46

Sie verließen die Libellenhalle mit einem Aufzug aus silberfarbenem Metall, und als sie etliche Stockwerke tiefer aus der Kabine traten, da wußte Karas Verstand zwar noch, daß sie sich im Inneren eines Schiffes befanden, das zwischen den Sternen flog, aber ihre Augen und all ihre anderen Sinne behaupteten, sie wäre in einem Palast. Ein mit mattsilbernem Metall ausgekleideter Korridor nahm sie auf, der so breit und lang war, daß sich manche der Männer und Frauen, die sie sah, auf kleinen rollenden Karren fortbewegten. Das Licht war nicht mehr weiß und grell, sondern so mild wie Sonnenlicht an einem warmen Frühlingstag, und als sie den Kopf hob, konnte sie keinerlei Lampe erkennen. Die Helligkeit strahlte von überallher zugleich, als leuchte die Luft. Sie passierten drei Kreuzungen des gewaltigen Ganges, der das Schiff auf ganzer Länge durchziehen mußte, und mehrere Türen, die offenstanden. Da ihre Begleiter nichts dagegen zu haben schienen, warf Kara einen neugierigen Blick in die dahinterliegenden Räume. Was sie sah, verblüffte sie nur noch mehr. Sie hatte mit von Maschinen und geheimnisvoll blinkenden, klickenden und summenden Geräten vollgestopften kleinen Zellen gerechnet, aber sie entdeckte zumeist große, behaglich eingerichtete Räume mit fremdartigem, aber nicht unbequem erscheinendem Mobiliar – und einige Fenster.

Schließlich erreichten sie das Ende des Ganges, und als sie durch eine Tür traten, fand Kara schlagartig in die Wirklichkeit zurück und begriff wieder, wo sie war: an Bord eines Kriegsschiffes. Auch hier herrschte dieses milde Frühsommerlicht, aber sie sah keine Fenster mehr und hörte kein Lachen. Die Männer, die sich in diesem Teil des Thrones bewegten, trugen blauschwarze Uniformen und Helme mit Visieren aus Glas, und sie bewegten sich wie tüchtige, gut ausgebildete Soldaten. Einige blieben stehen und warfen ihr und Gendik Blicke nach;

Blicke, in denen Kara vergeblich nach so etwas wie Feindschaft oder auch nur Verachtung suchte. Sie entdeckte nur eine gewisse Neugier.

Ihre Begleiter blieben stehen. Einer von ihnen trat auf Kara zu und streckte fordernd die Hand nach ihrem Schwert aus. Kara legte die Rechte auf den Griff der Waffe und schüttelte wortlos den Kopf. Sie wußte, wie dumm sie im Grunde handelte. Und sie war nicht wenig erstaunt, als der Soldat nicht einmal den Versuch machte, ihr das Schwert mit Gewalt zu nehmen, sondern nur mit den Schultern zuckte und ein Wort in seiner unverständlichen Sprache zu seinen Kameraden sagte; das die mit einem Lachen quittierten. »Was soll das?« flüsterte Gendik neben ihr. »Willst du unbedingt einen Streit provozieren?«

»Ich glaube«, murmelte Kara verwirrt, »das könnte ich gar nicht. Selbst wenn ich es wollte.«

»Es gibt nicht viele Menschen, denen ich das zutraue – aber du gehörst dazu.« Kara hatte die Stimme erkannt, bevor sie sich herumdrehte. Vor ihr stand der Offizier, den sie auf der Treppe zu Aires’ Zimmer gesehen hatte. Ihr alter Freund vom Strand und aus der Gasse in Schelfheim. Zwei oder drei Sekunden lang hielt er ihrem Blick wortlos stand, und Kara gestand sich verblüfft ein, daß das Lächeln in seinen Augen echt war, dann hob er die Hand und machte eine flüchtige Geste zu den drei Männern, die sie hierherbegleitet hatten. »Ihr könnt gehen«, sagte er. »Ich rede allein mit unseren Besuchern.«

Er bediente sich ihrer Sprache, begriff Kara, damit sie ihn verstand. War das nun Zuvorkommen oder nur ein weiteres Zeichen von Überheblichkeit?

Ohne auf ihre oder Gendiks Reaktion zu warten, wandte er sich herum und steuerte auf eine Tür zu. Er betrat den Raum, ohne sich auch nur noch einmal zu ihnen umzudrehen, als wäre es völlig selbstverständlich, daß sie ihm folgten. Ganz plötzlich wußte Kara, wieso ihre Gastgeber sie so sorglos behandelten. Die Tatsache, daß man sich nicht einmal die Mühe machte, sie nach verborgenen Waffen zu durchsuchen, hatte sie im ersten Moment verwirrt. Aber was nach Leichtsinn aussah, war in Wirklichkeit das Wissen um eine unerschütterliche Sicherheit.

Der Bärtige durchquerte das Zimmer und ließ sich in einen Stuhl fallen, der hinter einem gewaltigen Tisch stand. Der Tisch war leer und bestand nur aus einer fast zehn Zentimeter dicken Glasscheibe, die auf drei geradezu lächerlich dünnen Beinen ruhte. Zwei weitere Stühle standen auf der anderen Seite. Sie sahen recht bizarr aus, erwiesen sich aber als überraschend bequem, als Kara und Gendik sich nach kurzem Zögern gleichfalls setzten.

Für Momente senkte sich eine unbehagliche Stille über den Raum. Gendik maß sein Gegenüber voller Unsicherheit und Furcht, Kara voller Unsicherheit und Groll, während der Bärtige sie beide abwechselnd und mehrmals mit einem Blick musterte, den Kara nicht zu deuten vermochte. Sie stellte nur mit immer größer werdender Verwirrung fest, daß sie keinerlei Feindschaft darin entdeckte.

»Es freut mich, daß Ihr meine Einladung angenommen habt, Gendik«, sagte der Fremde schließlich. Zu Kara gewandt und mit einem flüchtigen Lächeln fügte er hinzu: »Und du auch, Kara. Schließlich hast du mich schon mehr als einmal umgebracht.«

Gendik sah plötzlich sehr verwirrt aus, aber der Fremde fuhr wieder an ihn gewandt fort: »Wir haben eine Menge zu bereden, denke ich. Eine Erfrischung?«

Kara wollte impulsiv ablehnen, aber Gendik nickte schon, und sie begriff, daß sich diese beiden Männer auf eine gewisse Weise sehr ähnelten. Sie beide verhielten sich so formell, wie man es von Politikern oder Diplomaten erwarten konnte. Der Bärtige berührte mit Zeige- und Mittelfinger die Tischplatte vor sich, und in dem Glas, das eine Sekunde zuvor noch klar und völlig leer gewesen war, glomm ein warmes, grünes Licht auf. Unmittelbar darauf öffnete sich eine schmale Klappe in der Wand hinter ihm, und ein dreirädriger Karren rollte heraus. Der Fremde nahm eine Flasche mit einer bräunlichen Flüssigkeit und drei Gläser von seiner Oberfläche, stellte alles auf den Tisch, und der Wagen entfernte sich klirrend und scheppernd wieder. Umständlich goß der Mann die drei Gläser voll und schob zwei über den Tisch. Gendik griff nach dem seinen, aber Kara rührte sich nicht, was ihr einen fast amüsierten Blick des Bärtigen eintrug.

»Wer seid Ihr?« begann Gendik, nachdem er vorsichtig einen Schluck von seinem Getränk gekostet hatte. »Wo sind wir hier? Was ist das für ein Ort, und wieso habt Ihr uns hergebracht?«

»Mein Name ist Thorn«, antwortete der Bärtige. »Ich bin der Kommandant dieser Drohne und zugleich der befehlshabende Offizier des ganzen Unternehmens.«

»Drohne?« Gendik runzelte die Stirn und warf einen raschen Blick in Karas Richtung. »Sie nannte es... Thron.«

Thorn lächelte flüchtig. »Nun, irgendwie ist das nicht einmal falsch. Wir können dabei bleiben, wenn es Euch lieber ist. Aber jetzt sollten wir über wichtigere Dinge reden, Gendik.« Er streckte abermals die Hand aus und berührte die gläserne Platte, und diesmal vollzog sich eine geradezu unheimliche Veränderung. Das kristallklare Glas füllte sich mit einem farbigen, sich bewegenden Bild der Klippe, hinter der Schelfheim lag. Es war von einem Punkt zwanzig oder dreißig Meilen tief im Schlund heraus aufgenommen, so daß man den größten Teil der lodernden Feuerbarriere erkennen konnte, mit der die Stadt den Ansturm der Monster abwehrte. Aber Kara sah auch voller dumpfem Schrecken, daß die Flammen hier und da bereits erloschen waren. In der glühenden Verteidigungslinie klafften große Löcher, durch die sich ein breiter Strom alptraumhafter Kreaturen ergoß. »Wie zum Beispiel über Schelfheim«, sagte Thorn, nachdem er ihr und vor allem Gendik ausreichend Zeit gelassen hatte, das Bild zu betrachten.

Es gelang Gendik nicht, seinen Blick von der Glasscheibe zu lösen. »Ihr... Ihr wißt... daß...« stammelte er. Dann brach er ab und sah mit einem Ruck auf. Er starrte Thorn an. »Wer seid Ihr?« keuchte er. »Ein Zauberer?«

Thorn schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Wenn ich auch über gewisse... Hilfsmittel verfüge, die Euch wie Zauberei vorkommen würden. Auf jeden Fall aber bin ich ein Mann, der Euch helfen kann. Euch und Eurer Stadt, Gendik.« Er zögerte einen ganz genau berechneten Moment, ehe er auf Kara deutete, sie dabei aber nicht ansah, sondern an Gendik gewandt fortfuhr: »Ich nehme an, Kara hat Euch schon in groben Zügen von uns erzählt.«

»Nein«, antwortete Gendik mit einem neuerlichen Blick in Karas Richtung.

»Das erleichtert die Sache«, sagte Thorn. »Denn was immer sie Euch erzählt hätte, es wäre falsch gewesen. Ich weiß, daß Ihr uns für Eure Feinde haltet, aber das sind wir nicht.«

»Wie kommst du nur auf die Idee, ich könnte einen solchen Unsinn erzählen?« sagte Kara. Ihre Stimme troff vor Hohn. »Du und unser Feind? Ich bin ganz sicher, daß du den Hort nur aus Versehen niedergebrannt und dreißig von meinen Kriegern dabei umgebracht hast. Und der Angriff auf Schelfheim war sicherlich ebenfalls nur ein kleiner Patzer, nicht wahr?«

Thorn seufzte. »Manchmal muß man Dinge tun, die man eigentlich nicht tun will«, sagte er. »Ich dachte, die Herrin der Drachenreiter wüßte das.«

»Oh, Ihr tut das alles gegen Euren Willen?« fragte Kara spöttisch. »Dann zeigt mir den, der Euch dazu zwingt. Ich werde zu ihm gehen und ihm erklären, daß er einen Fehler begeht. Ich bin sicher, er sieht das ein.«

»Das reicht«, sagte Gendik scharf. »Wir haben keine Zeit für deine dummen Spiele, Kara!« Erregt deutete er auf das Bild der Stadt, das noch immer den Tisch füllte. »Ihr und Eure Männer, Ihr könnt uns helfen?«

»Zuerst sind noch einige Fragen zu klären«, sagte Thorn ausweichend, aber dann nickte er. »Wenn wir uns einig werden, Gendik, kann ich Euch versprechen, daß es durchaus in meiner Macht liegt, Eure Stadt vor dem Ansturm dieser Ungeheuer zu schützen.«

»Nachdem er sie zuerst auf Euch gehetzt hat«, sagte Kara. Gendik fuhr wieder herum. Wut flammte in seinen Augen auf – aber nur im allerersten Moment. Erst dann schien er wirklich zu begreifen, was sie gesagt hatte. Verwirrt und völlig fassungslos wandte er sich wieder an den Mann an der anderen Seite des Tisches. »Ist das wahr? Wie meint sie das?«

Kara registrierte zufrieden, daß es ihr offensichtlich gelungen war, Thorn ein wenig aus dem Konzept zu bringen. »Man kann es so sehen«, sagte er. »Und ich verstehe sogar, daß Kara dies glaubt.«

»Glaubt?« Kara mußte an sich halten, um nicht zu schreien. »Ich habe gesehen, was deine Männer tun! Sie sind es, die mit ihren Maschinen diese Monster gegen die Stadt hetzen! Es ist ein bißchen billig, Hilfe gegen eine Gefahr anzubieten, die man selbst heraufbeschworen hat, findest du nicht?«

Thorn seufzte erneut, es klang beinahe traurig. »Ich begreife deinen Zorn, Kara«, sagte er. »Wäre ich an deiner Stelle, erginge es mir nicht anders. Aber glaube mir – das haben wir nicht gewollt.«

»Du wirst lachen, Thorn«, sagte Kara. »Aber ich glaube dir nicht.«

»Ich... ich verstehe nicht ganz«, begann Gendik, wurde aber sofort wieder von Kara unterbrochen, die heftig gestikulierend abwechselnd auf Thorn und das Bild in der Tischplatte deutete. »Aber ich, Gendik. Diese Männer sind mit ihrem Schiff hierher gekommen, weil sie nichts anderes als unsere ganze Welt haben wollen.« Anklagend wies sie auf Thorn. »Ich bin sicher, er wird dir gleich vorschlagen, deine Stadt zu beschützen, wenn du sie ihm hinterher übergibst.«

»Ich hätte es weniger drastisch ausgedrückt, aber etwas in dieser Art schwebte mir vor«, sagte Thorn in einem Ton, für den Kara ihm den Hals hätte herumdrehen können.

»Du bist wirklich zu edel«, sagte Kara. »Du kommst mir vor wie ein Mann, der ein Haus anzündet und hinterher mit einem Eimer Wasser kommt, um ihn dem Besitzer zu verkaufen.«

»Ich sagte bereits – was geschehen ist, tut mir leid«, antwortete Thorn eine Spur schärfer. »Es war niemals meine Absicht, Schelfheim zu vernichten. Wenn ich das wollte, hätte ich es leichter haben können.«

»Aber vielleicht nicht so dramatisch«, murmelte Kara wütend.

Thorn wollte antworten, schüttelte aber dann nur den Kopf und sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein. In verändertem, ruhigeren Tonfall und an Gendik gewandt fuhr er fort. »Ich sehe ein, daß es noch eine Menge Dinge gibt, über die wir reden müssen. Mißverständnisse müssen ausgeräumt, Fragen beantwortet werden. Aber Ihr selbst habt das gerade sehr treffend formuliert, Gendik. Jetzt ist nicht der Moment dazu. In jeder Minute, die wir hier sitzen und reden, sterben in Eurer Stadt Menschen. Mein Angebot lautet: Wir werden Schelfheim beschützen. Ich garantiere Euch, daß dieser Spuk vorbei ist, zehn Minuten, nachdem ich es befehle.«

Gendik starrte auf das Bild der untergehenden Stadt. Auf seinem Gesicht arbeitete es, und Kara fragte sich, ob sie ihm vielleicht Unrecht getan hatte, denn es dauerte recht lange, bis er mit ganz leiser Stimme fragte: »Und was verlangt ihr dafür?«

»Im Grunde nicht mehr, als daß ihr aufhört, uns zu bekämpfen. Freien Zugang zur Stadt und zu den Katakomben. Und vielleicht einen Stützpunkt für meine Männer und ihre Maschinen.«

»Und unbedingten Gehorsam, nicht zu vergessen«, fügte Kara böse hinzu. »Nicht wahr, Thorn?« Sie starrte Gendik an. »Er lügt! Er will eure Stadt – und das ist erst der Anfang.«

»Ist das wahr?« fragte Gendik.

»Es ist wahr!« antwortete Kara an Thorns Stelle. Thorn machte keine Anstalten, sie zu unterbrechen, sondern sah sie nur beinahe vorwurfsvoll an. »Wenn ihr seine Hilfe annehmt«, fuhr Kara erregt fort, »dann hat sich nichts geändert, seit wir Jandhi und ihre Drachentöchter vertrieben haben, Gendik. Dann werden es wieder Fremde sein, die über uns herrschen.«

»Selbst wenn es so wäre«, murmelte Gendik, »wäre die Alternative nur der Tod.« Er wirkte unglaublich verloren und hilflos, und für Sekunden tat er Kara nur leid. Ein Mann, der alles verloren hatte, wofür er je gelebt und gekämpft hatte, und der gerade erfahren hatte, daß ihm keine andere Wahl mehr blieb, als sein Volk zu verraten, wollte er es retten.

Thorn lächelte. »Ich sehe, Ihr habt den Ernst der Lage erkannt, Gendik. Aber bevor Ihr eine Entscheidung trefft, laßt mich noch eines sagen.« Er deutete auf Kara. »Ich verstehe ihren Zorn. Ich verstehe, warum sie sagt, was sie sagt. Aber sie irrt sich. Wir haben kein Interesse daran, über irgend jemanden zu herrschen.«

»Warum seid ihr dann hier?« fragte Kara. »Warum seid ihr gekommen? Warum greift ihr uns an? Warum... tötet ihr uns?«

»Aber das tun wir nicht«, widersprach Thorn. »Ich sagte bereits, daß es ein schrecklicher Unfall war, den wir bedauern, der aber einmal geschehen ist.«

»Ein Unfall?« Kara schrie nun wirklich. »All diese... diese Bestien greifen Schelfheim doch nur an, weil ihr sie dazu zwingt! Es sind deine Maschinen, die Gäa töten, nicht wahr?«

Sie las in seinen Augen, daß er im ersten Moment nicht einmal verstand, wovon sie sprach. Dann runzelte er die Stirn. »Gäa...? Oh, du meinst dieses Schmarotzerwesen, das im Dschungel lebt. Ja, ich habe Befehl gegeben, es zu vernichten, weil es uns eine Menge Schwierigkeiten bereitet hat.«

»Einfach so?« fragte Kara. Ihr Zorn verrauchte und machte einem Gefühl tiefen, fast lähmenden Entsetzens Platz. »Du... du tötest das größte denkende Lebewesen einer Welt und...«

Ihre Stimme versagte.

»Es ist nicht mehr als ein Tier«, sagte Thorn. »Noch dazu ein äußerst gefährliches Tier. Ich weiß, daß du mir auch das nicht glauben wirst, Kara, aber über kurz oder lang wäre es auch euch gefährlich geworden. Wir haben sein Verhalten und seine Fähigkeiten lange analysiert. Es wächst unaufhörlich. Vielleicht hätte es noch tausend Jahre gedauert, vielleicht auch zehntausend – aber irgendwann einmal wird es alles hier unten verschlungen haben. Und das wird ihm dann nicht reichen.«

»Das ist nicht wahr!« sagte Kara wütend. »Und selbst wenn – ihr habt nicht das Recht, Gäa umzubringen.«

»Wir haben jedes Recht, das wir uns nehmen«, sagte Thorn ruhig.

Kara ignorierte diese Worte, um nicht völlig die Beherrschung zu verlieren. »Gäa ist... mehr als ein Tier«, sagte sie. »Sie ist...«

»Groß«, unterbrach sie Thorn. »Nicht wahr?«

Sie nickte.

»Aber das ändert nichts«, sagte Thorn. »Ich weiß, es ist ein sehr erstaunliches Wesen. Aber es ist nur ein Wesen, Kara. Hältst du sein Leben für wertvoller als das all dieser Menschen, die in Gendiks Stadt leben? Mißt man auf eurer Welt den Wert eines Lebens nach seiner Größe?«

Kara suchte vergeblich nach einer Antwort. Sie ahnte, daß sie einen sinnlosen Kampf kämpfte. Sie kam sich hilflos und entsetzlich verloren vor. Und vielleicht hatte der Mann sogar recht.

Thorn sah sie einen Moment lang durchdringend an, dann löschte er mit einer raschen Handbewegung das Bild in dem Tisch und wandte sich in seinem Stuhl wieder zu Gendik um. »Habt Ihr über meinen Vorschlag nachgedacht?«

»Wer seid Ihr?« murmelte Gendik. Er machte eine hilflose Geste mit beiden Händen. »Eure Männer. Eure... Maschinen. Dieses... dieses unglaubliche... Ding hier. Sagt Kara die Wahrheit? Seid Ihr hergekommen, um uns unsere Welt zu stehlen?«

»Nein«, antwortete Thorn. »Wir werden euch nichts wegnehmen. Überlegt selbst: Ihr – und vor allem dieses jähzornige kleine Mädchen mit seinen Drachenfreunden – habt uns bereits großen Schaden zugefügt. Mehrere meiner Männer sind tot, und eine ganze Anzahl überaus kostbarer Maschinen wurden zerstört. Ich bin denen, die mich geschickt haben, Rechenschaft schuldig. Sie würden nicht verstehen, warum ich so viel gebe, um so wenig zu bekommen. Eure Welt ist groß, viel größer, als ihr wahrscheinlich ahnt. Und der Teil davon, den ihr bewohnt, ist winzig. Wir nehmen nur, was ihr nicht braucht.«

»Also doch«, sagte Gendik ganz leise. »Ihr seid, was sie gesagt hat. Nichts als Diebe.«

»Es tut mir leid, wenn Ihr das so seht«, sagte Thorn betrübt. »Ich hatte gehofft, daß wir uns einigen könnten.«

»Einigen?« begehrte Kara auf. »Mit Mördern?«

Thorn blickte sie wortlos, aber jetzt voller Zorn an, und Kara begann erregt mit beiden Händen zu gestikulieren, während sie sich vorbeugte und abwechselnd ihn und Gendik anstarrte. »Ihr seid nicht unsere Feinde? Ihr wollt nichts, was euch nicht gehört? Du lügst, Thorn. Ihr habt Hunderte von Menschen getötet, vielleicht Tausende! Waren es nicht deine Maschinen, die den grauen Staub auf die Stadt im Schlund geworfen haben? Sind es nicht deine Maschinen gewesen, die unsere Ernten verdorben, die dafür gesorgt haben, daß unsere Frauen keine Kinder mehr bekommen, die Quellen versiegen und giftige Seen entstehen lassen? Streite es nicht ab!« sagte sie mit einer herrischen Geste, als Thorn sie unterbrechen wollte. »Ich kenne die Wahrheit. Ich weiß, wer ihr seid und woher ihr kommt. Elder hat mir die Wahrheit erzählt!«

»Elder?« Thorn sah sie fragend an, dann nickte er. »Nennt er sich jetzt so? Lebt er noch?«

»Das sollte ich dich fragen«, antwortete Kara. »Außerdem spielt es keine Rolle. Ihr seid alle gleich. Ihr lügt, und ihr tötet.«

Thorn seufzte tief. »Wenn dieser Dummkopf dir wirklich soviel erzählt hat«, sagte er. »Dann hat er dir vielleicht auch erzählt, daß wir Kaufleute sind. Keine Mörder.«

»Und was ist das, was ihr mit Gäa tut?«

Thorn explodierte endgültig. »Daß wir die Insektenkultur auf dem östlichen Kontinent ausgelöscht haben, hat keinen von euch gestört«, sagte er. »Wären wir nicht gewesen, hätten sie euch wirklich übel mitgespielt, glaub mir.«

»Wie edel«, höhnte Kara.

Thorn beruhigte sich wieder. »Ich gebe zu, daß Fehler gemacht worden sind«, sagte er. Er lächelte, flüchtig und irgendwie traurig. »Ich könnte jetzt sagen, daß das war, bevor ich hierherkam und das Kommando übernahm. Es wäre sogar die Wahrheit, aber ihr würdet es mir nicht glauben, und dafür hätte ich sogar Verständnis. Nimm einfach an, unsere Befehle hätten sich geändert.«

»Und wenn sie sich wieder ändern?« warf Gendik ein.

»Das werden sie nicht«, versicherte Thorn. »Ich sagte: Es wurden Fehler gemacht. Als wir hier ankamen, da hatten wir eine Menge mit diesen Ungeheuern auf dem anderen Kontinent zu tun. Ich werde euch vielleicht bei Gelegenheit einmal einige Aufnahmen von ihnen zeigen. Wir haben euch, offen gesagt, unterschätzt. Wir hielten euch für irgendwelche Wilde, die in den Ruinen einer untergegangenen Welt herumkriechen und sich gegenseitig auffressen. Der Mann, der vor mir hier war, war ein Narr. Er wurde abgelöst, und ich verspreche euch, daß er für seine Fehler zur Verantwortung gezogen werden wird.«

»Und das ist alles?« Kara war den Tränen nahe. Aber es waren Tränen der Wut. »Du meinst, du sagst: Entschuldigung, es war nicht so gemeint, und dann ist alles in Ordnung?«

Thorn lachte. »Du hast eine richtig herzerfrischende Art, die Dinge möglichst kompliziert auszudrücken«, sagte er. »Ja, in der Tat – etwas in dieser Art schwebte mir vor.«

»Aber ihr stehlt uns unsere Welt!« sagte Kara. »Ihr kommt hierher und... ihr habt Gäa vernichtet. Ihr habt den Schlund vernichtet. Ihr... kommt hierher und...«

»Wir haben nichts vernichtet«, unterbrach sie Thorn. Der Ton seiner Stimme glich dem eines Lehrers, der mit einem nicht ganz einsichtigen, aber talentierten Schüler sprach. »Das, was du den Schlund nennst, war früher einmal Meer. Wir stellen nur den Urzustand der Dinge wieder her. Ich hatte gehofft, es nicht sagen zu müssen, aber... es war dein Volk, das diesen Planeten zerstört hat. Schau dich um. Du kennst deine Welt besser als ich. Du weißt, daß neunzig Prozent der Landmasse noch heute verstrahlte Wüsten sind, in denen nie wieder etwas leben wird. Sieh dir das Leben auf dieser Welt an. Du bist ein Mensch, Kara. Ebenso wie er...« Er deutete auf Gendik.

»... und viele deiner Freunde. Aber die meisten sind...« Er suchte nach Worten. »Monster, Mutanten, halb Mensch, halb Tier. Krüppel. Bestien. Wir sind hier, um aus diesem Planeten wieder eine Welt zu machen, auf der Menschen leben können. Leben, ohne Angst haben zu müssen, daß ihre Kinder mit zwei Köpfen oder sechs Beinen geboren werden. Wenn es das ist, was du mir vorwerfen willst, dann hast du recht.«

»Aber ihr habt nicht das Recht dazu!« sagte Kara. »Es ist unsere Welt, und sie gefällt uns so, wie sie ist.«

»Recht?« Thorn lachte ganz leise. »Von welchem Recht sprichst du? Gut – es stimmt: Wir kommen von einer Welt, die weiter entfernt ist, als du dir vorstellen kannst. Aber wäre es ein Unterschied, kämen wir von einem anderen Kontinent? Würdest du dasselbe dem Herrscher eines Volkes vorwerfen, das aus einem der Länder im Norden kommt, täte es das gleiche wie wir? Beantworte mir diese Frage ganz ehrlich, Kara – und wenn schon nicht mir, dann dir selbst.«

Das Eis, auf dem sie sich bewegte, wurde dünner und bekam Sprünge. Ihre innere Stimme flüsterte ihr zu, daß sie am besten gar nichts mehr sagte. Sie wußte, daß er log, aber es fiel ihr immer schwerer, sich gegen das schleichende Gift seiner Worte zu wehren. Thorn gehörte zu den Menschen, die mit Worten so perfekt wie mit einer tödlichen Klinge umzugehen wußten. Wenn sie noch eine Stunde mit ihm sprach, dann würde er sie davon überzeugt haben, daß alles, was er und seine Männer taten, nur zu ihrem Besten war.

Thorn wartete vergebens auf eine Antwort und drehte sich schließlich wieder zu Gendik herum. Er fuhr in einem beinahe bedauernden Tonfall fort. »Die Entscheidung liegt bei Euch, Gendik. Kara ist eine Kriegerin. Sie ist von Kindesbeinen an dazu erzogen worden, wie eine Kriegerin zu denken und zu handeln. Aber Ihr seid ein Mann, dem das Wohl seiner Untertanen über alles geht. Bedenkt, was ich gesagt habe. Und bedenkt, was wir Euch bieten: Weder Ihr noch Eure Kinder werdet es noch erleben, aber ich verspreche Euch, daß diese Welt ein Paradies werden wird.«

»Für sein Volk«, sagte Kara. »Sie werden kommen und sich ausbreiten. Sie... sie werden diese Welt in Besitz nehmen. Unsere Welt, Gendik.« Sie schlug erregt mit der flachen Hand auf den Tisch. »Warum, glaubt Ihr, Gendik, tut er das? Weil sie diese Welt haben wollen! Weil sie sie brauchen. Für sich! Für ihre Kinder und Enkel. Nicht für unsere Nachkommen.«

Thorn verdrehte die Augen. »Vielleicht geht es ja in deinen Kopf nicht hinein, Kara«, sagte er gereizt. »Aber weißt du, es ist auf unseren Welten durchaus möglich, daß verschiedene Völker friedlich nebeneinander leben, ohne sich bei jeder Gelegenheit die Kehlen durchzuschneiden.«

»Und wie lange?« fragte Gendik. »Bis ihnen der Raum, den Ihr für sie schafft, zu klein wird? Hundert Jahre? Zweihundert?«

»O nein«, antwortete Thorn. »Seht Ihr, wir sind seit beinahe hundert Jahren hier, ohne daß Ihr unsere Anwesenheit auch nur bemerkt hättet. Eine ganze Welt umzubauen ist eine große Aufgabe. Es wird vielleicht noch einmal tausend Jahre dauern, ehe die ersten Siedler hier eintreffen. Weder Euer Volk noch Eure Stadt sind in Gefahr. Im Gegenteil, wenn Ihr mit uns zusammenarbeitet, werden wir viel für Euch tun.«

»Ich nehme an, aus lauter Menschenfreundlichkeit«, sagte Kara mit ätzendem Spott.

»Unter anderem«, antwortete Thorn ungerührt. »Aber auch, weil es einfach der billigere Weg ist. Einen Krieg zu führen kostet Geld. Verbündete zu haben bringt im allgemeinen leichter Gewinn.«

»Ja«, flüsterte Kara. »Und irgendwann einmal haben wir dann unseren Dienst getan, nicht wahr? Und selbst wenn du die Wahrheit sagst, was geschieht dann? Eure Siedler werden kommen und aus dieser Welt einen Platz nach ihrem Geschmack machen. Wir sind wenige. Wir herrschen nur auf einem winzigen Teil dieser Welt. Glaubst du wirklich, sie werden ihn uns lassen?«

»Wir können einen Vertrag schließen«, schlug Thorn vor. »Damit wir in einem Reservat leben wie Tiere in einem Gehegel« Kara schüttelte wütend den Kopf. »Nein, Thorn. Diese Welt mag groß sein, groß genug für uns und hundert andere Völker, aber nicht groß genug für dein und mein Volk.«

Thorn sah sehr ernst an. »Du weißt, was du damit gesagt hast?« fragte er.

»Daß wir kämpfen werden!« erwiderte Kara wütend. »Vernichtet uns, Thorn, wenn ihr es könnt. Aber tut es gründlich, denn wenn nur einer von uns übrigbleibt, wird er euch alle töten.«

Thorn blickte sie weiter auf diese durchdringende Art und Weise an – und plötzlich begann er schallend und laut zu lachen. »O mein Kind«, sagte er. »Wenn ich nicht wüßte, daß es so etwas auf dieser Welt gar nicht gibt, dann würde ich behaupten, du hättest zu viele schlechte Filme gesehen.« Er wurde übergangslos wieder ernst. »Was glaubst du, warum du hier bist?« schnappte er. »Weil ich euch nicht vernichten will. Ich weiß nicht, was dieser Narr Elder dir über uns erzählt hat, aber wir sind weder Diebe noch Massenmörder.«

»Und wie bezeichnest du das, was in Schelfheim geschieht?« fragte Kara.

Thorn schwieg. Geschlagene zehn Sekunden lang blickte er Kara an, dann streckte er wieder die Hand nach dem Tisch aus und berührte die Platte. Aber anstelle des Bildes der brennenden Stadt erschien das überlebensgroße Abbild eines Mannes in blauer Uniform. »Starten Sie Ihre Einheiten, Commander«, sagte Thorn, wobei er sich wieder Karas Sprache bediente, damit sie und Gendik seinen Befehl verstanden. »Sie gehen wie besprochen vor. Achten Sie darauf, daß die Verluste unter der Zivilbevölkerung so gering wie möglich sind.«

Das Bild erlosch, noch bevor der Mann darauf antworten konnte, und Thorn wandte sich an Gendik. »In einer halben Stunde ist der Spuk vorbei. Darauf habt Ihr mein Wort, Gendik. Und jetzt verlange ich eine Entscheidung von Euch.« Er atmete tief und hörbar ein und warf Kara einen ganz kurzen, aber vor Wut brodelnden Blick zu. »Ihr könnt auf sie hören oder auf die Stimme Eurer Vernunft, Gendik, aber ich verlange jetzt eine Entscheidung. Ich verspreche Euch keine Wunder, alles wird für Euch bleiben wie es war. Ihr könnt uns als Partner sehen oder als das, was wir sind – Kaufleute, die ihren Geschäften nachgehen wollen und vielleicht sogar mit Euch Handel treiben. Denn auch Ihr habt Dinge, die wir nicht haben. Oder aber versucht, uns weiter zu bekämpfen, und opfert weiter Eure besten Männer und Frauen, indem Ihr Drachen gegen Laserkanonen rennen laßt.«

Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, wie es Kara zuvor getan hatte. »Aber ich verlange eine Entscheidung. Auf der Stelle.«

Gendik starrte aus aufgerissenen Augen und ohne zu blinzeln ins Leere. Dann drehte er langsam, wie ein uralter Mann den Kopf und sah Kara an, und sie las seine Antwort in seinen Augen, noch ehe er sie aussprach. »Es tut mir leid, Kara«, sagte er. »Ich bin einverstanden.«

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