Zaubertechnik von den Sternen hin oder her – Thorns Männer brauchten annähernd zwei Stunden, bis sie sie erreichten. Und es war keine Schar hehrer Lichtgestalten, die wie die rettenden Engel in der lichtlosen Hölle von Schelfheims Unterwelt erschienen, sondern ein zerschlagener, verdreckter Haufen, der fast ebenso erschöpft und am Ende seiner Kräfte war wie Kara und ihr Begleiter. Einige von ihnen waren verletzt und bluteten aus kleineren Wunden. Irgendwie hatte sie sich ihre tapferen Retter anders vorgestellt.
Zumindest brachten sie das mit, was Kara in den vergangenen Stunden am meisten vermißt hatte: Licht. Die Männer trugen die Helme mit den Glasvisieren, wie auch Kara einen besaß, führten aber gleichzeitig auch große Scheinwerfer mit sich, die enge Bahnen gleißender Helligkeit aus der Schwärze rissen. Kara hob geblendet die Hände vor das Gesicht, als das Licht wie mit Messern in ihre an stundenlange Dunkelheit gewöhnten Augen schnitt. Zwei Männer hatten ihre Waffen auf sie angelegt, während ein dritter in respektvollem Abstand um sie herumging und das erbeutete Gewehr an sich nahm.
Anschließend nahmen sie ihr den Instrumentengürtel und den ohnehin nutzlosen Helm ab. Beinahe sanft, aber auch sehr nachdrücklich wurde sie auf die Füße gezogen. Zwei schmale, mit einer fast lächerlich dünnen Kette verbundene Metallringe wurden um ihre Handgelenke gelegt, und auch Tyrell wurde auf die gleiche Weise gebunden, obwohl er kaum noch die Kraft hatte, auf seinen eigenen Füßen zu stehen.
Kara ließ das alles klaglos mit sich geschehen. Sie waren zu siebt oder acht, aber das war nicht der Grund. Sie hatte gelernt, niemals einem Kampf aus dem Wege zu gehen, auch wenn er aussichtslos schien.
Aber wie konnte man einen Kampf kämpfen, wenn man nicht einmal mehr den Unterschied zwischen Freund und Feind zu erkennen imstande war?
Der Rückweg war ein Alptraum. Die Männer gaben ihr etwas, das ihre Kräfte wieder auffrischte, und sie kümmerten sich auch um Tyrell, so daß er zumindest wieder aus eigener Kraft laufen konnte. Kara begann schon nach den ersten zweioder dreihundert Metern zu begreifen, daß Tyrell und sie nur durch eine Verkettung geradezu unglaublicher Zufälle überhaupt noch am Leben waren. Vielleicht war es das Licht, das die Ungeheuer aus dem Schlund anlockte, vielleicht auch der Lärm, den die Gruppe machte – aber sie wurden fast ununterbrochen angegriffen. Thorns Soldaten machten oft und reichlich von ihren Waffen Gebrauch, wobei sie sich allerdings weitaus geschickter anstellten als Kara.
Ihr Ziel war tatsächlich der Schacht, der zur Oberfläche hinaufführte. Thorns Männer hatten allerdings ein paar Verbesserungen vorgenommen: Die Plattform an ihrem Gewirr von Ketten, Stahlseilen und gedrehten Tauen aus Transportergewebe war noch vorhanden, aber daneben schwebte auch eine Anzahl der runden Kristallscheiben, wie Kara sie von ihrem ersten Ausflug in die Tiefe her kannte. Sie bezweifelte im ersten Moment, daß Tyrell in seinem Zustand einen Transport auf diesen Gefährten überstehen würde, dann aber sah sie, daß es auch größere Exemplare gab, auf denen durchaus fünf oder sechs Männer Platz fanden. Sie wurden zu einer dieser Scheiben geführt, doch als Kara sie betreten wollte, hob einer ihrer Begleiter abwehrend die Hand und deutete gleichzeitig auf einen Punkt hinter ihr. Sie drehte sich herum und sah sich Thorn gegenüber, was sie nicht im mindesten überraschte.
Und neben ihm stand Karoll.
»Hallo, Kara«, sagte er, nachdem er ihr einige Sekunden lang Zeit gegeben hatte, ihren Schrecken zu überwinden. »Wie schön, daß wir uns so schnell wiedersehen.«
»Du?« murmelte sie verstört. Plötzlich war ihre Lethargie wie weggeblasen. Ihre Gedanken überschlugen sich. »Aber wie kommst du... ich meine, was ist mit...« Sie biß sich auf die Unterlippe, aber die Worte waren heraus und ließen sich nicht mehr zurücknehmen.
»Mit deinen Freunden?« Karoll lächelte. »Keine Sorge. Ihnen ist nichts geschehen. Die Männer, die mich befreit haben, hatten leider nur die Wahl, mich mitzunehmen oder diesen jungen fanatischen Gen-Bastler. Du siehst, wie sie sich entschieden haben. Obwohl es eigentlich schade ist, ich hätte zu gern gewußt, was er sich jetzt wieder ausgedacht hat. Dieser junge Mann hat manchmal sehr interessante Ideen. Es würde mich nicht wundern, wenn er wirklich eine Möglichkeit gefunden hätte, die Schutzschirme unserer Kampfhelikopter zu neutralisieren.«
»Ich verspreche dir, du wirst der erste sein, der es merkt«, sagte Kara.
Karoll lachte. »Siehst du?« sagte er, an Thorn gewandt. »Ihr fehlt nichts. Sie ist noch immer ganz die alte.«
Auch Thorn lachte, wurde aber sofort wieder ernst. Mit einem raschen Schritt trat er an Kara vorbei und maß Tyrell mit einem langen, sehr aufmerksamen Blick. »Dieser Mann ist schwer krank«, sagte er. »Er muß sofort versorgt werden.« Er sah Kara fragend an. »Ich kann das hier in Schelfheim erledigen lassen. Aber es wäre besser, ihn auf mein Schiff zu bringen. Dort stehen uns bessere Möglichkeiten zur Verfügung, ihm zu helfen.«
»So wie Tess!«
Thorn verstand sofort, was sie meinte. »Sie wäre tot, ohne unsere Hilfe«, sagte er. »Und wenn du das Verhör meinst, dem wir sie unterzogen haben – ich gebe dir mein Wort, daß das nicht noch einmal geschieht. Wir haben alles erfahren, was wir wissen wollten.« Er lächelte flüchtig. »Und ehe du mich jetzt einen Lügner nennst, bedenke bitte, daß ich im Moment durchaus in der Lage bin, mir Großzügigkeit leisten zu können.«
Kara überlegte nicht sehr lange. »Helft ihm«, sagte sie. »So gut ihr könnt.«
»Ich nehme an, er weiß ohnehin nichts von Bedeutung«, sagte Karoll.
Thorn warf ihm einen raschen, ärgerlichen Blick zu, sagte aber nichts darauf, sondern winkte einen seiner Männer heran. Er deutete auf Tyrell. »Bringt diesen Mann zur Drohne«, sagte er. »Die Ärzte sollen sich um ihn kümmern. Kein Verhör. Und«
- er deutete auf Kara – »nehmt ihr die Handschellen ab. Ich habe ihr Wort, daß sie nichts Unüberlegtes tut. Das habe ich doch, oder?«
Kara nickte. Die Fesseln wurden entfernt, und Thorn deutete auf eine der anderen Flugscheiben. Aber irgendwie tat er es in der Art einer Frage, so daß sie sich nicht rührte, sondern ihn nur abwartend ansah. Er lächelte, als hätte er nichts anderes erwartet.
»Es steht dir frei zu gehen«, sagte er.
Kara war völlig verwirrt. »Du läßt mich... gehen?« fragte sie ungläubig. »Kein Trick? Keine Bedingungen?«
»Keine Bedingungen«, bestätigte Thorn. »Und kein Trick. Abgesehen davon, daß ich nicht glaube, daß du noch sehr weit kommst, so entkräftet wie du bist.« Er lachte. »Du hast das Leben zweier meiner Männer verschont. Dafür schulde ich dir etwas. Allerdings würde ich es begrüßen, wenn du noch eine Weile bleiben und uns ein paar Fragen beantworten würdest.«
Er deutete auf Karoll. »Du hast ihn neugierig gemacht.« Kara starrte Karoll an. »Ich hätte dir doch die Kehle durchschneiden sollen«, sagte sie.
»Oder nicht soviel reden«, antwortete Karoll ungerührt. Kara schluckte ihren Zorn herunter, auch wenn es ihr schwerfiel. »Da hast du sogar recht«, sagte sie. »Aber mehr, als ich dir schon verraten habe, weiß ich gar nicht. Die Räume hinter dieser Tür waren leer. Das meiste steht ohnehin unter Wasser.«
»Damit werden wir fertig«, sagte Karoll. »Glaube mir.«
Sie glaubte ihm. »Ich würde den Weg nicht einmal wiederfinden«, sagte sie müde.
Thorn sah sie durchdringend, aber nicht einmal wirklich mißtrauisch an. »Du bist nicht mehr in der Verfassung zu lügen. Außerdem beginnst du dich allmählich zu fragen, ob du nicht vielleicht wirklich auf der falschen Seite stehst, nicht wahr?«
Ja, dachte Kara. Für einen Moment haßte sie ihn beinahe. Ich habe dein Gift geschluckt, und es beginnt zu wirken. Und ich kann mich nicht einmal dagegen wehren, obwohl ich es weiß!
»Du kannst uns trotzdem helfen«, fuhr Thorn nach einer Weile fort. »Ich nehme an, ihr hattet einen Suchhund?«
»Wenn du sowieso schon alles weißt, wozu brauchst du mich dann noch?« fragte Kara schnippisch.
»Weil ich eben nicht alles weiß«, antwortete Thorn. »Verstehe mich nicht falsch, Kara – ich will dich zu nichts zwingen. Wir finden diesen Bunker, ob mit oder ohne deine Hilfe. Aber mit deiner Hilfe ginge es sehr viel schneller. Und du würdest einer Menge meiner Männer das Leben retten. Dort unten ist die Hölle los, seit diese Ungeheuer über die Stadt hereingebrochen sind.« Er hob die Hand, als Kara etwas sagen wollte. »Ich weiß, daß das meine Schuld ist. Aber es ist nun einmal passiert.«
»Warum benutzt ihr nicht eines eurer technischen Spielzeuge?« fragte Kara mit einer müden Geste auf die schwebenden Kristallscheiben hinter sich.
»Das tun wir«, antwortete Thorn. »Aber du hast diese Höhlen gesehen. Sie sind ein Labyrinth, in dem selbst unsere Ortungsgeräte verrückt spielen.«
»Ich weiß den Weg nicht mehr!« sagte Kara. »Wie du selbst gesagt hast – wir hatten einen Suchhund, und – «
»So etwas haben wir auch«, unterbrach sie Thorn. »Alles, was ich brauche, ist dein Einverständnis, der Ort, an dem ihr eure Suche begonnen habt – und ein paar Tropfen deines Blutes.« Er lächelte. »Keine Angst – es tut nicht weh.«
Kara war hin- und hergerissen zwischen Neugier und der Furcht, einen nicht wiedergutzumachenden Fehler zu begehen. »Was ist dort unten?« fragte sie leise. »Was gibt es dort, was so wertvoll ist, daß drei von uns sterben mußten, damit sie es nicht entdecken?«
»Drei von – « Thorn wandte mit einem Ruck den Kopf und starrte Karoll an. Karoll sah weg, während Kara beide Männer aufmerksam im Auge behielt.
»Das tut mir leid«, fuhr Thorn nach einigen Sekunden fort. »Was dort unten ist? Nun, unter anderem ein Sender, der seit über zweihundert Jahren Zeter und Mordio in die Galaxis hinausschreit. Er ist nicht besonders leistungsstark, aber – «
» – aber jemand könnte ihn zufällig hören und vorbeikommen, um nachzuschauen, was hier los ist«, fiel ihm Kara ins Wort.
»Ja. So ungefähr.«
»Und das wäre äußerst unangenehm für euch, nicht wahr?
Warum wohl sollte ich euch helfen, Schwierigkeiten zu vermeiden?«
»Weil es in erster Linie eure Schwierigkeiten wären«, sagte Thorn ruhig. »Wir sind längst nicht das Schlimmste, was euch hätte passieren können. Ich weiß nicht, was Elder dir erzählt hat, aber die Galaxis ist ein Dschungel, gegen den euer Schlund der reinste Erholungspark war. Es könnte sein, daß jemand kommt, der uns davonjagt – und euch gleich mit. Außerdem gibt es dort unten noch zwei, drei Dinge, die dich brennend interessieren dürften.«
Wie machte er es nur, daß sie ihm immer wieder glaubte, wider besseren Wissens, sogar gegen ihren erklärten Willen?
»Wie gesagt«, fuhr Thorn fort, »es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn auch ohne deine Hilfe aufspüren. In einer Woche spätestens haben wir ihn so oder so gefunden.« In einer Woche, spätestens, dachte Kara, gibt es dich nicht mehr. Laut und gereizt sagte sie: »In Ordnung. Wo ist dieser verdammte Suchhund?«
»Aber, aber!« Thorn lächelte und zog ein kleines, mit einer haardünnen Nadel versehenes Glasröhrchen aus der Tasche. »Das sind nun wirklich barbarische Methoden. Würdest du vielleicht deinen Ärmel hochrollen?«