rührte sich. Das metallene Ungeheuer von den Sternen hatte alles tierische Leben in weitem Umkreis vertrieben.
»Sie kommen!« sagte Elder.
In der Flanke des Schiffes hatte sich eine Luke geöffnet, die auf den ersten Blick winzig aussah, aber dann erschienen zwei Libellen, und sie erkannte, wie groß sie wirklich war. Die Maschinen schwangen sich in einem gewagten Flugmanöver in die Höhe und näherten sich dann der Astgabel, auf der Elder und die anderen warteten. Sie waren größer als Thorns Libellen und wirkten zugleich plumper, aber auch aggressiver. Kara hatte solche Maschinen schon gesehen. Für ein paar Sekunden, auf dem zweiten Drachenfels, bevor Markor sie verbrannt hatte.
Donay und Cord bestiegen die erste Maschine, während Hrhon allein im Passagierraum der zweiten Platz nahm. Kara wollte ihm folgen, aber Elder winkte ab und bedeutete ihr, neben ihm im Cockpit der erbeuteten PACK-Libelle Platz zu nehmen. Natürlich würde er ein so wertvolles Beutestück nicht einfach zurücklassen.
»Endlich!« seufzte Elder, während er die Kanzel schloß und den Motor startete. »Ich dachte schon, es ginge nie zu Ende.«
Er warf Kara einen ungeduldigen Blick zu, denn sie setzte sich sehr umständlich hin und brauchte eine ganze Weile, um in eine auch nur halbwegs bequeme Position zu rutschen. Sie trug etwas unter ihrem Mantel, von dem sie auf keinen Fall wollte, daß Elder es bemerkte. Schließlich gab sie auf und blieb, sich am Boden der Libelle abstützend, sitzen. Unbequem, aber für die wenigen Augenblicke würde es gehen. Elders Stirnrunzeln vertiefte sich.
»Worauf freust du dich am meisten?« fragte sie rasch, ehe Elder seine Verwirrung in Worte kleiden konnte.
Elder lachte. »Du wirst es nicht glauben«, sagte er. »Auf zwei Dinge: eine Zigarette und eine richtige Toilette mit Wasserspülung.«
Kara blickte verwirrt. Elder lachte wieder, dann ließ er den Helikopter mit einem Ruck zur Seite springen. Kara wurde in den Sitz geworfen und hielt vor Schreck den Atem an, als sie spürte, wie eines der kleinen Gläser gegen ihren Oberschenkel gepreßt wurde.
Die Libelle flog eine enge Schleife und stürzte dann auf das Schiff herab. Der Spalt in seiner Flanke wurde größer und war plötzlich ein gewaltiges Tor, das in eine ebenso gewaltige Halle führte. Sie war nicht ganz so groß wie die Halle in Thorns Drohne, bot aber immer noch Platz für zwanzig der riesigen Flugmaschinen – und für ein Empfangskomitee, das aus mindestens zwölf oder fünfzehn Männern bestand, wie Kara voller Schrecken erkannte. Die beiden anderen Maschinen waren bereits gelandet. Donay, Cord und Hrhon stiegen gerade aus. »Beantworte mir bitte noch eine Frage«, sagte sie, während Elder die Libelle vorsichtig durch das riesige Tor steuerte. Es war groß genug, fünf dieser Maschinen gleichzeitig passieren zu lassen, aber Elder hatte Mühe, mit den Kontrollen der fremden Maschine klarzukommen. Er reagierte auch nicht sofort, sondern setzte die Libelle vorsichtig auf den Boden auf und schaltete das Triebwerk ab, ehe er sich zu ihr umwandte.
»Ja?«
»Ihr habt Thorns Drohne zerstört, nicht wahr? Der Blitz eben...«
»Du hast ihn bemerkt.«
»Ich bin nicht blind. Warum habt ihr das getan?«
»Es mußte sein, Kara«, sagte Elder leise. »Sie wären immer eine Gefahr gewesen.«
»Aber er hatte dein Wort!« rief Kara.
»Und es ist mir nicht leichtgefallen, es zu brechen, glaube mir«, erwiderte Elder. »Aber ich hatte keine Wahl. Thorn hätte nie aufgegeben. Ein einziger PACK-Agent auf dieser Welt hätte einen hundertjährigen Guerillakrieg bedeutet.«
»Das heißt, du hast viertausend Menschen getötet? Mit einer kleinen Handbewegung?«
»Wie viele von euch haben sie getötet!« gab Elder zurück. »Und wie viele hätten sie getötet, hätten wir sie nicht aufgehalten?« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Vergiß es, Kara. Es war ein Alptraum, aber er ist vorbei.«
Mit einem Knopfdruck ließ er die Kanzel aufgleiten und stieg aus. Kara folgte ihm. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie sich zwei Männer aus der Gruppe lösten, die zu ihrer Begrüßung gekommen war, und ihnen entgegenkamen. Ihre linke Hand glitt unter ihren Mantel, schmiegte sich um eines der kleinen Gläser, während sie mit der anderen nach Elders hilfreich ausgestrecktem Arm griff. Ihr Blick suchte das Tor, das noch immer weit offenstand, und den dahinterliegenden Waldrand. Dann sagte sie ganz ruhig:
»Nein, Elder. Das ist es nicht. Noch nicht.«
Auf Elders Gesicht machte sich Schrecken breit, aber wenn er wirklich begriff, was Karas Worte zu bedeuten hatten, dann war es zu spät. Kara glaubte plötzlich, daß die Zeit sich mit zehnfacher Langsamkeit bewegte und sie selbst wie in einen unsichtbaren, zähen Sirup geraten war, der alles, was sie tat, zu einer grotesk langsamen Pantomime machte. Aber natürlich trog ihr Eindruck. Alles geschah fast gleichzeitig und so schnell, daß Elders Männer nicht die Spur einer Chance hatten.
Jetzt! signalisierte sie. Damit Elder ihn nicht sah, trug sie den Rufer an einer ungewohnten Stelle unter der linken Achsel, wo er schmerzte, aber so sicher und zuverlässig funktionierte wie an dem gewohnten Platz in ihrer Halsbeuge.
Gleichzeitig griff sie nach Elders Hand, aber nicht, um sich daran festzuhalten, sondern um ihn mit einem harten Ruck aus dem Gleichgewicht zu bringen und ihm ihr Knie entgegenzurammen. Gleichzeitig zerrte sie das Glas unter ihrem Mantel hervor.
Elder fiel zu Boden und krümmte sich stöhnend, während das Glas in einem glitzernden Bogen auf die Männer zuflog und inmitten der Gruppe auseinanderplatzte. Feine Glassplitter und weißer Staub bildeten eine Wolke, die den Großteil der Gruppe einhüllte. Ebenfalls gleichzeitig rangen Donay und Cord den Mann nieder, der sie hergebracht hatte. Hrhon schaltete den Piloten seiner Libelle mit einem harten Fausthieb aus, der ihn wahrscheinlich umbrachte. Seit Kara den Angriffsbefehl gegeben hatte, war noch keine Sekunde vergangen.
Sie ließ sich zu Elder hinabsinken und betäubte ihn mit einem blitzschnellen Hieb gegen die Schläfe vollends. Dann sprang sie wieder auf, zog gleichzeitig ihr Schwert und warf sich auf die beiden Männer, die ihnen entgegengekommen waren. Den ersten streckte sie mit einem wuchtigen Hieb des Schwertgriffes zu Boden, aber der zweite beging den Fehler, seine Waffe zu ziehen; und zu seinem eigenen Pech war er sehr schnell. Kara hatte keine andere Wahl, als ihm das Schwert in die Brust zu stoßen. Die zweite Sekunde war vorüber.
Sie fuhr herum, drehte sich einmal im Kreis. Die Zeit in der Halle schien noch immer stehengeblieben zu sein. Die Männer, zwischen denen der Glasbehälter explodiert war, standen noch immer wie gelähmt da. Verdammt, Donay hatte versprochen, daß das Zeug sofort wirkte!
Kara blickte zum Waldrand zurück. Nichts. Was war passiert? Wo blieben sie alle?
Die dritte Sekunde ging zu Ende. Plötzlich zerriß ein schrilles, an- und abschwellendes Heulen und Wimmern die Luft. Alarm. Elders Männer reagierten verdammt schnell. Vielleicht zu schnell. Als die Männer in der Halle endlich aus ihrer Erstarrung erwachten, erwachte auf der anderen Seite des Tores der Waldrand zum Leben. Eine Armee ungeheuerlicher, geschuppter Körper tauchte zwischen dem Geäst der Wipfel auf. Mannsdicke Äste zerbrachen unter den Hieben riesiger Schwingen und fürchterlicher Klauen. Ein Orkan aus glitzerndem Horn und schwarzen Schwingen schien den Wipfelwald rings um das Schiff von innen heraus zu zerreißen, als die Drachen hervorbrachen, die sich im dichten Blättergewirr verborgen hatten. Ein erster, zyklopischer Schatten löste sich vom Waldrand und glitt mit wild schlagenden Flügeln auf das Schiff zu. Plötzlich begann sich das Tor zu schließen!
Kara fuhr mit einem Fluch herum. Wenn sie das Tor verschlossen, war alles verloren!
Aus dem hinteren Teil der Halle näherten sich weitere Männer in schwarzen und blauen Uniformen, die ihre Waffen gezückt hatten, und auch Cord und Donay waren in ein wildes Handgemenge mit neu aufgetauchten Gegnern verwickelt. Am entgegengesetzten Ende der Halle hatte sich ein massiv aussehendes Stahltor geöffnet, um weitere zwei, vielleicht auch drei Dutzend Bewaffneter durchzulassen. Kara bemerkte eine Bewegung aus den Augenwinkeln, wirbelte herum und riß gleichzeitig ihr Schwert in die Höhe, um den Angreifer abzuwehren.
Aber sie führte den tödlichen Hieb nicht zu Ende.
Es war tatsächlich einer von Elders Männern, und er hatte auch seine Waffe gezogen – aber er schien sie gar nicht zu sehen. Seine Augen waren weit aufgerissen, das Gesicht war eine verzerrte Grimasse, und aus beiden Mundwinkeln lief blutiger Speichel, was ihm das Aussehen einer jener unheimlichen Marionetten verlieh, die den Mund öffnen und schließen konnten, um menschliche Sprache zu imitieren. Und er bewegte sich auch wie eine solche Fadenpuppe. Mit wild schlenkernden Armen, das eine Bein hinter sich herziehend, torkelte er an Kara vorüber. Gräßliche, blubbernde Laute drangen aus seiner Brust. Als er den Mund öffnete, sah Kara den Grund für das Blut in seinem Speichel: Er hatte sich die Zungenspitze abgebissen. Auf seinen Schultern, dem Hemd und in seinem Haar glitzerte feiner Staub wie winzige Eiskristalle.
Kara begriff erst jetzt die Gefahr, in der sie sich befand. Eine Umarmung dieses Mannes, ja, selbst eine flüchtige Berührung war so tödlich wie ein Treffer aus einem Lasergewehr. Mit einer hastigen Bewegung sprang sie zurück. Der sterbende Mann torkelte an ihr vorüber und stürzte mit weit ausgebreiteten Armen zu Boden, und fast in der gleichen Sekunde stach ein hellblauer Lichtblitz durch die Luft und explodierte in der Libellenmaschine. Flammen und umherfliegende Metalltrümmer trieben Kara weiter zurück.
Sie hustete, zog einen zweiten ihrer kostbaren Glasbehälter unter dem Mantel hervor, verzichtete aber darauf, ihn zu werfen, als sie begriff, daß die heranstürmenden Soldaten viel zu weit entfernt waren. Ein zweiter Lichtstrahl tastete wie ein suchender, dürrer Finger nach ihr, und wieder warf sich Kara mit einer verzweifelten Bewegung herum und entging dem sicheren Tod nur um Haaresbreite. Verzweifelt suchte ihr Blick das Tor. Es hatte sich bereits fast zur Hälfte geschlossen – aber der Drache hatte auch weit mehr als die Hälfte der Entfernung zwischen ihm und dem Waldrand zurückgelegt. Sie konnte die Umrisse zahlreicher winziger Gestalten auf seinem Rücken ausmachen. Hinter ihm waren ein zweiter und ein dritter Drache aus dem Wald hervorgebrochen.
Ein blaßblauer Strahl brannte eine Spur aus schmelzendem Metall in den Boden neben ihr, und Kara warf sich mit einer hastigen Bewegung herum. Sie strauchelte. Sie versuchte den Sturz abzufangen, aber es gelang ihr nicht, und ihr Herz schien einen Schlag zu überspringen, als sie wuchtig auf den Boden prallte und hörte, wie das Glas unter ihrem Mantel klirrte. Aber das Wunder geschah: Sie rollte sich mit einer kraftvollen Bewegung herum und kam wieder auf die Füße, und die tödlichen Staubbomben unter ihrem Mantel zerbrachen nicht. Sie hörte einen gellenden Schrei hinter sich. Ehe sie herumfuhr, sah sie, wie Cord zurücktaumelte. Sein linker Arm brannte. Hilflos und noch immer vor Schmerz schreiend prallte er gegen den Rumpf der Libellenmaschine, stürzte und begann sich auf dem Boden zu wälzen, während Donay versuchte, die Flammen mit seinem Mantel zu ersticken. Ihr Blick suchte Hrhon, fand ihn aber nicht.
Und plötzlich hörte das Feuer auf. Die Angreifer blieben stehen, alle im gleichen Augenblick, aber es dauerte einen Moment, bis Kara begriff, daß der entsetzte Ausdruck auf ihren Gesichtern nicht ihr galt, sondern etwas hinter ihr. Verblüfft drehte sie sich herum – und erstarrte ebenfalls vor Schrecken, obwohl sie gewußt hatte, was sie sehen würde.
Der Drache war herangekommen. Die gewaltigen Torhälften hatten sich wie die Kiefer eines riesigen stählernen Tieres fast zu zwei Dritteln geschlossen; sie wußte, daß der Drache es nicht schaffen würde, es nicht schaffen konnte – und trotzdem schaffte er es. Im allerletzten Moment legte das riesige fliegende Ungeheuer die Schwingen an den Leib wie ein angreifender Falke, der auf eine Beute im Wasser herabstößt, ließ ein markerschütterndes Brüllen hören und stob durch das Tor. Seine linke Schwinge prallte gegen die Stahlöffnung. Er taumelte, versuchte in dem viel zu engen Raum die Flügel zu entfalten und bäumte sich auf. Voller Entsetzen beobachtete Kara, wie die Gestalten der Drachenkrieger von seinem Rücken geschleudert wurden. Zwei, drei von ihnen verschwanden mit gellenden Schreien in der Tiefe draußen, und weitere zwei oder drei wurden von den panisch schlagenden Flügeln und Krallen des Riesentieres zermalmt. Aber der Rest – immer noch mehr als ein Dutzend rettete sich auf den sicheren Boden der Halle und brachte sich hastig vor dem tobenden Ungeheuer in Sicherheit. Der Drache brüllte weiter, und im Inneren des Helikopterhangars hallte seine Stimme hundertfach verzerrt und laut wider. Verzweifelt versuchte er vergeblich, die Flügel zu spreizen und mit den Krallen irgendwo Halt zu finden. Langsam, aber unbarmherzig, rutschte er zurück. Seine Krallen rissen handtiefe Furchen in den polierten Stahl des Hallenbodens, doch nicht einmal die unvorstellbare Kraft dieses Wesens reichte, das Gewicht seines eigenen Körpers zu halten, das ihn in die Tiefe zerrte. Mit einem Kreischen, das Kara wie ein Messerstich bis ins Mark fuhr, stürzte er aus der Öffnung und verschwand mit hilflos schlagenden Flügeln in der Tiefe.
Die überlebenden Drachenkrieger begannen sich in der Halle zu verteilen und hastig nach Deckung zu suchen, als Elders Männer endlich ihren Schrecken überwanden und sie unter Feuer nahmen. Zwei von ihnen wurden getroffen und stürzten brennend und reglos zu Boden, aber dann erwiderten sie das Feuer – nicht mit Pfeil und Bogen, womit Elders Krieger gerechnet haben mochten, sondern mit grünen Lichtblitzen. aus gläsernen Waffen, die sie plötzlich unter ihren schwarzen Mänteln hervorzogen.
Schon ihre erste Salve kostete sechs oder acht Company-Soldaten das Leben. Die Schnelligkeit aber, mit der die Besatzung dieses Schiffes auf den Angriff reagiert hatte, machte Kara klar, daß Elder ihnen niemals ganz vertraut und die Möglichkeit eines Überfalles einkalkuliert hatte. Aber sie hatten mit einem Angriff kaum oder nur schlecht bewaffneter Barbaren gerechnet, nicht mit einer Macht, die ihrer ebenbürtig und vielleicht sogar überlegen war. Wer von den Company-Soldaten den ersten Feuerschlag der vermeintlichen Drachenkrieger überlebte, der ergriff auf der Stelle die Flucht. Die Krieger in den schwarzen Mänteln schossen auf sie, aber nicht unbedingt um sie zu töten. Kara registrierte erleichtert, daß sie ihren Befehl befolgten – sie waren nicht hier, um ein Gemetzel unter Elders Männern anzurichten, sondern um diesen Hangar zu besetzen und zu halten.
Hastig sah sie zum Tor zurück. Die beiden riesigen Torhälften schlossen sich weiter, aber ihre Bewegung war nicht mehr so gleichmäßig und lautlos wie zuvor. Der Anprall des Drachen mußte den Mechanismus beschädigt haben.
»Das Tor!« schrie sie. »Sie dürfen es nicht schließen!«
Die Männer reagierten sofort. Die grünen Blitze aus ihren Waffen konzentrierten sich plötzlich auf einen der beiden Torflügel. Kara sah, wie das Metall rot und orange und schließlich weiß zu glühen begann und sich dann in zischende Lava verwandelte. Das Tor bewegte sich rumpelnd und zitternd noch ein kleines Stück weiter, und plötzlich erscholl ein schrilles, fast gequält klingendes Wimmern und dann ein dumpfer Knall. Die riesigen Stahlplatten waren mit dem Rahmen verschweißt und würden sich nie wieder bewegen.
Doch die Öffnung in der Flanke des Schiffes war noch immer groß genug, eine von Elders Libellenmaschinen passieren zu lassen, sie reichte allerdings nicht mehr für einen Drachen aus. Kara sah, wie der zweite Riesenschatten, der seinem zu Tode gestürzten Bruder gefolgt war, dicht vor dem Schiff kehrtmachte und sich in die Höhe schwang. Ein dritter und vierter Schatten folgten, und plötzlich loderte orangerotes Feuer draußen auf. Kara schloß geblendet die Augen und hob ganz instinktiv die Hände vor das Gesicht, aber es war nur ein kurzer Flammenblitz, der die Toröffnung verfehlte.
Sie verstand jedoch, was die Männer draußen ihr sagen wollten, »Zurück! « schrie sie, so laut sie konnte. »Sie brennen das Tor auf!«
Mit ein paar schnellen Schritten war sie bei Elder, steckte ihr Schwert ein und versuchte, ihn fortzuschleifen. In diesem Moment erwachte er aus seiner Bewußtlosigkeit, und so schnell und übergangslos wie Kara es von ihm gewohnt war. In seinen Augen war kein Schrecken, keine Verwirrung, sondern nur ein brodelnder, durch nichts zu besänftigender Zorn. Sie sah seinen Hieb kommen und fing ihn ab, und doch war die Kraft, die in diesem Schlag steckte, so gewaltig, daß sie von den Füßen gerissen und zu Boden geschleudert wurde.
Mit der Schnelligkeit eines Phantoms war er über ihr. Es gelang Kara, einen nach ihrer Kehle gezielten Tritt abzublocken, aber dann packte er sie bei den Schultern, riß sie in die Höhe und hob die andere Hand zu einem Hieb, der sie töten würde. Eine dreifingrige, geschuppte Pranke legte sich von hinten um Elders Gesicht, schob seinen Kopf in den Nacken und drückte mit übermenschlicher Kraft zu.
»Nein!« schrie Kara. »Töte ihn nicht!«
Sie sah, wie schwer es Hrhon fiel, ihrem Befehl zu gehorchen. Eine Sekunde lang stand der Waga einfach da, reglos, jeden Muskel in seinem gewaltigen Körper so angespannt, daß er zitterte. Kara spürte, was in ihm vorging. Er hatte den Mann gepackt, der den Tod von den Sternen auf seine Welt gebracht hatte. Er wollte ihn töten. Es gab nichts mehr in seinem Leben, was wichtiger war. Und Kara verstand ihn nur zu gut. Auch in ihr schrie alles danach, Hrhon mit einem Nicken zu verstehen zu geben, es zu tun, oder ihre eigene Waffe zu ziehen und ihn zu vernichten. Und sie hätte es getan, hätte nur ihr eigenes Leben auf dem Spiel gestanden. Aber sie durften es nicht. Elder und die Männer in diesem Schiff waren zwar Schuld an dem, was dieser Welt und ihren Bewohner widerfuhr, aber sie waren auch ihre einzige, verzweifelte Hoffnung auf ein Überleben, eine vielleicht bessere Zukunft.
»Laß ihn los«, sagte sie. »Bitte.« Hrhon starrte sie aus seinen unergründlichen Schildkrötenaugen an, und dann nahm er ganz langsam die Hand von Elders Gesicht. Alle Kraft schien aus seinem Körper zu weichen. Elder schnappte keuchend nach Luft und fiel auf die Knie. Sein Gesicht war blutüberströmt, und sein Atem hörte sich an, als wäre sein Kehlkopf zerquetscht. Er wollte etwas sagen, brachte aber nur ein würgendes Stöhnen hervor, und als er diesmal den Kopf hob und Kara ansah, da waren seine Augen vor Schmerz und Entsetzen geweitet.
Mit einem raschen Blick sah sich Kara in der Halle um. Die Krieger waren aus der unmittelbaren Nähe des Tores verschwunden, und auch die Mitglieder von Elders Begrüßungskomitee hatten sich instinktiv in Sicherheit gebracht, als der Drache gegen das Tor geprallt war. Einige nur standen oder hockten mit leeren Gesichtern da, starrten aus weit aufgerissenen, erloschenen Augen ins Nichts oder kicherten irr. Nicht weit von Kara entfernt kroch ein Mann auf Händen und Knien über den Boden und versuchte, mit bloßen Händen den Stahl aufzureißen, und auf der anderen Seite der Libelle gewahrte sie einen Mann, der dabei war, sich mit den Fingernägeln die eigene Haut vom Gesicht zu kratzen.
Donay hatte Cord in einer Nische in dreißig oder vierzig Metern Entfernung vom Tor gezerrt und signalisierte ihr mit Gesten, daß alles in Ordnung war.
»Halt ihn fest«, sagte Kara, an Hrhon gewandt. »Aber paß auf. Er ist beinahe so stark wie du.«
Der Waga packte Elder von hinten bei den Schultern, und Elder stöhnte vor Schmerz. Aber Kara wußte auch, daß Hrhons Griff einem normalen Menschen jeden Knochen zermalmt hätte. Natürlich war Elder kein normaler Mensch. Kara war nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt ein Mensch war. Und sie fragte sich vergeblich, wieso keiner von ihnen es gemerkt hatte. Wieso war nie jemandem aufgefallen, wie schnell seine Wunden heilten, nicht einmal, nachdem Hrhon ihm den Arm gebrochen hatte und er die Hand schon am nächsten Tag wie durch Zauberei wieder bewegen konnte.
»Warum?« flüsterte Elder. Seine Stimme klang flach. »Von mir aus bringt mich um«, murmelte er. »Aber sagt mir vorher, warum.«
»Das werde ich dir sagen, Elder«, antwortete Kara. »Und wir werden dich auch nicht töten. Wir brauchen dich nämlich noch.«
»So?« Der herablassende Spott in Elders Stimme blitzte nur schwach auf. »Und wozu?«
»Um dein Schiff zu erobern«, antwortete Kara ernst.
Elder starrte sie an, und der Ausdruck in seinen Augen machte ihr klar, daß er in diesem Moment an ihrem Verstand zweifelte. »Mein... Schiff?« krächzte er. »Du bist verrückt! Du mußt völlig den Verstand verloren – «
Er sprach nicht weiter. Seine Augen wurden groß, und Kara hatte niemals zuvor im Leben einen Ausdruck so vollkommener, unvorstellbarer Fassungslosigkeit auf dem Gesicht eines Menschen gesehen. Langsam wandte sie den Kopf und sah den Mann an, der neben ihr aufgetaucht war. Die schwarze und silberne Montur der Drachenkrieger ließen ihn noch größer und düsterer erscheinen. Und der Ausdruck in seinen Augen verwirrte selbst Kara. Er sah Elder auf eine Weise an, die sie nicht zu deuten imstande war, aber die ihr Angst machte.
»Warum sprichst du nicht weiter?« fragte Thorn ruhig.
»Du?« murmelte Elder ungläubig.
»Das Leben ist doch voller Überraschungen, nicht wahr?« fragte Thorn. »Bitte, entschuldige, wenn ich unangemeldet komme. Aber ich hatte dich heute nacht um einen neuen Job gebeten, weißt du noch? Und da du mir nicht geantwortet hast...« Er zuckte mit den Schultern und lächelte flüchtig. »Ich bin wirklich sehr verlegen darum, mußt du wissen.«
»Bitte, hör damit auf«, sagte Kara müde. Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Tor zurück. »Wir müssen weg hier.«
Thorn folgte ihrem Blick. Dann nickte er. Mit einem Ruck streifte er den schwarzen Mantel der Drachenreiter vollends ab und warf ihn zu Boden, dann fuhr er herum und lief zu dem knappen Dutzend seiner Männer zurück, das ihm geblieben war. Elder starrte ihm nach. Dann, wie ein Mann, der aus einem entsetzlichen Alptraum erwachte und Mühe hatte, in die Wirklichkeit zurückzufinden, hob er ganz langsam den Kopf und sah Kara wieder an. »Warum?« flüsterte er. »Warum... habt ihr das getan? Ich stehe auf eurer Seite! Ich... bin nicht euer Feind. Thorn ist es, der eure Welt zerstört hat. Wir sind hier, um euch zu helfen!«
»Ich weiß«, sagte Kara leise. »Ich weiß alles, Elder. Und ich meine damit – alles!«
Elder erschrak nicht. Er sah einfach weiter verwirrt aus, aber Kara sagte jetzt nichts mehr, denn sie begriff, daß dies wahrlich nicht der Augenblick war, um zu reden. Mit einer befehlenden Geste signalisierte sie Hrhon, seinen Gefangenen fortzuschaffen, dann lief sie selbst mit weit ausgreifenden Schritten zu der Nische hinüber, in die sich Donay und Cord geflüchtet hatten. Cord war bei Bewußtsein, aber seine Augen glänzten fiebrig, und als Kara seinen verbrannten Arm sah, wußte sie, daß sie auf seine Hilfe in diesem Kampf nicht mehr zählen konnte. Sie tauschte einen raschen, fragenden Blick mit Donay, den er mit einem angedeuteten Achselzucken beantwortete. Auch er war nicht sicher, daß Cord das Ende dieser Schlacht noch erleben würde.
Sie sah zum Tor zurück. Wieviel Zeit war vergangen? Eine Minute? Auf jeden Fall war es zuviel. Ihr Sieg war bisher im Grunde nichts als Glück und der Vorteil der Überraschung gewesen. Daß sie die Wachmannschaft zurückgeschlagen hatten, bedeutete gar nichts. Selbst wenn Elder die Wahrheit gesagt hatte und dieses Schiff nicht annähernd so groß wie Thorns Drohne war, mußte es Hunderte von Männern an Bord haben. Und sie hatten zwar diesen Raum erobert, waren aber auch gleichzeitig darin gefangen.
Wieder näherte sich ein riesenhafter Schatten dem Tor, und Kara schloß im allerletzten Moment die Augen und wandte das Gesicht ab. Trotzdem unterdrückte sie nur mit Mühe ein schmerzhaftes Stöhnen, als der Feuerstrahl des Drachen gegen das Tor prallte und eine Woge ebenso unerträglicher Hitze. wie gleißender Helligkeit durch den Hangar raste. Die Handvoll Schwachsinniger, die sich noch inmitten der Halle aufgehalten hatten, wurde auf der Stelle getötet. Überall brachen Brände aus, und die Libelle, mit der sie selbst gekommen war, fing mit einem dumpfen Schlag Feuer. Das Tor glühte in einem dunklen, drohenden Rot, und die Luft war plötzlich so heiß und stickig, daß sie kaum noch zu atmen war.
Viermal mußten die Drachen ihr Höllenfeuer gegen das Schiff schleudern, ehe die gewaltige Stahlplatte schließlich nachgab und von ihrem eigenen Gewicht in die Tiefe gezerrt aus ihrer Halterung herausbrach.
Minutenlang war die Luft im Hangar so heiß, daß Kara bei jedem Atemzug am liebsten vor Schmerz geschrien hätte. Ihre Kleider und ihr Haar schwelten. Die Haut auf ihrem Gesicht und ihren Händen rötete sich, und wohin sie auch blickte, loderten Flammen. Erst viel später einmal sollte sie begreifen, daß es Elders Schiff gewesen war, das sie davor bewahrte, in der Glut ihrer eigenen Drachen zu sterben, denn überall unter der Hallendecke und in den Wänden traten sofort automatische Löschmechanismen in Kraft, die die Flammen zwar nicht ganz zu ersticken vermochten, die Temperatur aber binnen weniger Augenblicke so weit senkten, daß sie wieder atmen konnten. Alles verschwamm vor ihren Augen, als sie sich aufrichtete und dorthin blickte, wo vor wenigen Momenten noch das Tor gewesen war. Jetzt gähnte an der Stelle ein gewaltiges Loch mit ausgezackten, rotglühenden Rändern. Kara sah alles, was dahinterlag, nur wie in einer Spiegelung in wildbewegtem Wasser. Aber sie wollte auch gar nicht wirklich sehen, was dort draußen vor sich ging, denn hinter der Wand aus hitzeflimmernder Luft starben ihre Brüder und Schwestern, ihre Freunde und auch die Drachen, und sie starben schnell und auf eine Art, die Kara selbst ihrem schlimmsten Feind nicht gewünscht hätte.
Die Luft über der Lichtung war so voller Drachen, als wäre ein großer Vogelschwarm aus den Wipfeln des Waldes emporgestiegen und hätte die Orientierung verloren. Sie hatte nicht mehr in Erfahrung bringen können, wie vielen Reitern es gelungen war, ihre Drachen in den Wipfeln rings um die Lichtung zu verstecken, ehe Elder und sie selbst den Drachenhort verlassen hatten. Aber der Himmel war schwarz von Drachen; fünfzig, hundert, vielleicht zweihundert der gigantischen, geflügelten Wesen, die wie ein Schwarm wütend angreifender großer Raben um den stählernen Koloß kreisten. Immer wieder sah sie das orangerote und weiße Flackern von Feuer, wenn die Drachen eine neue Schwachstelle am Rumpf des Sternenschiffes ausmachten und versuchten, sich ihren Weg hineinzubrennen, aber sie sah auch nur zu oft das grüne und blaue Gleißen der Energieblitze, mit denen sich der Koloß von den Sternen wehrte. Und die meisten dieser Blitze trafen mit tödlicher Sicherheit ihr Ziel. Sie sah Drachen, die von Lanzen aus Licht durchbohrt wurden und wie ein Stein in die Tiefe stürzten, andere Tiere, die plötzlich Feuer fingen und wie lebende Brandgeschosse in die Baumwipfel herunterkrachten, soweit sie nicht mehr die Kraft fanden, sich noch sterbend gegen den Rumpf des Schiffes zu schleudern, um ihn zu erschüttern, Drachen, deren Flügel von einem blaßblauen Hauch aus Licht gestreift wurden. Aber auch das Schiff erzitterte immer heftiger unter den Einschlägen der Feuerstrahlen, mit denen die Drachen den stählernen Riesenwal attackierten. Sollte es jemals eine Erinnerung an diesen Tag geben, dachte Kara, sollten sie jemals ein Lied darüber schreiben oder eine Geschichte erzählen, dann würde es dieses Bild sein, das die Zeiten überdauerte, denn es enthielt alles, was den Grund dieses Krieges ausmachte, alles, worum es darin ging und jemals gegangen war, seit Menschen begonnen hatten, nach den Sternen zu greifen. Es war ein Kampf Natur gegen Technik, Laserstrahlen gegen Drachenfeuer. Und Kara war immer noch nicht sicher, welche Seite ihn gewinnen würde. Durch Rauch und Flammen sah sie Thorn auf sich zukommen, während die meisten seiner Begleiter zum anderen Ende der Halle liefen und schon auf halber Strecke damit begannen, das massive stählerne Tor mit ihren Lichtwaffen unter Feuer zu nehmen. Da blickte Kara wieder nach draußen. Der Kampf hatte eine neue Nuance bekommen. Zwischen den Drachen waren kleinere, sich hektisch bewegende Umrisse aufgetaucht, die die Tiere und ihre Reiter wie wütende Hornissen attackierten. Kara begriff allerdings sofort den furchtbaren Fehler, den der Kommandant des Schiffes damit begangen hatte, seine Helikopter in den Kampf zu werfen. Sie sah, wie einige der Maschinen mitten in der Luft gegen den unsichtbaren Schutzschild prallten und wie andere von einem Dutzend Drachen zugleich angegriffen und in lodernde Flammenbälle verwandelt wurden. Keiner dieser Piloten würde den Selbstmordbefehl überleben, den ihnen der Befehlshaber dieses Schiffes erteilt hatte. Dafür zweifelte sie keine Sekunde daran, daß die Drachenreiter ihrerseits die Chance nutzen und ihre Tiere in den geöffneten Hangar lenken würden, aus dem die Libellen gekommen waren.
Thorn hatte ihr Versteck erreicht und warf einen raschen, eher interessierten als mitfühlenden Blick auf Cords Arm, ehe er sich mit einer ungeduldigen Geste an sie wandte. »Wo bleiben deine Leute?«
Wieder sah Kara zum Tor. Das Metall hatte aufgehört, in dunklem Rot zu glühen, aber die Luft flimmerte immer noch vor Hitze. »Es geht nicht so schnell«, sagte sie. »Die Hitze ist noch zu groß. Wir müssen ihnen noch einige Augenblicke Zeit geben.«
»Aber die haben wir nicht«, sagte Thorn sehr ernst. »Falls es dir nicht klar ist, in dem Ding dort oben – « Er wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger zum Himmel – « befinden sich mindestens fünf oder sechs dieser Schiffe. Sie werden in spätestens einer Stunde hier sein. Wenn wir bis dahin die Zentrale nicht genommen haben, ist es aus.«
»Ich weiß«, sagte Kara. Vielleicht war in diesem Moment nicht nur ein weiteres Schiff zu ihnen unterwegs, sondern ein Raketengeschoß, dessen Atomsprengkopf dieser Geschichte ein für allemal ein Ende machen würde.
Sie wandte sich an Donay. »Du bleibst hier und kümmerst dich um Cord«, sagte sie. »Wenn irgend etwas schiefgeht, dann bringst du dich in Sicherheit.«
»Aber – « begann Donay.
»Das ist ein Befehl, Donay«, unterbrach ihn Kara sofort. »Keine freundschaftliche Bitte. Wenn wir keinen Erfolg haben, dann nimm alle, die überleben, und führe sie irgendwohin, wo sie euch nicht finden. Verbergt euch – und versucht es irgendwann noch einmal.«
Bevor Donay Gelegenheit zu einer Antwort fand, schlug sie ihren Mantel zurück, zog ihr Schwert und warf Thorn einen auffordernden Blick zu. »Gehen wir.«
Die Männer hatten das Tor aufgeschweißt, und wie Kara geahnt hatte, stießen sie sofort auf heftigen Widerstand. Eine große Anzahl von Company-Soldaten hatte sich auf dem dahinterliegenden Gang verschanzt und nahm alles unter Feuer, was auch nur die Nase ins Freie streckte. Zwei von Thorns Soldaten wurden getroffen und brachen tot zusammen, ehe Kara Thorn die Sinnlosigkeit dieses Angriffes klarmachen konnte und er seine Soldaten zurückrief.
Wieder blickte sie zum Tor, aufmerksam geworden durch eine Bewegung, die sie aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte. Ein Drache näherte sich dem Schiff, korrigierte seinen Kurs im letzten Moment und schwebte dann mit reglos ausgebreiteten Schwingen das letzte Stück auf das Tor zu.
Er erreichte es nie.
Kara schloß entsetzt die Augen, als sie sah, wie ein blaßblauer Lichtstrahl Kopf und Hals des Drachen samt des Reiters berührte und in Flammen aufgehen ließ. Vom Schwung seiner eigenen Bewegung vorwärtsgetragen, segelte der Drache noch ein Stück weiter, und für eine unendlich kurze Zeitspanne sah es fast so aus, als würde er das Tor trotzdem noch erreichen. Weniger als zehn Meter vom Rumpf des Schiffes entfernt kippte der Drache plötzlich zur Seite und schüttelte seine Reiter ab. Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie in Thorns Gesicht. Seine Miene war kalt wie Stein. Von einer Art kalter, fast emotionsloser Wut gepackt, richtete sie sich auf, griff unter ihren Mantel und zog eines der mit weißem Staub gefüllten Gläser hervor. In Thorns Augen erschien zum ersten Mal etwas wie Schrecken, aber er versuchte nicht, sie aufzuhalten, sondern bedeutete seinen Soldaten im Gegenteil mit Gesten, ihr Deckung zu geben, als sie sich geduckt dem aufgebrochenen Tor näherte.
Wieder einmal hatte sie einfach Glück. Vier- oder fünfmal verfehlte sie ein Schuß nur um Haaresbreite, und zwei weitere Krieger bezahlten mit dem Leben dafür, die Angreifer mit einem wahren Gewitter von grünen Lichtblitzen in Deckung zurückzutreiben, bevor Kara nahe genug heran war, ihr Glas zu schleudern. Sie warf es mit aller Kraft, ließ sich aus der gleichen Bewegung zur Seite fallen, kam mit einer Rolle wieder auf die Füße. Das Klirren von zerberstendem Glas drang an ihr Ohr, und auch jetzt vergingen Sekunden, bis das Feuer aus dem Gang allmählich nachließ. Nur ein einzelnes Gewehr schoß gleichmäßig und so monoton wie eine Maschine weiter, aber die blauen Blitze waren nicht mehr gezielt, sondern schlugen alle an der gleichen Stelle irgendwo in der Wand ein, und als Kara sich vorsichtig hinter ihrer Deckung erhob und auf den Gang hinauslugte, da sah sie, daß der Mann, der das Gewehr hielt, sich aufgerichtet hatte und breitbeinig dastand; er lächelte wie ein schwachsinniges Kind. Thorn hob seine Waffe und erschoß den Mann.
Das Gefühl eisigen, beinahe lähmenden Entsetzens breitete sich in Kara aus, als sie den Gang überblickte. Die Wirkung ihrer Staubbombe war längst nicht groß genug gewesen, sämtliche Männer dort draußen zu erfassen, aber die, die davongekommen waren, schienen in hellem Entsetzen die Flucht ergriffen zu haben, als ihnen das Schicksal ihrer Kameraden klar wurde. Kara sah achtlos weggeworfene Waffen und Helme, liegengelassene Funkgerät und andere Dinge, die auf eine panische Flucht hindeuteten.
Ein zweiter Drache näherte sich dem Schiff und steuerte auf die aufgebrochene Luke zu. Und diesmal schaffte er es. Knapp und mit einem fast ängstlichen Grunzen, aber so präzise wie ein von einem Meisterschützen abgeschossener Pfeil glitt das riesige Tier in den Hangar und berührte den Boden. Auf seinem Rücken befanden sich gute zwei Dutzend Männer, die rasch über die noch immer ausgebreiteten Schwingen nach unten kletterten und zu ihnen eilten.
Kara sah, wie der Reiter des Tieres versuchte, seinen Drachen auf dem engen Raum herumzudrehen, um den Hangar wieder zu verlassen. Sie gestikulierte ihm, zu bleiben, rannte rasch zu ihm hinüber und bildete mit den Händen einen Trichter vor dem Mund. »Was ist los?« schrie sie. Sie verzichtete absichtlich darauf, den Rufer zu benutzen. »Was ist mit den Konvertern? Wieso zerstört ihr sie nicht?«
Kara hatte sie gesehen, als das Schiff landete: zwei riesige, bläulich schimmernde Halbkugeln aus Kristall, die über dem Heck des Schiffes angebracht waren und seine stärkste Waffe, zugleich aber auch seine größte Schwäche darstellten. Thorn hatte versucht, es ihr zu erklären. Natürlich hatte sie es nicht wirklich verstanden, aber immerhin hatte sie begriffen, daß diese zerbrechlichen Gebilde aus Glas und Kristall so etwas wie das schlagende Herz dieses Schiffes waren. Zerstörten sie es, dann fiel der größte Teil seiner Energieversorgung aus. »Wir versuchen es!« schrie der Drachenreiter zurück. »Aber wir kommen nicht heran! Wir haben schon viele Tiere verloren!«
Die Worte trafen Kara wie ein Hieb. Für eine Sekunde wollte sie einfach aufgeben. Ihre Waffe aus der Hand legen, zu Elder gehen und ihn bitten, mit ihr und Thorn zu machen, was er wollte, solange er nur die anderen am Leben ließ.
Aber sie wußte auch gleichzeitig wie absurd und naiv dieser Wunsch war. Er würde es nicht tun. Dies war kein Kampf, in dem es ein Unentschieden oder eine ehrenvolle Niederlage geben konnte.
»Versucht es weiter«, sagte sie. Sie sprach sehr leise, so leise, daß der Mann auf dem Rücken des Drachen ihre Worte unmöglich verstehen konnte. Aber er schien sie zu erraten, denn er nickte, wartete, bis Kara sich in sichere Entfernung zurückgezogen hatte, und fuhr dann fort, sein Tier in der engen, mit Trümmern und Leichen übersäten Halle herumzudrehen. Schließlich gelang es ihm. Mit einem kraftvollen Ruck stieß sich der Drache am Rand des Hangartores ab und schwang sich wieder in die Höhe. Und vermutlich in den Tod, dachte Kara bitter. Hrhon hatte Elder herbeigebracht, als sie zu Thorn und seinen Männern zurückkehrte. Elders Gesicht war eine unbewegliche Maske, in der sich Zorn und Verbitterung mit einem Ausdruck von völligem Nichtverstehen mischten. Ein entsetzlicher Gedanke machte sich in Kara breit. Was würde geschehen, wenn sie sich geirrt hatte? Wenn Elder die Wahrheit gesprochen hatte und Thorn log? Wenn alles nur ein fein eingefädeltes Intrigenspiel war, das dem einzigen Zweck gedient hatte, sie tun zu lassen, was sie jetzt tat?
Der Gedanke war zu entsetzlich, um ihn weiter zu verfolgen. Wieder erzitterte das Schiff unter einem dumpfen Schlag, und diesmal folgte ihm eine grollende Explosion. Die Erschütterung schien Elder aus seiner Erstarrung zu wecken, denn das Leben kehrte in sein Gesicht zurück. Er sah Thorn an, schien etwas sagen zu wollen, tat es dann aber nicht, sondern drehte den Kopf, um Kara anzublicken.
Der Vorwurf in seinen Augen schmerzte sie tief.
Thorn hob seine Waffe und stieß Elder den Lauf grob in den Leib. Elders Lippen zuckten, aber er gab keinen Schmerzlaut von sich. Nur ganz flüchtig sah er Thorn an, dann blickte er wieder in den Gang hinaus. Es mußten zwanzig, wenn nicht dreißig seiner Leute sein, die dort saßen oder hockten, auf den Knien herumkrochen, sich schaukelten, einfach auf der Stelle standen und andere, sinnlose und manchmal schreckliche Dinge taten. Und wenn er wirklich begriffen hatte, was mit ihnen geschehen war, dann schien er sich zumindest für den Moment noch zu weigern, es zu glauben.
»Du wirst uns jetzt den Weg in die Zentrale dieses Schiffes zeigen«, sagte Thorn. »Und möglichst einen, auf dem wir nicht in einen Hinterhalt laufen.«
Elder würdigte ihn nicht einmal eines Blickes. Thorn wollte seine Aufforderung wiederholen, und Kara sah, wie sich seine Hände fester um das Gewehr schlossen. Sie winkte rasch ab und zog mit der gleichen Bewegung Elders Aufmerksamkeit auf sich.
»Wir wollen nicht, daß deine Leute sinnlos sterben«, sagte sie. »Gib ihnen den Befehl, aufzugeben, und du hast mein Wort, daß keinem auch nur ein Haar gekrümmt wird.«
»Wie großzügig«, sagte Elder verächtlich. »Aber du glaubst doch nicht wirklich, daß ich das tue.«
Thorn hob sein Gewehr, und Elder bedachte nun ihn mit einem bleichen, verächtlichen Blick. »Was wirst du tun?« fragte er. »Mich umbringen? Bitte.«
»Du weißt, daß er es könnte«, sagte Kara. »Ich meine, wirklich könnte.«
»Dann tut es!« stieß Elder hervor. »Tut, was ihr wollt – aber ich werde euch ganz bestimmt nicht mein Schiff ausliefern. Auch nicht, wenn es mein Leben kostet.«
»Ich habe nichts anderes von dir erwartet«, sagte Kara ruhig. Sie gab Hrhon einen heimlichen Wink, Elder fester zu halten. »Aber weißt du... Wir werden dich nicht umbringen. Siehst du das da?« Sie deutete mit einer Kopfbewegung in den Gang hinaus. »Möchtest du ihr Schicksal teilen?«
Elder sagte auch jetzt nichts, aber Kara bemerkte, daß er insgeheim die Muskeln spannte, um die Festigkeit von Hrhons Griff zu testen. Das Ergebnis, zu dem er kam, machte ihm wohl endgültig klar, wie aussichtslos seine Lage war. Nervös und fahrig fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Sein Blick tastete immer unsicherer über die Ansammlung wimmernder, zusammengesunkener Gestalten draußen im Gang.
»Komm mit!« befahl Kara. Hrhon sorgte dafür, daß Elder ihr folgte, während sie sich vorsichtig einer der wimmernden Gestalten näherte. Der Mann hatte nur sehr wenig des glitzernden weißen Staubes abbekommen. Trotzdem war sie sehr vorsichtig, als sie ihn mit der einen Hand an der Schulter berührte und herumdrehte und die andere in sein Haar grub, um seinen Kopf zurückzuzwingen, damit Elder in sein Gesicht sehen konnte. »Siehst du das?« fragte sie hart. »Sieh genau hin, Elder! Du warst doch so wild auf Donays Erfindungen, nicht? Das hier hat er extra für euch gemacht! Gefällt es dir?«
Elder war einer Panik nahe. Mit aller Kraft bäumte er sich in Hrhons Griff auf, aber der Waga zwang ihn unbarmherzig tiefer, bis sich sein Gesicht dem des Wahnsinnigen bis auf eine Handbreit genähert hatte. »Was... was habt ihr mit ihm getan?« stammelte er.
»Ihn nicht getötet«, sagte Kara kalt. »Weißt du, Elder, du hast mir vielleicht ein bißchen zuviel über euch erzählt. Ich weiß, daß du keine Angst vor dem Tod hast. Für dich ist es nur ein Spiel, nicht wahr? Für euch alle ist es nichts als ein großes spannendes Spiel. Ich weiß, daß wir euch nicht töten können. Aber das haben wir auch gar nicht vor.«
»Was... was habt ihr... getan?« krächzte Elder.
»Die Spielregeln geändert«, antwortete Kara. Sie raffte ein wenig des hoffentlich wirkungslos gewordenen Staubes von der Schulter des Mannes auf und blies es Elder ins Gesicht. Er kreischte und warf sich zurück, aber sofort packte Hrhon sein Haar und hielt ihn fest.
»Eines von Donays neuen Spielzeugen«, sagte Kara. »Diese kleinen Lieblinge hier greifen nicht eure Körper an. Sie zerstören den Geist.« Sie ließ einige Sekunden verstreichen, damit ihre Worte angemessen wirken konnten. »Wie würde dir das gefallen,Elder? Was würdest du davon halten, so zu leben? Und ich schwöre dir, daß ich dafür sorgen werde, daß du lange lebst. Sehr lange.«
Elder starrte das Gesicht des Wahnsinnigen vor sich an. Seine Lippen zitterten, und seine Augen schienen aus den Höhlen quellen zu wollen, aber er brachte keinen Laut mehr heraus. Und für einige Sekunden tat er Kara beinahe leid. Sie glaubte nicht, daß sie in der Lage war, nachzuvollziehen, was er in diesem Moment empfand, was es für einen Mann wie ihn, der ein zwei Jahrhunderte langes Leben geführt hatte, bedeuten mußte, doch plötzlich verwundbar zu sein.
»Bitte«, stammelte er. »Tut das nicht.«
»Ein Wort von dir genügt«, sagte Kara. Sie streckte die Hand aus, löste das kleine Funkgerät von Elders Gürtel und hielt es vor sein Gesicht. »Sag deinen Leuten, daß sie den Widerstand aufgeben sollen.« Sie schlug mit der anderen Hand ihren Mantel zurück, so daß Elder die beiden verbliebenen Gläser mit weißem Staub sehen konnte, die sie darunter verborgen gehabt hatte. »Oder ich schwöre dir, daß ich diese beiden Gläser in das Ventilationssystem dieses Schiffes schütten werde. Ich weiß, wie man das macht. Thorn hat es mir verraten.«
»Das... das kannst du nicht tun«, stammelte Elder. »Du... du kannst nicht... du kannst nicht zweitausend Menschen umbringen.«
»Nein?« fragte Kara ruhig. »Kann ich nicht?« Sie lachte leise. »Seltsam, noch vor zwei Stunden habe ich das gleiche von dir gedacht.Ich habe mich getäuscht.«
»Sie... sie würden mir nicht gehorchen«, sagte Elder mit zitternder Stimme. »Ich... ich bin nicht der Kommandant dieses Schiffes.«
»Versuche es!« verlangte Kara.
Sekundenlang starrte er sie nur an, suchte verzweifelt nach einem Zögern, irgendeinem Hinweis in ihrem Blick, daß sie nur bluffte, aber er fand nichts. Schließlich nickte er. »Also gut«, sagte er. »Drücke die große Taste auf der rechten Seite.«
Kara tat, was er gesagt hatte, und aus dem kleinen Gerät erklang wieder das Knistern und Rauschen. »Hier spricht Commander Elder«, sagte Elder mit stockender, belegter Stimme. »Stellt den Widerstand ein! Ich wiederhole: Stellt sofort jeden Widerstand ein!«
Sekundenlang antwortete nur statisches Rauschen und Knistern auf seine Worte, dann hörte Kara eine leise, verzerrte Stimme, der man trotzdem das Erstaunen anmerkte. »Bitte, wiederholen Sie das, Commander!«
»Ich habe gesagt, ihr sollt aufhören!« brüllte Elder. »Das ist ein Befehl!«
Diesmal dauerte es beinahe zehn Sekunden, ehe er eine Antwort bekam. »Es tut mir leid, Commander, aber ich glaube, diesen Befehl können wir nicht befolgen.«
»Was soll das heißen!?« schrie Elder. »Ich habe gesagt – «
»Negativ«, unterbrach ihn die Stimme aus dem Gerät. »Ich gehe davon aus, daß Sie diesen Befehl unter Zwang geben.«
»Das ist nicht wahr!« schrie Elder. »Sie werden sich dafür verantworten müssen!«
»Das werde ich, Commander«, antwortete die Stimme aus dem Gerät, »sollte ich mich täuschen.«
Obwohl Kara den Schalter weiter drückte, brach das Knistern und Rauschen ebenso plötzlich ab wie die Stimme. Sie ließ den kleinen Sender sinken. Sie war nicht enttäuscht. Keiner von ihnen hatte damit gerechnet, daß die Verteidiger dieses Schiffes aufgeben würden, nur weil Elder es ihnen befahl. »Ich habe es versucht«, sagte Elder.
Kara kam für gute drei oder vier Minuten nicht dazu, zu antworten, denn ein weiterer Drache landete hinter ihnen in der Halle, und erneut kletterten zwei Dutzend von Thorns Soldaten vom Rücken des Tieres. Einer davon kam mit weit ausgreifenden Schritten herbeigeeilt und wechselte einige halblaute Worte mit Thorn. Er nickte, schickte den Mann wieder fort und wandte sich dann an Kara.
»Sie sind jetzt an fünf Stellen eingebrochen«, sagte er. »Mit ein bißchen Glück schaffen wir es.«
»Mit ein bißchen Glück sind wir in einer halben Stunde alle tot, du Wahnsinniger!« sagte Elder. »Was glaubt ihr, damit erreichen zu können! Bildet ihr euch ein, die anderen würden zusehen? Sie sprengen uns alle in die Luft, ehe sie zulassen, daß dieses Schiff in eure Hände fällt!«
»O nein«, sagte Kara. »Das werden sie ganz bestimmt nicht tun, Elder.« Sie stand auf, beantwortete seinen verwirrten Blick mit einem Lächeln und wollte etwas sagen, als eine ungeheure Explosion das Sternenschiff erschütterte. Der Schlag war so gewaltig, daß sie alle von den Füßen gefegt wurden und einfach übereinanderstürzten. Das Heulen der Alarmsirenen, das bisher eine monotone, an den Nerven zerrende Begleitmusik zu der Schlacht dargestellt hatte, erlosch mit einem quäkenden Mißton, und für zwei oder drei Sekunden ging das Licht aus. Als es flackernd wieder zum Leben erwachte, war es nicht mehr weiß, sondern rot.
Kara richtete sich benommen auf. Das Schiff bebte immer noch unter ihnen, als wolle es auseinanderbrechen, und ein dumpfes, nicht enden wollendes Grollen und Dröhnen lief durch seinen Rumpf. Der ersten, großen Explosion folgte eine Kette kleinerer Detonationen, die sich vom Heck her rasch zum Bug des Schiffes bewegten und doch dabei immer heftiger zu werden schienen. Lodernder Feuerschein drang durch das aufgesprengte Tor herein, und als Kara in seine Richtung blickte, sah sie, daß die Druckwelle die Drachen wie einen Fliegenschwarm durcheinandergewirbelt hatte. Ein Teil des Waldrandes war in Flammen aufgegangen, und außerhalb ihres Sichtbereiches blitzte es immer wieder grell und weiß auf, und jedesmal antwortete aus dem Leib des Schiffes ein schwerfälliges, drohendes Grollen und Zittern darauf.
Aber das tödliche Feuer der Geschütze war erloschen.
Mühsam plagte sie sich auf und wandte sich wieder zu Elder und Thorn um. Elder hatte natürlich versucht, den Moment zur Flucht zu nutzen, aber Hrhon hatte ihn im letzten Moment am Kragen gepackt und grob zurückgezerrt.
»Sie haben es geschafft«, murmelte Thorn ungläubig. Er schüttelte ein paarmal den Kopf und sah Kara an. »Deine Leute haben es wirklich geschafft, den Konverter zu zerstören. Ehrlich gesagt – ich habe es nicht geglaubt.«
»Ich auch nicht«, sagte Kara ganz leise. »Es gibt auch zwei davon.«
»Das spielt keine Rolle.« Thorn machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mit nur einem Konverter können sie den Schutzschild nicht aufrechterhalten. Er braucht zuviel Energie.«
»Dann laß uns keine Zeit mehr verlieren«, sagte Kara und deutete in den Gang hinein. »Deine Leute wissen, worum es geht?«
»Selbstverständlich«, antwortete Thorn in einem Ton, der klarmachte, für wie überflüssig er diese Frage hielt.
Als sie tiefer in das Schiff einzudringen begannen, schwebte ein weiterer Drache hinter ihnen durch das Tor hinein. Nach der Zerstörung des Energiekonverters reichte die Leistung des verbleibenden Gerätes lediglich aus, die lebensnotwendigen Funktionen des Schiffes aufrechtzuerhalten. Doch schlimmer noch als der Ausfall ihrer wirkungsvollsten Waffe schien die Company-Soldaten die Erkenntnis zu treffen, daß sie verwundbar waren. Kara verstand nichts von der Architektur eines Sternenschiffes, aber eines wurde ihr sehr bald klar: Keiner von denen, die es entworfen und gebaut hatten, hatte damit gerechnet, es gegen einen Angreifer verteidigen zu müssen, dem es gelingen würde, seine gepanzerte Haut zu durchbrechen. Die Verteidiger leisteten zähen Widerstand, aber die Zahl von Thorns Männern wuchs mit jeder Minute.
Trotzdem konnte es natürlich nicht gutgehen. Kara und Thorn wußten es, und auch Elder schien es zu wissen, denn in die Furcht und den Schrecken auf seinem Gesicht mischte sich eine immer größer werdende Verwirrung, während sie sich langsam zur Zentrale vorarbeiteten.
Der Widerstand der Company-Soldaten wurde immer erbitterter. Sie kamen immer langsamer voran. Obwohl der Angriff der Drachen auf das Schiff längst vorüber war, hielt das dumpfe Dröhnen und Krachen der Explosionen weiter an.
Manchmal hallte das Schiff wie eine gewaltige Glocke unter den krachenden Explosionen wider, ein paarmal flackerte das Licht, und einmal konnte Kara spüren, wie das ganze, riesige Sternenschiff unter ihren Füßen erbebte, als wolle es auseinanderbrechen. Trotzdem erreichten sie die Zentrale. Wahrscheinlich hätten sie keine Chance gehabt, trotz ihrer Übermacht und des Vorteils, den ihnen die Überraschung verschaffte. Was am Ende die Entscheidung herbeiführte, das war Donays Staub.
Sie hatten viel zu wenig davon, um wirklich das Ventilationssystem des ganzen Schiffes damit verseuchen zu können, wie sie Elder angedroht hatte. Die Zeit hatte für Donay einfach nicht ausgereicht, mehr als ein oder zwei Dutzend der tödlichen Wurfgeschosse herzustellen. Aber das wußten die Verteidiger nicht – und selbst wenn, hätte es wahrscheinlich nicht viel geändert. Elder war nicht der einzige, den ihre neue Waffe in Panik versetzte. Wann immer sie eines der gläsernen Wurfgeschosse auf ihre Gegner schleuderten, ergriffen die, die davongekommen waren, auf der Stelle die Flucht. Sie hatten gehofft, die Company-Soldaten mit Donays Erfindung beeindrucken zu können, aber das wirkliche Ergebnis übertraf selbst Karas künste Erwartungen. Während der letzten Minuten trieben sie die Männer einfach nur noch vor sich her.
Die wahre Größe dieses Schiffes kam Kara erst zu Bewußtsein, als sie in die Zentrale hineinstürmten. Sie war eine Kuppel, deren höchster Punkt dreißig Meter über dem Boden lag und deren verschiedene, ineinandergeschobene Ebenen sich über mehr Raum ausdehnten, als die große Halle im Drachenfels beansprucht hatte. Die gesamte, gegenüberliegende Wand wurde von einem leicht gekrümmten Bildschirm beansprucht, über den sie wie durch ein übergroßes Fenster nach draußen sehen konnte. Es gab darüber hinaus Hunderte von kleineren Schirmen, Hunderte von summenden, mit bunten Lichtern flackernden Computern und geheimnisvollen Gerätschaften, und Dutzende von Pulten, an denen wohl für gewöhnlich die Besatzung des Schiffes saß und dieses riesige stählerne Tier durch die Weiten des Sternenmeeres lenkte.
Im Moment hielt sich allerdings niemand mehr hier auf.
Dafür hatten sich ungefähr drei oder auch vier Dutzend Männer hinter den Instrumentenpulten verschanzt, die Kara und ihr Begleiter sofort unter Feuer nahmen, kaum daß sie die Zentrale betreten hatten. Drei von Thorns Soldaten fielen auf der Stelle, die anderen versuchten, sich hastig in Deckung zurückzuziehen. Zwei weitere PACK-Krieger wurden getroffen, ehe es ihnen gelang.
Auch Kara warf sich blitzschnell zur Seite, als ein ganzes Bündel weißer und blaßblauer Lichtfinger nach ihr stach. Wie durch ein Wunder wurde sie nicht getroffen, schrie aber trotzdem auf, als einer der Blitze sie nur so knapp verfehlte, daß er ihr Haar ansengte. Hastig drehte sie sich zu Hrhon herum, sah, daß der Waga Elder als lebenden Schutzschild vor sich herschob und somit als einziger von den Verteidigern bisher nicht unter Feuer genommen war. Kara gestikulierte ihm, zu ihr zu kommen. Während der Waga und Elder auf sie zustürmten, versuchte sie Thorn in dem allgemeinen Durcheinander irgendwo zu entdecken. Im ersten Moment gelang es ihr nicht. Die Handvoll Männer, die ihm geblieben waren, hatten das Feuer erwidert, und obwohl sie nur sehr wenige Schüsse abgegeben hatten, war die Wirkung verheerend: Bildschirme und Computer explodierten flammenspeiend, und überall zuckten Kurzschlüsse auf. Grauer, ätzender Rauch begann die Luft zu verpesten, und das Flackern der Feuer vermischte sich mit dem roten Schein der Notbeleuchtung und machte es beinahe unmöglich, noch irgend etwas zu sehen.
Endlich entdeckte sie Thorn, nicht einmal sehr weit von sich entfernt. Sie hatten die Zentrale zwar erreicht, waren aber auf einem kleinen Stück dicht hinter der Tür festgenagelt.
Thorn hockte geduckt hinter einem halb in Flammen aufgegangenen Pult kaum zehn Meter neben ihr und sah immer wieder auf das kleine Gerät an seinem linken Arm, von dem er die Zeit ablas.
Wie lange noch? fragte ihr Blick.
Thorn schüttelte den Kopf und gab gleichzeitig einen ungezielten Schuß über den Rand seiner Deckung ab, der eine neue Eruption von Flammen und Rauch zur Folge hatte. Ihre Zeit lief ab.
Auch Kara feuerte, duckte sich hastig wieder und versuchte, über den Rufer Kontakt mit Aires aufzunehmen.
Aires? Kara hier. Wie weit seid ihr?
Keine Antwort.
Kara fluchte lautlos, zählte in Gedanken bis fünf und rief noch einmal nach der Magierin. Aires!
Storm hier! antwortete ein schmerzhaftes Pulsieren in ihrem Nervensystem. Wir haben bis jetzt vier. Halt – ich glaube, fünf. Ja.
Nur fünf?
Thorns Männer kennen sich mit diesem Schiff weniger gut aus, als er uns versprochen hat. Aber wir finden noch mehr.
Nur fünf. Das war zu wenig, dachte Kara bitter. Viel zu wenig. Sie tauschte einen neuen, fast erschrockenen Blick mit Thorn. Wieder schüttelte er stumm den Kopf, dann schlug er mit der flachen Hand auf den Zeitmesser an seinem Arm.
Zieht euch zurück, befahl sie schweren Herzens.
Aber –
Das ist ein Befehl, Storm! unterbrach ihn Kara. Es war ihr gleich, daß alle anderen ihre Worte mithörten. Verschwindet! In ein paar Minuten sind zwei oder drei weitere von diesen Ungeheuern hier. Was glaubst du, was sie mit euch machen werden?
Wir können noch mehr finden! Die Zeit reicht!
Kara ballte ärgerlich die Hand zur Faust. Aires! Bring diesen Narren dazu, daß er gehorcht!
Aires ist tot. Der Rhythmus der feurigen Morseimpulse in ihrem Rückgrat verriet ihr, daß es ein anderer Rufer war, der ihr diese Botschaft übermittelte.
Tot? Aber wie –
Sie war es, die den Konverter zerstört hat, Kara. Sie hat sich mit ihrem Drachen direkt hineingestürzt. Sie und Maran.
Kara registrierte eine Bewegung neben sich und sah, wie Hrhon und Elder auf sie zugelaufen kamen. Zwei, drei Lichtblitze stachen nach ihnen, verfehlten sie aber weit. Offensichtlich versuchten Elders Soldaten, den Waga zu treffen. Sie rutschte vorsichtshalber ein Stück zur Seite, um nicht von Hrhons vierhundert Pfund erdrückt zu werden.
Zieht euch zurück, befahl sie noch einmal. An alle. Kara hier! Brecht den Angriff ab. Flieht! Verteilt euch im Dschungel.
Wenn ihr die Drachen unter die Baumwipfel bringt, können sie euch mit ihren Wärmesuchern nicht entdecken!
Elder starrte sie durchdringend an, als sie die Übertragung beendet hatte und den Kopf hob. Offensichtlich hatte er an dem trüben Blick ihrer Augen bemerkt, was sie tat. Was er nicht bemerkt hatte, war die Angst, die Kara in diesen Augenblicken ausgestanden hatte. Donay hatte ihnen nicht versprechen können, daß der mutierte Parasit nicht noch immer in der Lage war, die telepathischen Impulse der Rufer zu orten und sich daranzuhängen. Und sie hatten sehr großzügig von dem weißen Staub Gebrauch gemacht, den er aus der von Silvy aus dem Schlund mitgebrachten Probe entwickelt hatte. Nun, dachte Kara erleichtert – diese Frage hatte sie gerade beantwortet. »Verabschiedest du dich gerade von deinen Freunden?« fragte Elder ruhig. »Dir ist doch wohl klar, daß keiner von euch diesen Irrsinn überleben wird, oder?«
Er mußte schreien, denn der Lärm in der Zentrale hatte eine unbeschreibliche Intensität erreicht. Kara schloß geblendet die Augen, als eines der Pulte, hinter denen Thorns Männer Deckung gesucht hatten, in einer grellen Stichflamme explodierte. Statt auf seine Frage zu antworten, griff Kara unter ihren Mantel und zog eines der beiden letzten Gläser hervor, die ihr verblieben waren. Ohne zu zielen schleuderte sie es in die Zentrale hinein. Wie ein funkelnder Stern segelte es in hohem Bogen durch die Luft, neigte sich auf dem höchsten Punkt seiner Bahn wieder – und explodierte, als es ein blaßblauer Lichtstrahl traf.
Kara warf sich entsetzt flach auf den Boden, und auch Elder schrie etwas, das sich wie Verdammte Idioten! anhörte, und ließ sich mit vor das Gesicht gerissenen Armen zur Seite fallen, während sich der glitzernde Staub in der Zentrale ausbreitete. Die Wirkung war verheerend. Wäre das Glas auf dem Boden aufgeprallt, hätte es einen Bereich von fünf, allerhöchstens sieben oder acht Metern im Umkreis verseucht. So aber breitete sich der glitzernde weiße Dunst fast über ein Drittel des Zentraldomes aus; ein dünner, kaum sichtbarer Nebel, der Schlimmeres als den Tod brachte.
Elders Soldaten versuchten voller Panik, sich in Sicherheit zu bringen. Obwohl Thorn und seine drei überlebenden Männer weiter auf sie schossen, sprangen sie hinter ihren Verstecken hoch und rannten schreiend davon.
Die wenigsten schafften es.
Wen die grünen Lichtblitze verfehlten, den holte der Staub ein.
Die entsetzlichen Bilder, die Kara auf dem Weg hier herauf gesehen hatte, wiederholten sich. Männer stürzten wie vom Blitz getroffen zu Boden oder blieben einfach stehen, begannen zu kreischen, zu lachen und andere sinnlose Dinge zu tun. Einer hob seine Waffe und feuerte schreiend auf seine eigenen Kameraden, ehe Thorn ihn niederstreckte, ein anderer stürzte sich mit einem irrsinnigen Lachen und ausgebreiteten Armen in die Flammen eines brennenden Schrankes. Er lachte noch immer, während er bei lebendigem Leib verbrannte.
Kara wandte sich schaudernd ab. Während sie das letzte Glas unter dem Mantel hervorzog, streifte ihr Blick den Bildschirm. Er war so eingestellt, daß er tatsächlich wie ein Fenster nach draußen wirkte. Das Schiff hatte viel von seiner fremdartigen Schönheit verloren. Eine der beiden gewaltigen Kristallkuppeln an seinem Heck war zersplittert; hundert Meter hohe Flammen und schwarzer Rauch quollen hervor, und das Licht der zweiten war nicht mehr gleichmäßig und sanft, sondern pulsierte in einem stechenden, unangenehmen Orange, wie ein leuchtendes Herz, das aus dem Takt geraten war und zu zerbrechen drohte. Die stählernen Flanken des Riesen hatten häßliche Brandwunden bekommen, und Kara entdeckte allein auf den ersten Blick ein halbes Dutzend gewaltsam geschaffener Öffnungen, aus denen ebenfalls Rauch und Flammen quollen.
Und Drachen.
Zuerst war es nur einer, ein verschwommener, zuckender Schemen, der wie ein Gespenst aus dem Rauch auftauchte und davonflog, dann kam ein zweiter hinzu, ein dritter – und plötzlich, schneller, als sie gekommen waren, verließen die Drachen den geschlagenen Riesen von den Sternen wieder und schwangen sich in die Luft über dem Wald empor.
Wie weit würden sie kommen? Kara schätzte, daß ihnen noch zehn Minuten blieben, ehe Elders andere Schiffe heran waren.
Sie wog das kleine Glasgefäß nachdenklich eine Sekunde in der Hand, ehe sie sich wieder an Elder wandte. »Das ist deine allerletzte Chance, Elder«, sagte sie. »Befiehl ihnen, die Waffen niederzulegen, und ich verzichte darauf, dieses Glas zu öffnen. Wenn nicht...« Sie bewegte den Schraubverschluß eine halbe Drehung weit.
Elder fuhr erschrocken zusammen. Trotzdem schüttelte er den Kopf. »Das wagst du nicht«, behauptete er. »Du würdest genauso den Verstand verlieren wie ich.«
»Vielleicht«, sagte Kara ruhig. Sie zuckte die Schultern. »Na und? Ich wäre ein paar Minuten lang verrückt. Deine Leute würden mich ohnehin töten. Bei dir aber ist es etwas anderes. Wieviel Zeit bleibt dir noch, wenn dir niemand den Gefallen tut, dein Gehirn in Stücke zu schlagen? Zweihundert Jahre? Fünfhundert! Eine verdammt lange Zeit, um als sabberndes Wrack weiterzuleben.«
»Du bluffst«, behauptete Elder.
Sekundenlang bohrte sich Karas Blick in seine dunklen, haßerfüllten Augen, dann sah sie noch einmal auf den gewaltigen Monitor. Die Drachen verließen noch immer das Schiff. Ihre Bewegungen waren sehr viel ruckhafter und nicht halb so kraftvoll wie gewohnt. Vermutlich waren es die verwundeten und sterbenden Tiere, die bis zuletzt zurückgeblieben waren,. um den anderen einige wenige Sekunden Vorsprung zu verschaffen. Kara drehte sich wieder zu Elder um, und wieder fochten ihre Blicke ein lautloses, stummes Duell. Dann streckte er ganz langsam die Hand aus, zögerte, bewegte sie weiter und zögerte noch einmal. Als er begriff, daß sie sich nicht wehren würde, führte er die Bewegung zu Ende und nahm ihr behutsam das Glas aus der Hand. Er warf einen irritierten Blick über die Schulter zu Hrhon zurück. Auch der Waga machte keine Anstalten, ihn wieder zu packen, oder auch nur daran zu hindern, Kara die tödliche Waffe aus der Hand zu nehmen.
»Waffenstillstand?« fragte sie.
Elder war nur verwirrt. »Was?«
»Ich gebe auf«, sagte Kara. Drei, vier Augenblicke lang weidete sie sich einfach an dem völlig verständnislosen Ausdruck auf seinem Gesicht, dann beugte sie sich nach rechts, um an seiner und Hrhons Gestalt vorbei zu Thorn hinüberzusehen. Der PACK-Agent blickte sie an, und Kara gab ihm das vereinbarte Zeichen. Thorn warf seine Waffe in hohem Bogen über den Rand seiner Deckung, zögerte noch einen Herzschlag lang und richtete sich dann mit hoch erhobenen Armen hinter seinem Pult auf. Angst spiegelte sich auf seinem Gesicht. Aber niemand schoß auf ihn oder auf die beiden anderen PACKKrieger, die nach einem Augenblick dem Beispiel ihres Kommandanten folgten. Nach allem, was bisher geschehen war, mußte ihre plötzliche Aufgabe die Zentralbesatzung mehr verblüffen als alles andere.
»Was... was soll das jetzt wieder?« stammelte Elder. »Ist das ein neuer Trick?«
»Kein Trick«, antwortete Kara. Ganz langsam erhob auch sie sich. Aber sie ließ ihre Waffe nicht fallen, sondern hielt den Lauf des erbeuteten Gewehres unverrückbar auf das gläserne Gefäß in Elders Händen gerichtet. »Wir geben auf – unter einer Bedingung.«
Elders Augen wurden schmal vor Mißtrauen. »Und welcher?«
»Du läßt sie gehen.« Kara machte eine Kopfbewegung auf den Bildschirm. Sie sah nicht hin, aber sie wußte, daß längst nicht alle Drachen das Schiff verlassen hatten. Sie hoffte nur, daß die Tiere, auf die es ankam, nicht mehr im Schiff waren, wenn Elders Verstärkung eintraf. Wann? In zwei Minuten? Drei?
»Ich... begreife nicht, was – «
»Dein Wort!« unterbrach ihn Kara. »Du läßt meine und Thorns Krieger das Schiff verlassen, und du wirst leben. Oder wir sterben beide.«
»Du weißt, daß ich das nicht kann«, sagte Elder leise. »Man wird diesen Angriff nicht einfach hinnehmen, als wäre nichts geschehen. Sie werden sie für den Rest ihres Lebens jagen.«
»Einige werden entkommen«, sagte Kara. »Vielleicht nur eine Handvoll. Aber ihr werdet nicht alle kriegen.«
Wieder vergingen Sekunden, kostbare, unendlich wertvolle Sekunden, die sie für Storm und die anderen unwiederbringlich gewonnen hatte, ganz gleich, wie sich Elder entschied.
Und plötzlich nickte er. »Also gut«, sagte er leise. Dann wandte er sich lauter an die anderen Anwesenden in der Zentrale. »Ihr habt es gehört. Sie ziehen sich zurück. Laßt sie gehen.«
Der Kampf war vorüber, und Kara konnte spüren, daß die Anspannung wie eine körperliche Last von ihr abfiel.
Überall in der Zentrale richteten sich Männer hinter ihren Deckungen auf, senkten ihre Waffen oder starrten sie, Thorn und Hrhon einfach fassungslos an. Es wurde nicht still – der weiße Staub hatte erst zwanzig Männer ergriffen, die weiter schrien, kicherten oder auf andere Weise Lärm machten. Ganz am Rande begriff Kara, daß sie es vielleicht sogar geschafft hätten. Alles in allem waren nicht einmal mehr zehn kampffähige Verteidiger übriggeblieben.
Aber das spielte keine Rolle mehr.
»Ich habe dein Wort«, sagte sie ganz leise.
Elder lächelte traurig. Aber dann drehte er sich mit einem Ruck herum, gab einem seiner Männer einen Wink, auf Kara und Hrhon achtzugeben, und trat an eines der wenigen noch nicht in Brand geschossenen Pulte. Er drückte eine Taste. Als er sprach, hallte seine Stimme aus einem Lautsprecher verstärkt in der Zentrale wider und vermutlich auch im gleichen Augenblick im gesamten Schiff. »Hier spricht Commander Elder. Die Angreifer ziehen sich zurück. Der Kampf ist vorbei. Verfolgt sie nicht. Ich wiederhole: Die Gegner werden nicht verfolgt. Ich übernehme die volle Verantwortung für diesen Befehl.«
Er wandte sich wieder zu Kara um, sah sie an. »Zufrieden?«
»Ja.«
»Warum, Kara!« murmelte er. Er wollte weitersprechen, fand aber keine Worte und machte nur eine weit ausholende Geste, die die verwüstete Zentrale, die Toten und Verwundeten einschloß und fragte noch einmal: »Warum?«
»Nimm an, wir hätten es versucht und verloren«, sagte Kara. Sie wollte es nicht, aber ihr Blick blieb an einem der gekrümmten Bildschirme hängen, und plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Es war einfach zu viel geschehen, als daß der Schmerz Gewalt über ihr Denken hätte erlangen können, aber nun war der Kampf vorbei, und dieser letzte Schutz war ihr genommen. »Nicht alle Kriege werden gewonnen, Elder. Vielleicht habe ich gerade einen verloren.«
»Das ist nicht der Grund«, sagte Elder ruhig. »Fast alle deine Krieger sind tot, Kara. Die meisten eurer Drachen. Warum? Selbst wenn...« Er machte eine hilflose Geste und setzte mit einiger Überwindung noch einmal an. »Selbst wenn ihr dieses Schiff erobert hättet, wäre es ein sinnloser Sieg gewesen.«
»Ich weiß«, flüsterte Kara. »Deine Männer dort oben hätten es ebenso zerstört, wie sie Thorns Schiff zerstört haben, nicht wahr? Ob mit oder ohne dich an Bord.«
Elder sah zu Thorn hinüber, als erblicke er ihn zum ersten Mal. Aber er sagte nichts, sondern nickte nur.
»Du willst wissen, warum?« Kara lachte bitter und griff unter ihren Mantel. Ein halbes Dutzend Gewehre richtete sich gleichzeitig auf sie, aber Elder winkte hastig ab.
Es war auch keine Waffe, die Kara hervorzog, sondern ein zusammengefaltetes Blatt Papier, das gleiche Blatt, das sie Donay vor weniger als vierundzwanzig Stunden gereicht hatte. Elder wollte danach greifen, aber sie zog die Hand im letzten Augenblick wieder zurück.
»Weil ich die Wahrheit erfahren habe, Elder«, sagte sie. »Ich habe vor der gleichen Tür gestanden wie du, Elder, aber es ist uns gelungen, die Inschrift zu übersetzen. Ich weiß, was sie bedeutet. Du auch?«
Er schüttelte stumm den Kopf. Aber der Schrecken in seinen Augen bewies ihr, daß er log.
»Du hast uns belogen, Elder«, murmelte Kara. »Du hast mich belogen. Jedes Wort, das du gesprochen hast, war Lüge. Die Geschichte unserer Welt! Die Alte Welt, die sich selbst in die Luft gesprengt hat. Der tragische Irrtum, der zur Kolonisation unseres Planeten führte! Wie konnte ich dir jemals glauben.«
»Ich... verstehe nicht ganz...« murmelte Elder.
»Du verstehst nicht?« Kara schrie ihn an. »Dann lies!«
Sie wollte ihm das Blatt ins Gesicht schleudern, aber sie hatte einfach nicht mehr die Kraft dazu. Ihre Finger zitterten plötzlich so heftig, daß ihr das Papier entglitt und Elder sich bücken mußte, um es aufzuheben.
Sie beobachtete ihn genau, während er den Text las – einmal, zweimal, schließlich dreimal, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war nicht Schrecken, auch nicht Überraschung. »Das... das habe ich nicht gewußt«, sagte er schließlich. »Du lügst«, antwortete Kara.
»Das ist nicht gesagt.«
Kara war ziemlich verwirrt, daß es ausgerechnet Thorn war, der Elder zu Hilfe kam, aber sie widersprach nicht, sondern sah ihn nur fragend an.
»Jemand hat es gewußt«, fuhr Thorn fort. »Aber wahrscheinlich nicht er. Ich habe es auch erst erfahren, nachdem du uns den Weg zu diesem Bunker gezeigt hast. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, dann hätten sie mir vermutlich auch nicht die ganze Wahrheit gesagt.« Mit einem verächtlichen Blick in Elders Richtung fügte er hinzu: »Aber er muß es zumindest geahnt haben.«
»Ein kleiner Fehler!« fuhr Kara mit zitternder Stimme fort. Selbst zum Schreien fehlte ihr plötzlich die Kraft. »Der einzige Fehler war vermutlich, daß es uns noch gibt! Es war nicht geplant, daß jemand überlebt, nicht? Oder war es ein anderer Fehler! War der Irrtum der, daß PACK den Zuschlag für die Eroberung dieser Welt bekam, und nicht deine Firma – ?«
Elder schwieg. Wieder richtete sich sein Blick auf das Papier, das die Übersetzung der schrecklichen Worte enthielt, die Kara auf jener Tür drei Meilen unter Schelfheim gelesen hatte. »Die Alte Welt...« flüsterte Kara mit gebrochener Stimme. »Unsere Vorfahren haben sich nicht gegenseitig vernichtet, Elder. Ihr wart es! Eure Schiffe! Die Raumschiffe der gleichen Company, die diesen Planeten erschlossen und zu einer Welt gemacht haben, auf der Menschen leben können! Wie langt habt ihr ihnen gegeben? Hundert Jahre? Tausend?«
»Bitte, Kara!« sagte Elder, aber sie unterbrach ihn sofort wieder.
»Hättet ihr es hier auch wieder getan? Ist das euer Erfolgsgeheimnis? Ihr erschließt einen Planeten und verkauft ihn an den, der am meisten dafür zahlt. Aber euer Reich ist groß, nicht wahr? Das hast du mir ja selbst gesagt. So groß, daß meine Phantasie nicht ausreicht, es mir vorzustellen. So groß, daß dann und wann einmal eine Kolonie einfach vergessen wird oder sorgt ihr dafür, daß man sie vergißt?«
»Kara, bitte, hör auf«, sagte Elder. »Du verstehst – «
»Ich verstehe genug«, unterbrach ihn Kara. »Wir sind euch so ähnlich, daß höchstens ein Biologe den Unterschied bemerken würde, wie? Die Alte Welt war eine Kolonie eures Sternenreiches! Unsere Vorfahren und deine sind identisch.« Sie griff in die Tasche, zog die Brosche hervor, die sie in dem Koffer gefunden hatte, und schleuderte sie ihm vor die Füße. »Eure eigenen Leute, Elder! Ihr habt sogar eure eigenen Leute umgebracht! Der Zehnte Krieg! Es gab keinen Zehnten Krieg, Elder. Es gab nur einen einzigen, und das war kein Krieg, den unsere Vorfahren gegeneinander gekämpft haben! Es war ein Überfall aus dem Weltraum! Es waren eure Schiffe, die die Atombomben geworfen haben! Ja, du hast recht, wenn du sagst, daß unsere Welt eine Hölle ist. Das ist sie seit zweihunderttausend Jahren! Aber ihr habt sie dazu gemacht!«
»Das stimmt nicht, Kara«, sagte Elder leise. »Ja, ich gebe zu, ich habe gewußt, daß dieser Planet eine ehemalige Kolonie der Company ist und daß es ein Atomschlag aus dem Weltall war, der ihn verwüstet hat. Aber was hätte es genutzt, wenn ich dir das erzählt hätte? Glaubst du wirklich, daß wir unsere eigenen Leute umbringen?«
»Ich weiß es, Elder«, antwortete Kara haßerfüllt. »Es ist nicht nur diese Tür. Thorns Männer haben die Räume dahinter freigelegt. Geh hinunter und sieh es dir an! Sieh dir die Bilder an, die sie für die Ewigkeit dort unten aufbewahrt haben! Es waren eure Raumschiffe, die die Bomben geworfen haben! «
»Sie sagt die Wahrheit«, sagte Thorn leise. »Ich war dort. Die Beweise existieren.«
»Das wußte ich nicht«, murmelte Elder. »Bitte, glaubt mir, daß ich das nicht gewußt habe.«
»Aber irgend jemand hat es gewußt«, sagte Kara. »Die, die dich geschickt haben, Elder, wissen es. Sie haben es getan, und sie tun es vermutlich noch immer. Wie oft, meinst du, haben sie diesen Planeten schon verkauft? Zweimal? Zehnmal?«
Elder schwieg. Kara spürte, daß der Ausdruck von Erschütterung auf seinem Gesicht nicht gespielt war.
»Wenn... wenn das stimmt, Kara«, sagte er, »dann verspreche ich dir, daß sie dafür bezahlen werden. Ich werde dafür sorgen, daß es alle erfahren. Sie – «
»Nein«, unterbrach ihn Thorn. »Das wirst du nicht, und du weißt das auch. Glaubst du wirklich, sie lassen dich am Leben – mit diesem Wissen! Sie werden dich so wenig am Leben lassen, wie du uns verschonen wolltest. Die Company ist erledigt, wenn diese Wahrheit ans Licht kommt.«
»Ich werde – «
»Du wirst gar nichts«, unterbrach ihn Thorn erneut. »Kara sagt die Wahrheit. Sie haben diesen Planeten vor zweihunderttausend Jahren angegriffen. Wahrscheinlich haben sie es schon ein Dutzend Mal getan, und wahrscheinlich tun sie es noch immer.« Er lachte bitter. »Du weißt doch, wie selten Planeten sind, die das Potential haben, zu einer bewohnbaren Welt umgeformt zu werden. Die Company rechnet in großen Maßstäben, nicht wahr? Und zweihunderttausend Jahre sind selbst für uns lang genug, um eine Kolonie zu vergessen. Vermutlich tut PACK dasselbe, und die anderen Firmen auch.«
»Hast du dich... deshalb auf ihre Seite geschlagen?« fragte Elder zögernd.
»Ja«, antwortete Thorn. »Der zweite Grund war, daß dieses Mädchen mir klargemacht hat, daß es meine einzige Chance ist, mit dem Leben davonzukommen. Dir ist doch wohl klar, daß sie diesen Planeten in eine Sonne verwandeln werden, wenn sie auch nur vermuten, daß hier irgend jemand die Wahrheit weiß. Und ich rede nicht nur von der Central-Company. Ich schätze, es hätte wenig Sinn gehabt, wenn ich mit meinem Wissen zu meinen Leuten gegangen wäre. Es ist mir ziemlich egal, ob die Company oder PACK die Bomber schickt.«
»O mein Gott«, flüsterte Elder. Er starrte Thorn an, dann Kara. Seine Hand schloß sich zur Faust und zerknüllte das Blatt, ohne daß er es auch nur registrierte.
»Aber das wird nicht geschehen«, sagte Kara leise.
Verwirrt blickte Elder auf. Kara deutete auf den Monitor. »Es wird Zeit, daß du mit deinen Freunden sprichst, Elder«, sagte sie. »Die Kommandanten der anderen Schiffe. Sie könnten einen Fehler begehen und uns angreifen.«
»Und was soll ich ihnen sagen?« murmelte Elder. »Wenn es wirklich so ist, wie ihr sagt, dann hat keiner von uns noch eine Chance, lebend von dieser Welt wegzukommen.«
»Ich weiß«, antwortete Kara. »Aber was mich angeht, so macht das nichts. Und ihr...« Sie seufzte, dann raffte sie sich zu einem Lächeln auf. »Hast du vergessen, was du selbst gesagt hast, Elder! Du hast versprochen, daß ihr unsere Welt in ein Paradies verwandeln werdet. Ich könnte verlangen, daß ihr das tut. Ich bin sicher, deine und auch seine Firma« – sie deutete auf Thorn – »würden sich gegenseitig darin überbieten, aus diesem Planeten tatsächlich ein Paradies zu machen. Du wirst mit deinen Leuten reden, und wenn du es getan hast, dann werden sie an unserer Welt ihr Meisterstück vollbringen, wenn wir es wollen. Aber wir verzichten darauf. Laßt uns einfach nur in Ruhe, das ist alles, was wir wollen.«
»Sie werden die Sonne in eine Nova verwandeln. Oder ein Schwarzes Loch auf diese Welt stürzen lassen.«
Kara lächelte. »Das werden sie nicht, Elder«, sagte sie überzeugt. »Es wäre ihr eigenes Ende.«
Elder sah sie fragend an.
»Du hast mich gefragt, warum wir dieses Schiff angegriffen haben«, sagte Kara. »Ich will es dir sagen. Du selbst hast mir die Lösung verraten, Elder. Erinnerst du dich, als du von der Rettungskapsel gesprochen hast, die dein Boot aussetzte, ehe es zerstört wurde. Das... wie hieß es noch gleich? DSRV?«
Elder nickte. »Sicher.«
»Sie sind wirklich so schnell, daß niemand sie aufhalten kann, nicht wahr!« fragte Kara.
Elder nickte wieder.
»Wir haben fünf davon erbeutet«, sagte Kara. Sie deutete auf Thorn. »Er hat uns gezeigt, wie man sie umprogrammiert. Und seine Männer sind in diesem Moment dabei, sie zu starten.«
»Wie bitte?« murmelte Elder.
»Aber wozu – ?«
Mit einer müden Geste deutete Kara auf das zerknitterte Blatt in Elders Hand. »Sie enthalten Kopien davon, Elder, und von allem anderen, was wir in dem Bunker unter der Stadt gefunden haben. Die Wahrheit, Elder. Das Ende für deine Firma – und vermutlich für alle anderen Terraforming-Unternehmen, die es in eurem Reich gibt.«
Elder schien nur ganz allmählich überhaupt zu begreifen, was Kara meinte. »Du... du willst sie... erpressen?«
»Wenn du es so nennen willst.« Kara machte eine wegwerfende Geste. »Geh an dein Funkgerät, Elder. Sag ihnen folgendes: Diese fünf Schiffe sind von uns so programmiert worden, daß sie irgendwo in der Galaxis warten. Ihr könnt euch die Mühe sparen, uns verhören zu wollen. Keiner von uns hier weiß, wo sie sind oder wie man sie zurückruft. Solange ihr uns in Ruhe laßt, werden diese Sonden niemals ankommen. Aber wenn wir sie aktivieren, werden sie die fünf größten Planeten eures Reiches anfliegen und die Wahrheit in die Galaxis hinausschreien. So laut, daß jeder sie hört.«
»Wenn ich ihnen das sage, dann sind wir alle tot, ehe ich das Funkgerät ausschalte«, sagte Elder.
»Das glaube ich kaum«, sagte Thorn. »Kara und ihre Leute wären vielleicht nicht in der Lage gewesen, so etwas zu tun aber meine Techniker waren es. Weißt du, was eine Totmannschaltung ist?«
Elder biß sich auf die Unterlippe und schwieg.
»Wir haben eine gebastelt«, sagte Thorn. »Ich gebe zu, reichlich improvisiert – aber sie funktioniert. Sollte dieser Welt oder ihren Bewohnern irgend etwas zustoßen, dann sind die Company und PACK und alle anderen erledigt.«
»Ihr blufft!« behauptete Elder. Aber er wirkte nicht völlig überzeugt. »Du... du wärst für den Rest deines Lebens auf dieser Welt gefangen, ist dir das klar? Selbst wenn sie auf diese Erpressung eingehen, lassen sie keinen von uns jemals wieder hier weg!«
»Es ist ein hübscher Planet«, sagte Thorn lächelnd. »Ein bißchen wild, aber ich denke, ich werde mich daran gewöhnen.«
Lange, endlos lange stand Elder einfach da und starrte abwechselnd ihn und Kara und das Blatt in seiner Hand an. Dann drehte er sich mit müden Bewegungen und hängenden Schultern herum und ging zum Schaltpult des Kommandanten hinüber, um mit den anfliegenden Company-Schiffen Kontakt aufzunehmen.
Und plötzlich wußte Kara, daß sie gewonnen hatten.
Es war gleich, ob sie fünf oder fünfzig oder nur eine der Rettungssonden erbeutet hatten. Elder glaubte ihr, und seine Auftraggeber würden ihm glauben, denn sie hatten gar keine andere Wahl. Schon die bloße Möglichkeit, daß Karas Drohung der Wahrheit entsprach, würde sie für alle Zeiten davon abhalten, diesen Planeten noch einmal anzugreifen.
Einen Moment lang überlegte sie, ob sie Elder nicht zurückrufen und ihm mitteilen sollte, daß sie den Preis erhöhen würde. In einem Punkt hatte er die Wahrheit gesagt: Sie könnten diese Welt in ein Paradies verwandeln. Und sie würden es tun, wenn Kara es verlangte. Ein Wort von ihr genügte, und dieser Planet, diese Hölle, wie sie selbst ihn oft genug genannt hatte, würde der wundervollste Platz im ganzen Universum werden.
Aber dann sah sie Hrhon an, und plötzlich wußte sie auch, daß in einem solchen Paradies kein Platz mehr für Wesen wie ihn sein würde. Sie konnte das Paradies haben, aber es wäre Elders Paradies, nicht ihres. Und so schwieg sie, denn eigentlich gefiel ihr diese Welt so, wie sie war.
Einfach, weil es ihre Welt war.