Der kurze, aber heftige Streit mit der Magierin beschäftigte Kara die ganze Nacht. Sie war zornig und verunsichert, denn sie war keineswegs davon überzeugt, daß sie wirklich richtig gehandelt hatte. Nachdem ihre erste Erregung abgeklungen war, hatte sie sich sehr schnell eingestanden, daß Aires sie vermutlich mit wenigen Worten hätte überreden können, in den Hort zurückzukehren. Für gewöhnlich wäre sie auch so vorgegangen, aber statt dessen hatte sie es auf diese sinnlose Machtprobe ankommen lassen.
Es mußte lange nach Mitternacht sein, als sie sich der Stadt näherten. Die knapp zweihundert Seelen zählende Ansiedlung, die hier inmitten des Schlundes entstanden war, lag nicht weniger als zweihundert Meter über dem Boden, erbaut auf den Ästen der gewaltigen Bäume, die aus Gäas alles verschlingendem Sumpf hervorwuchsen.
In die Baumwipfel war eine gewaltige Schneise geschlagen worden, ein riesiger Krater, dessen Wände aus lebendem Grün bestanden, so daß das Sonnenlicht hereinfallen konnte, zugleich aber die größeren Raubtiere daran gehindert wurden, sich der Stadt unentdeckt zu nähern. Der Boden dieses künstlichen Kraters gestaltete sich als ein Gewirr unterschiedlich hoher und verschachtelter Ebenen. Hier und da waren die Lücken zwischen den einzelnen Ästen durch stabile Brücken- und Holzkonstruktionen geschlossen worden, aber überall, wo es nur möglich war, hatten die Erbauer der Stadt die von der Natur vorgegebenen Bedingungen genutzt. Die meisten Häuser waren gar keine Häuser, sondern gewaltige Äste, die nur ausgehöhlt worden waren.
Eine der größten Gefahren des Schlund-Waldes war die Nacht. Diese gewaltige, aus vielen unterschiedlichen Ebenen bestehende Welt war fast zur Gänze in immerwährende Dunkelheit getaucht, denn die Wipfelregion des Dschungels war so dicht, daß das Sonnenlicht selbst an einem wolkenlosen Tag nur wenige Dutzend Meter tief hineindrang, ehe es zu einem grüngrauen Schimmer verblaßte und schließlich ganz erlosch. Daher hatten sich die meisten Geschöpfe dem Leben in ewigem Zwielicht angepaßt und fürchteten den Tag, denn Licht bedeutete für die meisten Bewohner dieser Welt nicht Leben, sondern Tod, und also war die wirksamste Verteidigung, die die Stadt besaß, Licht.
Aber unter ihnen herrschte fast vollkommene Finsternis. Kara ließ drei, vier weitere Kreise über der Waldstadt ziehen, ehe sie ganz langsam tiefer ging. Ihre Unruhe wuchs mit jedem Augenblick. Der gleißende Ring aus Leuchtbakterien, der rings um die Stadt herum die Nacht zum Tage machte, war ebenso verschwunden wie die Unzahl von Leuchtstäben, die die Straßen und Brücken säumen sollten. Sie sah nur ein einziges, blaßgelbes Licht, das in einem der kleineren Häuser brannte. Der Rest der Stadt lag wie tot unter ihr.
Wie tot?
Nein. Sie war tot, dachte Kara erschüttert. Dort unten lebte nichts mehr, doch nicht nur die Stadt, auch der Dschungel ringsum war vollkommen still.
Maran! Tess! befahl sie. Ihr folgt mir. Die anderen halten Abstand. Kommt dem Dschungel nicht zu nahe!
Zwei der geflügelten Schatten brachen aus der Formation aus und näherten sich ihr. Nach einigem Zögern fügte Kara hinzu:
Aires? Würdest du uns begleiten?
Sie erhielt keine Antwort, aber einen Moment später tauchte ein dritter Drache in den Krater hinab und gesellte sich zu den beiden Tieren, die Markor folgten.
Unendlich behutsam glitt Kara tiefer. Das Gefühl, sich in einem gewaltigen Grab zu befinden, wurde immer bedrängender, je näher sie der Stadt kamen. Kara war plötzlich sehr sicher, daß dort unten niemand mehr lebte. Aber sie spürte auch, daß es nicht Gäa war, die diese Stadt ausgelöscht hatte. Kara ließ Markor fünfmal über die große freie Fläche im Zentrum der Stadt hinweggleiten, die eigens als Landeplatz für die geflügelten Boten des Hortes erbaut worden war, ehe sie endlich niederging. Ihr Blick suchte sehr aufmerksam den Boden ab, bevor sie vom Rücken des Drachen herunterglitt. Markor bewegte sich mit einem ungeschickt anmutenden Schritt zur Seite, um Platz für die drei anderen Tiere zu machen, und Kara sah sich mit klopfendem Herzen um.
Alles war still. Selbst der Wind schien sich gelegt zu haben. Die Gebäude, die schon aus der Luft einen sehr verwirrenden Eindruck gemacht hatten, weigerten sich hier am Grund vollends, sich zu irgendeiner Ordnung zusammenzufinden. Die Finsternis schnürte Kara beinahe die Kehle zu. Maran trat neben sie und dann auch Tess und als letzte Aires. Die Magierin wich Karas Blick aus, aber sie tat es wie zufällig und ohne daß die beiden anderen etwas von ihren wahren Beweggründen bemerken konnten.
Schweigend sahen sie sich um. Dunkelheit und Stille waren so bedrückend, daß sie alle vier sich sehr behutsam und so leise bewegten, als fürchteten sie, durch ein zu lautes Geräusch irgendeine Bedrohung aufzuwecken, die irgendwo unmittelbar in den Schatten dieser Totenstadt lauerte.
Den ersten Beweis, daß etwas nicht stimmte, fanden sie nach wenigen Schritten. Wie überall gab es auch am Rande dieses Platzes eine Unzahl von Leuchtstäben, die für gewöhnlich wie ein in hellem Blau leuchtender Zaun die Nacht erleuchteten. Doch sie waren erloschen und dienten als ein nutzloses Hindernis in der Dunkelheit. Kara näherte sich diesem Zaun, ging vorsichtig in die Hocke und streckte die Hand aus.
»Faß sie nicht an!«
Kara zog erschrocken den Arm wieder zurück und blickte Aires an.
»Faßt überhaupt nichts an«, sagte die Magierin ernst. »Berührt so wenig wie möglich, solange wir nicht wissen, was hier passiert ist.« Sie ließ sich neben Kara auf die Knie sinken – und tat genau das, was sie Kara verboten hatte: Sie löste einen der Stäbe behutsam aus seiner Verankerung und drehte ihn in den Händen. Erst dann sah Kara, daß sie dünne, fleischfarbene Handschuhe trug, die fast bis zu den Ellbogen hinaufreichten.
Aires untersuchte den Stab sorgfältig, dann zog sie einen schmalen Dolch aus dem Gürtel und stieß ihn in das Holz. Mit einem kräftigen Ruck spaltete sie den Stab und wischte die Spitze ihres Messers sorgsam am Boden ab, ehe sie es wieder einsteckte; zuletzt nahm sie die beiden Hälften des Leuchtstabes in beide Hände.
Kara und die beiden anderen konnten nicht viel erkennen: das Innere des Stabes bestand aus mürbem, von zahllosen Rissen durchzogenem Holz; nichts Ungewöhnliches für Leuchtstäbe, die von den in ihnen wohnenden Bakterien aufgefressen wurden, um die nötige Energie für die Erzeugung des blauen Lichts zu gewinnen. Aber wo die leuchtenden Schimmelflecken sein sollten, gewahrte Kara nichts als nur eine schmierige, graue Masse. Ein schwacher, aber sehr unangenehmer Geruch drang in die Nase.
»Tot«, murmelte Aires. »Sie sind tot. Etwas... hat sie umgebracht.«
Sie sah zu Maran auf. »Ihr wart gestern erst hier?«
»Nicht direkt«, räumte Maran ein. »Wir waren vielleicht zwanzig Meilen entfernt. Die Stäbe haben aber noch geleuchtet.«
»Bist du sicher? Ihr wart tagsüber hier?«
»Man sieht sie auch bei Tage«, antwortete Tess an Marans Stelle. »Nachts leuchten sie an die hundert Meilen weit. Ich habe mich schon die ganze Zeit über gewundert, wo das Licht geblieben ist.«
Aires seufzte tief und legte den zerbrochenen Stab aus der Hand. »Das heißt, sie sind innerhalb eines einzigen Tages gestorben«, murmelte sie. »Alle.«
»Aber das ist völlig unmöglich!« sagte Kara.
Aires lächelte bitter, stand auf und wandte sich dem nächstliegenden Haus zu. Mit klopfendem Herzen folgten ihr Kara und die anderen. Kurz bevor sie die Tür erreichten, zog Aires einen kleinen Leuchtstab aus der Jacke und entfernte die Seidenumhüllung. Es dauerte eine Weile, bis der Sauerstoff das Holz weit genug durchtränkt hatte, um den biochemischen Verbrennungsprozeß im Inneren der Bakterien in Gang zu setzen, dann breitete sich rings um Aires’ Arm eine flackernde Kugel aus blaßgrünem Licht aus.
Kara stöhnte innerlich auf, als sie durch die Tür traten. Sie hatte geahnt, was sie finden würde: Alle Bewohner des Hauses waren tot. Es waren zwei junge Männer und eine sehr junge und eine sehr alte Frau. Sie lagen nebeneinander auf dem Boden, als hätten sie in den letzten Sekunden die Nähe des anderen gesucht, wie sterbende Tiere, die sich aneinanderdrängten. Und es war kein leichter Tod gewesen, der sie ereilt hatte. Ihre Gesichter waren verzerrt und blau angelaufen. Einer der jungen Männer hatte die Hände um die Kehle gekrampft, als wäre er erstickt; auf dem Gesicht des anderen bildete eingetrocknetes Blut, das aus Mund, Nase, Ohren und Augen gelaufen war, ein bizarres Muster.
Sie blieben nur einige Augenblicke, dann ging Aires wieder hinaus, und nicht nur Kara war froh, als das Licht erlosch und sich die Dunkelheit wieder gnädig über die furchtbare Szene senkte.
Sie betraten noch vier oder fünf weitere Häuser, in denen sich ihnen überall derselbe, furchtbare Anblick bot: Menschen, die in Gruppen oder einzeln zu Boden gestürzt waren, als hätte sie der Tod mit der Schnelligkeit eines Blitzes getroffen. Auch auf den Straßen lagen Leichen. Allerdings nicht sehr viele. So überraschend der Tod über die Bewohner der Stadt gekommen war, schien er doch den meisten Zeit genug gelassen zu haben, sich in ihre Häuser zurückzuziehen.
»Gäa?« fragte Maran, nachdem sie einige weitere Leichname untersucht hatten.
»Nein«, antwortete Aires ernst. Sie blickte auf den Leichnam hinunter, den sie sich zuletzt angeschaut hatte; ein Mann von vielleicht fünfzig Jahren, der auf den Stufen seines Hauses zusammengebrochen war. »Nach allem, was ich hier sehe, würde ich auf Gift tippen oder auf ein rasch wirkendes Gas.«
Sie richtete sich auf, drehte sich herum und blickte zu dem einzigen Licht hinüber, das in der Stadt brannte. Sie hatten sich ihm so weit genähert, daß Kara erkennen konnte, daß es aus einem schmalen Fenster aus einem der ausgehöhlten Stämme drang. Das Licht flackerte heftig und war von gelber Farbe. Ein sehr außergewöhnliches Phänomen. Neben dem sie umgebenden Wald mit all seinen gefräßigen Bewohnern war Feuer der natürliche Erzfeind dieser Stadt, die fast völlig aus Holz erbaut worden war. Es wunderte Kara fast ein bißchen, daß es hier überhaupt eine Öllampe gab, konnte doch ein einziger Funke zu einer Katastrophe führen.
Sie näherten sich dem Haus. Aires zog die Hülle wieder über ihren Leuchtstab und erstickte das grüne kalte Feuer; sie erhob auch keine Einwände, als Kara als erste durch die niedrige Tür trat. Ganz schwach hörten sie Geräusche aus dem Inneren des Hauses.
Trotzdem kam ihre Reaktion beinahe zu spät.
Kara sah das Messer von unten auf ihr Gesicht rasen, wich der Klinge im letzten Moment mit einer halben Drehung des Oberkörpers aus und fegte die Hand beiseite, die sie hielt. Gleichzeitig schlug sie mit aller Gewalt zurück.
Sie erkannte ihren Irrtum einen Augenblick später. Es gelang ihr nicht mehr, den Schlag vollends zurückzuhalten, aber immerhin konnte sie ihm seine tödliche Wucht nehmen, so daß er das Gesicht des Jungen nicht zerschmetterte, sondern ihn nur von den Füßen riß und gegen die Wand prallen ließ.
Es war ein dunkelhaariger Junge von allerhöchstens zwölf Jahren. Außer ihm hielten sich zwei oder drei Dutzend weiterer Kinder in dem großen Raum auf, die meisten wesentlich jünger als er. Wie auf ein Kommando begannen die Säuglinge loszubrüllen.
»Ach, du lieber Himmel«, murmelte Tess, die hinter Kara hereingekommen war. Kara war plötzlich froh, daß sie die erste gewesen war, denn Tess hatte das Schwert gezogen. Wäre sie an Karas Stelle gewesen, dann wäre der Junge jetzt vielleicht tot. »Das hat uns gerade noch gefehlt!«
Aires warf Tess einen zornigen Blick zu, und auch Kara runzelte ärgerlich die Stirn, obwohl sie Tess im stillen recht geben mußte. Wortlos wandte sie sich um und ging zu dem Knaben hinüber, den sie niedergeschlagen hatte. Er hatte das Bewußtsein nicht verloren, sondern lag mit an den Leib gezogenen Knien auf der Seite und wimmerte leise. Sein Gesicht begann bereits anzuschwellen.
»Was ist hier geschehen?« fragte Aires laut, aber keines der Kinder antwortete ihr. Die Magierin seufzte, deutete auf eines der älteren Mädchen und wiederholte die Frage.
»Sie sind alle tot«, antwortete das Mädchen. »Sie... sie haben sie umgebracht. Sie sind alle tot.«
»Wer hat sie getötet, Kind?« frage Aires sanft.
Die Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen. Es begann zu weinen, erzählte aber unter heftigem Schluchzen und Keuchen weiter. »Sie sind am Abend gekommen. Direkt... direkt aus der Sonne heraus. Man konnte sie gar nicht sehen.«
»Wer?« fragte Aires.
»Es ging ganz schnell«, fuhr das Mädchen schluchzend fort. »Sie waren plötzlich da und... und haben grauen Rauch gespuckt. Und dann sind alle krank geworden und gestorben. Sie haben so furchtbar geschrien. Ich... ich wollte helfen, aber ich konnte nichts tun. Meine Eltern und... und mein älterer Bruder. Sie sind einfach gestorben.«
»Wer hat sie umgebracht?« fragte Aires ungeduldig. Sie trat auf das Mädchen zu, ergriff es an beiden Schultern und schüttelte es. »Versuch dich zu beruhigen, Kind! Es ist wichtig!« Sie schüttelte das Mädchen immer heftiger, erreichte damit aber nur, daß es noch stärker zu weinen begann.
Kara trat neben sie und löste mit sanfter Gewalt ihre Hände von den Schultern des Mädchens. Aires runzelte leicht verärgert die Stirn, war aber auch ein wenig erleichtert, während Kara sich ein bißchen verwirrt fühlte. Sie hatte angenommen, daß die Magierin mehr von Kindern verstand.
»Hör mir zu, Kleines«, sagte sie, während sie sich vor dem Kind in die Hocke sinken ließ. »Ich verstehe, daß du Angst hast, und daß du... daß du dich... ganz schrecklich fühlen mußt. Aber versuche dich trotzdem zu beruhigen, ja? Wir müssen wissen, was hier passiert ist. Du kannst uns vertrauen. Wir sind hier, um euch zu helfen. Niemand wird euch etwas tun, das verspreche ich. Aber du mußt dafür auch etwas für uns tun. Du mußt uns sagen, wer deine Eltern und all diese Leute getötet hat.«
»Die Libellen.«
Es war nicht das Mädchen, das antwortete, sondern ein Knabe von vielleicht sieben Jahren. Sein Gesicht war bleich, und seine Augen waren dunkel vor Angst. Aber seine Stimme klang fest und bestimmt. »Es waren die Libellen.«
Kara und die drei anderen wandten sich dem Jungen zu. Kara schwieg, weil sie annahm, daß Aires den Jungen weiter befragen wollte, aber die Magierin winkte ab. »Libellen?« wiederholte Kara.
»Vier Stück«, antwortete der Junge. »Sie waren sehr groß. Und laut.«
»Laut!« vergewisserte sich Aires.
Der Junge nickte. Sein Blick blieb starr auf Kara gerichtet. »Sie haben gebrummt«, sagte er. »Alle sind hinausgelaufen, um sie anzusehen. Und dann kam der graue Staub, und alle wurden krank und sind gestorben. Bis auf uns hier.«
»Blauer Regen«, murmelte Kara.
Aires sah sie fragend an.
»Erinnere dich daran, was Cord uns erzählt hat«, sagte Kara. »Blauer Regen – und am nächsten Morgen war jeder der Erwachsenen tot.« Sie wandte sich wieder dem Jungen zu. »Und du bist sicher, daß es die Libellen waren?«
»Es waren die Libellen«, beharrte der Junge. »Sie waren groß. Nicht so groß wie eure Drachen, aber groß und laut.«
»Wann war das?« mischte sich Maran ein.
»Gestern«, antwortete der Junge. »Eine Stunde, bevor die Sonne untergegangen ist.«
»Eine Stunde?« Maran trat näher und sah den Jungen durchdringend an. »Bist du ganz sicher? Nicht eine halbe oder zwei?«
»Eine Stunde«, beharrte der Junge.
»Was ist daran so wichtig?« fragte Kara.
»Weil es dieselben waren, die wir gesehen haben«, antwortete Maran. Sein Gesicht verhärtete sich. »Ihr versteht nicht, wie? Wir haben sie gesehen, eine Stunde vor Sonnenuntergang. Hier!«
»Ihr hättet nichts tun können«, sagte Kara. Ihre Worte klangen selbst für sie leer und bedeutungslos.
»Wir haben sie gesehen«, wiederholte Maran. »Wir hätten es verhindern können, begreift ihr nicht? Wenn Zen und ich nur einen Moment weitergeflogen wären, dann... dann hätten wir es vielleicht verhindern können! All diese Menschen wären vielleicht noch am Leben.«
»Oder ihr beiden wärt genauso tot wie sie«, unterbrach ihn Aires. »Denk lieber darüber nach, Maran, was wir mit diesen Kindern machen. Wir müssen sie hier wegbringen.«
»Das ist das kleinste Problem«, sagte Kara. »Wir haben genug Platz auf den Drachen, um sie alle mitzunehmen.« Sie schenkte Aires das herzlichste Lächeln, das sie zustandebrachte. »Wie gut, daß du dich entschieden hast, doch nicht allein hierherzugehen.«
In Aires’ Augen blitzte es ärgerlich auf, aber sie enthielt sich jeden Kommentars.
»Erzähl mir von den Libellen«, sagte Kara, wieder an den Jungen gewandt. »Wie haben sie ausgesehen? Was haben sie getan?«
»Sie waren groß«, wiederholte der Junge stur. »Und sie hatten Flügel. Und große leuchtende Augen. Sie waren sehr hoch. Sie sind über der Stadt gekreist, und ihre Flügel haben sich gedreht. Ganz schnell.«
»Gedreht?« Tess runzelte die Stirn. »Der Junge redet wirres Zeug«, sagte sie.
»Vielleicht«, sagte Kara. »Vielleicht auch nicht. Und steck endlich das Schwert ein. Du brauchst es hier nicht.«
Tess blickte einen Moment lang stirnrunzelnd auf die Waffe, die sie noch immer in der rechten Hand hielt, dann steckte sie sie mit einer beinahe hastigen Bewegung weg. »Also?« fragte sie. »Was tun wir?«
»Zuerst kümmern wir uns um die Kinder hier«, entschied Kara. Sie sah sich einen Moment lang um. »Ich denke, daß fünf oder sechs Drachen ausreichen müßten, sie zurückzubringen. Die kleineren Kinder könnten ein Problem darstellen. Vielleicht müssen wir eine Art Traggestell bauen, um...« Kara? Aires?
Die vier Drachenkämpfer fuhren im gleichen Moment erschrocken zusammen. Ja? signalisierte Kara.
Silvy, antwortete das schmerzhafte Zucken in ihrem Nacken. Irgend etwas kommt auf uns zu. Ich kann nicht erkennen, was es ist. Aber die Drachen werden unruhig.
Zieht euch zurück, befahl Aires, noch ehe Kara Gelegenheit fand zu antworten. Schnell. Ehe sie euch bemerken.
»Zwei Dutzend Drachen, die sie nicht bemerken sollen?« sagte Maran in zweifelndem Tonfall.
»Es ist Nacht«, antwortete Aires. »Wenn sie über dem Wald kreisen...« Sie zuckte mit den Schultern, dann schloß sie die Augen, um sich wieder auf ihren Rufer zu konzentrieren. Haltet uns auf dem laufenden. Aber ihr tut nichts, solange wir nicht angegriffen werden oder euch rufen. Verstanden?
Verstanden.
Aires öffnete wieder die Augen. Sie sah sehr müde aus und sehr alt. Aber nur für einen ganz kurzen Moment. Dann kehrte ihre gewohnte Tatkraft wieder zurück. »In Ordnung«, sagte sie. »Die Lampe aus. Und seid so still wie möglich, Kinder.«
Tatsächlich verstummten die meisten der Kinder innerhalb weniger Augenblicke. Aber keines machte auch nur Anstalten, die Öllampe zu löschen. Kara verstand das sehr gut. Selbst ihr war nicht wohl bei der Vorstellung, in völliger Dunkelheit dazusitzen und darauf zu warten, daß irgend etwas Furchtbares geschah.
Aires’ Gedanken schienen in die gleiche Richtung zu gehen, denn sie zog plötzlich den Leuchtstab aus der Jacke und entfernte die Hülle. »Keine Angst«, sagte sie, während sie das leuchtende Holz in die Höhe hielt. »Es wird nicht völlig dunkel. Hier – seht ihr?«
Ihre Worte wirkten Wunder. Bis auf die ganz kleinen Kinder und Säuglinge beruhigten sich alle endgültig. Niemand begann mehr zu weinen, als Aires Tess ein Zeichen gab, die Öllampe zu löschen. Der Raum wurde plötzlich nur noch vom unheimlichen grünen Schein des Leuchtstabes erhellt, doch so blaß dieses Licht auch sein mochte, Kara war sich schmerzhaft des Umstandes bewußt, daß es draußen sehr deutlich zu sehen war. »Tess – sieh zu, daß du irgend etwas findest, um die Fenster zu verhängen. Maran – du hältst an der Tür Wache!«
Die beiden gehorchten wortlos, und Kara tauschte einen raschen, besorgten Blick mit Aires, ehe sie sich wieder an die Kinder wandte. »Hört zu«, sagte sie. »Es ist wichtig, daß ihr jetzt ganz still seid. Euer und unser Leben kann davon abhängen. Habt ihr das verstanden?«
Die meisten Kinder starrten sie einfach nur an, aber einige nickten auch zaghaft. »Gut«, fuhr Kara fort. »Und versucht bitte, auch die kleinen Kinder irgendwie zu beruhigen.« Sie zögerte einen Moment. »Ich weiß, daß ihr Angst habt. Wir haben auch Angst. Das macht nichts. Wenn wir alle zusammenhalten, dann kann uns gar nichts passieren.«
Kara. Sie kommen näher.
»Wer kommt näher?« fragte Kara. Ganz unwillkürlich stellte sie die Frage laut und wiederholte sie dann auf der telepathischen Frequenz des Rufers.
Ob du es glaubst oder nicht – aber es sind Marans Libellen.
Es gibt sie wirklich.
Haben sie euch gesehen?
Bis jetzt nicht. Aber die Drachen werden unruhig. Ich weiß nicht, wie lange wir sie noch halten können.
Versucht es, erwiderte Kara nervös. Sie dürfen euch auf keinen Fall sehen. Wie viele sind es?
Drei. Nein – vier.
Und was tun wir, wenn sie wieder ihren grauen Staub abladen?
Kara war im ersten Moment verwirrt. Dann begegnete sie Marans Blick und begriff, daß er es gewesen war, der die Botschaft geschickt hatte. Im allerersten Moment verstand sie nicht, warum er seine Frage nicht offen ausgesprochen hatte. Dann begriff sie, daß er nicht wollte, daß die Kinder seine Frage hörten. Sie schenkte ihm einen dankbaren Blick und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
Was für ein grauer Staub? erkundigte sich Silvy.
Das erkläre ich dir später. Ruhe jetzt. Mit einem Blick auf Maran: Das glaube ich nicht. Wahrscheinlich wollen sie einfach nachsehen, ob hier noch jemand lebt.
Sie kommen, signalisierte Silvy. Seid vorsichtig!
Tess hatte in der Zwischenzeit einige Decken und Kleidungsstücke aufgetrieben, mit deren Hilfe sie die unregelmäßigen Fensteröffnungen verstopfte. Einige der größeren Kinder halfen ihr dabei, so daß nur wenige Augenblicke vergingen, bis kein Lichtschimmer mehr ins Freie drang. Trotzdem war Kara nicht davon überzeugt, daß sie wirklich unentdeckt bleiben würden. Mit klopfendem Herzen trat sie neben Maran an die Tür. Die Stadt lag wie eine bizarre Riesenskulptur aus Schatten und Schwärze vor ihnen, und im allerersten Moment hörte sie nichts außer dem Rauschen des Blutes in ihren eigenen Ohren. Dann begriff sie ihren Irrtum.
Das Rauschen wurde lauter, steigerte sich zu einem von einem hohen, pfeifenden Laut begleiteten Grollen, und dann erschienen sie am Nachthimmel über der Stadt. Im bleichen Sternenlicht sahen sie tatsächlich wie Libellen aus – vier schlanke Schatten mit riesigen schimmernden Köpfen, auf deren polierter Oberfläche sich das Sternenlicht brach. Keines von ihnen hatte leuchtende Augen, wie der Junge behauptet hatte, und sie sah auch keine Flügel. Kara schätzte ihre Größe auf gute zehn bis zwölf Meter.
»Was ist das?« murmelte Maran verwirrt.
Kara zuckte mit den Schultern und machte ein hastiges Zeichen, still zu sein.
Die Libellen kamen näher und kreisten über der Stadt. Zwei von ihnen verloren dabei ganz allmählich an Tiefe, während die beiden anderen über die Baumwipfel dahinglitten.
Silvy? Seht ihr sie?
Klar und deutlich. Was ist das? Sind das Tiere?
Kaum, antwortete Kara. Aber was immer es ist – ich will nicht, daß sie entkommen. Ihr laßt sie rein, aber nicht mehr raus, klar?
Worauf du dich verlassen kannst!
Kara blickte aufmerksam zu den beiden Libellen auf, die sich allmählich der Stadt näherten. Mittlerweile konnte sie die sonderbaren Flügel erkennen: über den klobigen Köpfen der Monstren schwirrte etwas in der Luft, das durch seine rasende Bewegung wie eine schimmernde Scheibe aus Glas aussah. Das Rauschen und Pfeifen wurde lauter, und Kara spürte den tosenden Windzug, den die Libellen verursachten.
Marans Hand glitt zum Schwert, aber Kara machte eine rasche, beruhigende Geste. »Warte«, flüsterte sie. »Ich glaube, sie wollen landen. Wir schnappen sie uns, sobald sie am Boden sind.« Sie sah über die Schulter zu Tess und Aires zurück. »Ihr bleibt hier bei den Kindern. Maran!«
Lautlos wie Schatten verließen sie das Haus und näherten sich geduckt dem großen Platz in der Mitte der Stadt, auf dem sie ...
Die Drachen!
Der Gedanke durchzuckte Kara im gleichen Moment, in dem einer der vier Drachen ein gewaltiges, zorniges Brüllen ausstieß und sich mit einem kraftvollen Satz auf einen der bizarren Libellenvögel warf.
Aber so schnell seine Bewegung war – das unglaubliche Vogelwesen war schneller. Kara beobachtete fassungslos, wie die Libelle mit einer schier unmöglichen Bewegung in der Luft zur Seite kippte, sich unter den zupackenden Klauen des Drachen hindurchschraubte und dann wieder in die Höhe schoß. Aus dem Brausen und Pfeifen, das seinen Flug begleitete, wurde ein schrilles Heulen. Fast in der gleichen Sekunde kippte auch die zweite Libelle zur Seite, drehte einen Kreis und schoß mit einem wütenden Kreischen auf den Drachen zu. Ein dünner, durchbrochener Faden aus grünen Lichtperlen brach aus ihrem klobigen Schädel und explodierte in der Flanke des Drachen. Flammen sprühten auf. Aus den Wutschreien des Drachen Kara betete, daß es nicht Markor war – wurde ein kreischendes Schmerzgebrüll.
Plötzlich begann der Boden unter ihnen zu zittern, und ein zweiter, dritter und vierter Schatten sprangen in die Höhe und stürzten sich auf die Libellen. Wie durch ein Wunder gelang es ihnen zwar, den Tieren auszuweichen, aber aus ihrem bislang eleganten Flug wurde ein hektisches Hin- und Herspringen. Das grüne Feuer zuckte ein zweites Mal auf, verfehlte aber sein Ziel. Silvy! befahl Kara. Schnappt sie euch! Gleichzeitig rannte sie los und schrie aus Leibeskräften Markors Namen. Über dem immer schriller werdenden Heulen der Libellen konnte er ihre Stimme unmöglich vernehmen. Aber wie am Drachenfels hörte er sie dennoch und reagierte. Als Kara den Landeplatz erreichte, prallte er mit einer Erschütterung, die die ganze Stadt erheben ließ, auf den Boden. Kara kletterte auf seinen Rücken, und der Drache wartete nicht ab, bis sie sich richtig gesetzt hatte, sondern schwang sich sofort wieder in die Luft. Kara klammerte sich hastig am Sattel fest und hielt nach den Libellen Ausschau. Plötzlich sahen sie sich vier bizarr geformten Schatten gegenüber. Wieder schnitt das grüne Licht durch die Luft. Diesmal traf der Strahl Markors Flügel und durchbohrte ihn, richtete aber nicht mehr Schaden an als ein faustgroßes, rauchendes Loch, das der Drache wahrscheinlich nicht einmal spürte. Dafür warf sich Markor mit einem zornigen Knurren herum, schwang sich mit einer einzigen kraftvollen Bewegung auf die gleiche Höhe wie die Libelle hinauf und schlug mit den Flügeln zu.
Kara sah ganz genau, was geschah.
Markors Schwinge war dreimal so groß wie sein Gegner, und er hätte die Libelle zerschmettern müssen wie eine Fliegenklatsche ihr Opfer. Aber obwohl die Libelle nicht mehr die geringste Chance hatte, dem Schlag auszuweichen, traf sie die Schwinge nicht. Etwas Unsichtbares schien plötzlich zwischen ihr und der Drachenschwinge zu sein. Die Libelle taumelte, wurde zur Seite gedrückt und begann zu trudeln, fing ihren Sturz aber im letzten Moment wieder ab.
Karas Verblüffung hätte sie fast das Leben gekostet.
Eine zweite Libelle jagte kreischend heran, und plötzlich hatte sie Augen: ein Paar großer, grausam hell leuchtender Scheinwerfer, die sich auf Kara richteten und sie blendeten. Grünes Feuer schnitt eine Narbe in die Nacht und hinterließ eine rauchende Spur in den Panzerplatten auf Markors Hals; eine Handbreit von Karas linken Bein entfernt.
Der Drache brüllte vor Schmerz und begann zu taumeln.
Kara duckte sich tief über seinen Hals, während die Libelle heulend über sie hinwegschoß. Der Doppelstrahl ihrer Scheinwerfer erfaßte für eine Sekunde eine zweite Libelle, und zum ersten Mal sah Kara die unglaublichen Gebilde, so wie sie wirklich aussahen.
Es waren keine Tiere.
Es waren Maschinen.
Ihr Körper bestand im Grunde nur aus einer vielfach durchbrochenen Gitterkonstruktion. Der aufgedunsene Kopf war nichts als eine Kugel aus Glas, in der zwei sitzende Gestalten zu sehen waren. Über dieser Kugel drehte sich ein flimmernder Kreis, dessen Luftwirbel die bizarre Konstruktion in der Luft hielt.
Kara sah einen weiteren Strahl giftgrünen Lichts auflodern, und diesmal traf der Blitz mit tödlicher Präzision den Schädel eines der Drachen. Das Tier brüllte vor Schmerz, kippte plötzlich zur Seite und begann mit hilflos schlagenden Flügeln abzustürzen. Einen Augenblick später schlug es mit unvorstellbarer Wucht in der Stadt auf und durchbrach deren Boden. Zusammen mit einem halben Dutzend zerschmetterter Häuser verschwand es in der Tiefe.
Silvy! rief Kara verzweifelt. Wo bleibt ihr?
Wie zur Antwort erscholl über ihr ein wütendes Brüllen, und als sie den Kopf hob, sah sie die Umrisse von fast zwei Dutzend Drachen über der Stadt auftauchen. Die Tiere stürzten sich in den Kampf.
Und trotzdem war es nicht sicher, daß sie ihn gewinnen würden.
Der Himmel über der Stadt war so voller Drachen, daß sich die riesigen Tiere gegenseitig behinderten und mehr als einmal miteinander kollidierten. Trotz ihrer Überzahl gelang es ihnen einfach nicht, ihre Gegner zu fassen. Es war, als würden die Maschinen von einem unsichtbaren Zauber beschützt.
Dafür wütete das grüne Feuer um so furchtbarer unter den Tieren. Die Angreifer mußten kaum mehr zielen, um zu treffen, und immer mehr Drachen schrien gepeinigt auf, wenn in ihren Panzern rauchende Löcher entstanden. Schließlich sah Kara, wie das grüne Licht einen der Drachenreiter durchbohrte und ihn in eine lebende Fackel verwandelte, die brennend in die Tiefe stürzte.
Zurück! befahl Kara entsetzt. Zieht euch zurück. Wir müssen anders vorgehen!
Kara mußte ihren Befehl noch zweimal wiederholen, bis auch der letzte Reiter sein Tier zurückriß und wieder an Höhe gewann. Sie sah über die Schulter zurück und war nicht sonderlich überrascht, zu sehen, daß die Libellen die flüchtenden Drachen verfolgten. Vermutlich hätte sie nicht anders gehandelt, hätte sie sich unverwundbar gefühlt. Nun, dachte sie grimmig, sie würden sehen, was es mit ihrer Unverwundbarkeit auf sich hatte!
Verteilt euch! befahl sie. Versucht, sie in verschiedene Richtungen zu locken!
Die Drachen strebten in verschiedene Richtungen auseinander, wobei sie immer schneller wurden. Auch die Libellen erhöhten ihre Geschwindigkeit, aber zumindest in diesem Punkt waren ihnen die Tiere überlegen: Es bereitete ihnen keinerlei Mühe, ihren Vorsprung zu halten.
Kara versuchte, die Distanz zu schätzen, die mittlerweile zwischen den Libellen lag. Die Maschinen waren schnell, aber auch sie brauchten Zeit, um sich zu bewegen. Wenn ihr Plan funktionierte, dann würden sie diese Zeit nicht mehr haben. Jetzt! befahl Kara. Schnappt sie euch! Gleichzeitig riß sie Markor herum und steuerte direkt auf die Libelle zu. Der Pilot der Maschine registrierte diesen Angriff, aber er ignorierte ihn im Vertrauen auf seine Unverwundbarkeit.
Feuer!
Die Nacht über dem Wald wich grellem, flackerndem, rotem Licht, als fast zwei Dutzend grelle Flammenstrahlen auf die Libellen herabregneten. Einige verpufften harmlos im Himmel, andere fuhren in das dichte Geäst unter ihnen und setzten es in Brand, und Kara beobachtete voller Entsetzen, wie die Libellenmaschine vor ihr unter dem Einschlag von drei Feuerstrahlen taumelte – und sie überstand! Das Feuer traf ihren Rumpf so wenig wie es die Klauen der Drachen getan hatten, sondern prallte dicht vor ihm gegen ein unsichtbares Hindernis, an dem es abperlte wie ein Wasserstrahl an einer Wand aus Glas! Auch die zweite und dritte Maschine torkelten, eingehüllt in einen Mantel aus Flammen, der ihnen nichts anhaben konnte, lediglich zur Seite.
Die vierte Libelle hatte weniger Glück. Die Feuerstrahlen von sechs Drachen vereinigten sich über ihrer Kanzel zu einem einzigen, grellweißen Ball aus Glut – und die unsichtbare Wand brach! In einer Explosion, die an das Auflodern einer neuen Sonne über dem Wald erinnerte, explodierte die Maschine. Brennende Trümmerstücke stürzten in den Wald hinab und entfachten zahllose kleine Brände.
Kara blinzelte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und hielt nach den verbliebenen drei Libellen Ausschau. Vor ihren Augen tanzten bunte Kreise und Ringe. Für Sekunden war sie fast blind. Wahrscheinlich wäre sie in diesem Augenblick eine leichte Beute für die Libellen gewesen. Aber die bizarren Maschinentiere kreisten ziellos auf der Stelle. Vielleicht, dachte Kara, war es das erste Mal, daß sie mitansehen mußten, wie einer von ihnen zerstört wurde. Möglicherweise war der Tod für jemanden, der sich unverwundbar wähnte, eine ganz neue Erfahrung...
Sie begriff die Chance, die sich ihnen bot. Greift noch einmal an! signalisierte sie. Konzentriert euch auf den im Norden. Alle! Ignoriert die anderen!
In die Formation der Drachen kam Bewegung, die nur auf den ersten Blick ziellos wirkte. Und als der Pilot der Libellenmaschine begriff, daß man ihn ins Visier genommen hatte, war es zu spät. Zwei Dutzend Drachen überschütteten die Maschine mit einem Höllenfeuer, dem selbst ihr unheimlicher Schutz nicht gewachsen war. Die Explosion war so gewaltig, daß die Maschine regelrecht verdampfte.
Als Kara nach den beiden anderen Libellen Ausschau hielt, sah sie, wie die Maschinen mit heulenden Motoren in den Himmel hinaufjagten und sich zur Flucht wandten. Einige der Drachenreiter setzten sofort zur Verfolgung an, aber Kara rief sie zurück.
Laßt sie! befahl sie. Wir fliegen zur Stadt zurück. Kein Aber! Sie haben genug. Und wir haben genügend Verluste hinnehmen müssen. Sie verspürte selbst einen heftigen Widerwillen bei dem Gedanken, die Maschinen nicht zu verfolgen, doch der Kampf war für die Drachen zu hart gewesen. Sie hatten es mit Mühe und Not geschafft, zwei von vier Gegnern zu vernichten! Das war... unvorstellbar!
Zutiefst verunsichert und von Furcht erfüllt, lenkte sie Markor zur Stadt zurück und ging auf dem großen Platz in ihrer Mitte nieder. Mit müden Bewegungen kletterte Kara von seinem Rücken hinunter und näherte sich dem Haus, in dem Aires mit Tess und den Kindern auf sie wartete. Die Magierin war noch da. Tess nicht. Sie hatte Karas Befehl mißachtet und war auf ihren Drachen gestiegen, um an dem Kampf teilzunehmen. Aires kam ihr entgegen, als sie sich dem Haus bis auf fünf Schritte genähert hatte. Die Magierin war bleich, und ihre Hände zitterten. Offensichtlich hatte sie den ungleichen Kampf vom Boden aus verfolgt.
»Was war das, Aires?« fragte Kara müde.
Aires deutete ein Schulterzucken an. »Ich habe keine Ahnung«, gestand sie. »Ich habe solche Maschinen noch nie gesehen. Ihr habt eine vernichtet?«
»Zwei«, antwortete Kara. »Die beiden anderen sind entkommen. Ich habe befohlen, sie nicht zu verfolgen. Großer Gott, Aires, diese... Dinger widerstehen sogar dem Feuer der Drachen!«
»Ich habe es gesehen«, sagte Aires. »Es war sehr klug von dir, sie nicht verfolgen zu lassen.«
»Klug?« Kara lachte hart. »Klug? Ich bin mir nicht sicher, Aires. Vielleicht hatte ich einfach nur Angst.«
»Ist es etwa nicht klug, auf die Stimme seiner Angst zu hören?« fragte Aires.
Ihre Worte versetzten Kara in Zorn. »Hör mit deinen Sprüchen auf!« sagte sie hart. »Wir sind hier nicht in der Schule. Sie haben uns den Hintern versohlt, und zwar gründlich, ist dir das klar? Zehn von ihnen statt vier – und wir wären jetzt tot. Wir haben nichts, womit wir sie aufhalten können, Aires, absolut nichts! Hundert oder auch nur fünfzig von ihnen, und...«
»Hör auf!« sagte Aires. Sie lächelte, um ihren Worten ein wenig von ihrer Schärfe zu nehmen, und fuhr ruhiger fort:
»Wenn sie hundert von diesen Maschinen hätten, dann hätten sie uns längst angegriffen, glaubst du nicht auch?«
»Ich weiß nicht, was ich glaube«, sagte Kara matt. Plötzlich mußte sie mit den Tränen kämpfen. »Wir haben sie vertrieben, Aires, aber gewonnen haben sie.«
»Ich weiß«, antwortete Aires leise. »Es tut weh, eine Schlacht zu verlieren. Aber noch ist nichts entschieden. Wir wissen ja nicht einmal, wer sie sind.«
Hastige Schritte erklangen hinter ihnen, und als Kara sich herumdrehte, erkannte sie Tess, die mit hochrotem Kopf auf sie zulief. Wenige Schritte hinter ihr stürmten Maran, Zen und noch ein halbes Dutzend der anderen heran.
»Was soll das heißen, wir dürfen sie nicht verfolgen«, begann Tess übergangslos und in einem Ton, der für sich genommen schon eine Beleidigung darstellte. »Wieso läßt du sie entkommen? Wir hätten sie alle vernichten können!«
Kara antwortete in sehr ruhigem, nicht belehrenden Ton. »Weil wir es eben nicht gekonnt hätten«, sage sie. »Sieh dich doch um. Wir haben einen Drachen und einen Krieger verloren. Die meisten anderen Tiere sind verletzt! Ein paar sind so erschöpft, daß sie kaum noch fliegen können. Wie viele Leben ist dir die Vernichtung dieser zwei Maschinen wert?«
Tess wischte ihre Worte mit einer zornigen Handbewegung beiseite. »Was soll das?« schnappte sie. »Sind wir Krieger oder nicht? Seit wann verweigern wir einen Kampf, wenn dabei die Gefahr besteht, daß wir zu Schaden kommen?«
»Dann, wenn es sinnlos ist«, antwortete Aires an Karas Stelle. »Und jetzt sei still und kümmere dich um dein Tier. Ich glaube, es ist verletzt.«
Tess schürzte trotzig die Lippen. Einen Moment lang war Kara fest davon überzeugt, daß sie sich selbst der Magierin widersetzen würde. Aber dann wandte sie sich mit einem Ruck um und rannte zornig davon. Maran und die anderen folgten ihr.
Kara sah ihnen kopfschüttelnd nach. »Danke«, sagte sie, an Aires gewandt. »Ich weiß nicht, ob ich jetzt auch noch den Nerv gehabt hätte, mich mit ihr zu streiten.«
»Kinder!« grollte Aires. »Ich habe Angella immer gesagt, daß es nicht reicht, sie in eine Uniform zu stecken und ihnen ein Schwert zu geben, um Krieger aus ihnen zu machen.«
Kara sah wenig Sinn darin, das Gespräch fortzusetzen; sie ging ohne ein weiteres Wort an Aires vorbei und betrat das Haus, in dem die Kinder warteten. Ein einziger Blick in die Gesichter der Jungen und Mädchen sagte ihr, daß auch sie den Kampf beobachtet hatten.
»Ihr habt sie verjagt.« Es war der Junge, den sie versehentlich niedergeschlagen hatte. Sein Gesicht war angeschwollen, und als Kara auf ihn zutrat und die Hand ausstreckte, zuckte er unwillkürlich zurück. Sie konnte es ihm nicht verübeln. »Ja«, sagte sie.
»Aber sie werden wiederkommen.«
»Vielleicht«, gestand Kara. »Aber ihr brauchte keine Angst zu haben. Selbst wenn sie zurückkommen, werden wir und ihr nicht mehr hier sein. Wir bringen euch weg, sobald sich unsere Drachen ein wenig erholt haben.«
Sie hörte, wie Aires hinter ihr das Haus betrat, dann sagte die Magierin: »Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden.«
»Und warum?«
»Sie waren gestern abend hier, kurz vor Sonnenuntergang«, sagte Aires, ohne ihre Frage direkt zu beantworten. »Ich kann mir vorstellen, daß sie die ganze Zeit über irgendwo ihre Kreise über den Wald gezogen haben.«
»Du meinst, es gibt irgendwo eine Basis.«
Aires nickte. »Wahrscheinlich nicht einmal sehr weit entfernt. Wenn wir Pech haben, sind sie in einer Stunde wieder hier.«
»Die Drachen sind erschöpft«, sagte Kara. »Sie schaffen den Weg zurück zum Hort nicht, wenn wir ihnen keine Pause gönnen.«
»Es reicht, wenn wir uns hundert Meilen weit zurückziehen. Oder auch nur fünfzig. Ich bin sicher, wir finden einen Platz, an dem wir in Ruhe das Ende der Nacht abwarten können.«
Kara deutete ein Achselzucken an. »Meinetwegen.«
Das war nicht das, was Aires hatte hören wollen. Trotzdem sah sie Kara nur einen Moment lang vorwurfsvoll an, ehe sie sich zu einem Lächeln zwang und sich wieder an die Kinder wandte. »Wie ist es?« fragte sie. »Hättet ihr Lust, auf einem richtigen Drachen zu reiten?«
Kara hörte nicht weiter zu, sondern ging zur Tür zurück, ließ sich müde gegen den Rahmen sinken und blickte in die Nacht hinaus. Dann riß sie plötzlich ungläubig die Augen auf und blickte die vier Drachen an, die sich rasch aus der Mitte der Stadt erhoben und sich nach Norden wandten.
»Was...« Wer ist das? Antwortet. Kommt sofort zurück! Das ist ein Befehl!
Aires war mit einem Sprung neben ihr an der Tür. Auch auf ihrem Gesicht erschien ein ungläubiger Ausdruck, aber er schlug unvermittelt in Zorn um. »Tess!« murmelte sie. »Ich wette, das sind Tess, Silvy und diese beiden anderen Narren!«
Kommt auf der Stelle zurück! Oder ich sorge dafür, daß ihr nie wieder auf einem Drachen reitet!
»Spar dir die Mühe«, sagte Kara laut. »Ich glaube, es ist ihnen ohnehin gleich. Kümmere dich darum, daß die Kinder in Sicherheit gebracht werden!«
Aires’ Antwort darauf hörte sie nicht mehr, denn noch ehe die Magierin überhaupt begriff, was Karas Worte zu bedeuten hatten, war sie schon auf halbem Weg zur Mitte der Stadt. Und einen Augenblick später saß sie auf Markors Rücken und jagte hinter den vier anderen Drachen her nach Norden.