Sie erreichten die Stadt im Morgengrauen des nächsten Tages, denn trotz allem hatte keiner von ihnen noch die Energie aufgebracht, sofort aufzubrechen. Sie wären ohnehin zu spät gekommen, denn wie Kara gleich nach ihrer Ankunft erfuhr, hatte der Angriff auf Schelfheim nahezu in der gleichen Minute stattgefunden, als auch der Hort überfallen worden war.
Keiner der Drachen samt ihrer Reiter waren noch am Leben. Zwei der riesigen Tiere waren in die Stadt gestürzt und hatten den Verheerungen des vorangegangenen Angriffs neue hinzugefügt, doch die meisten Tiere waren draußen über dem Schlund abgestürzt. Sie hatten nicht einmal die Chance gehabt, ihre Gegner in einen Nahkampf zu verwickeln.
Vielleicht hat Elder recht, dachte Kara matt, während sie schweigend und mit unbewegtem Gesicht Cords Bericht lauschte. Vielleicht waren ihre Gegner einfach besser als sie. »Ich konnte nichts tun«, beendete Cord seinen Bericht. »Ich war mit dem Hund unten in den Katakomben. Als ich den Lärm hörte, bin ich sofort zurückgelaufen, aber es war zu spät. Sie hatten meinen Drachen erschossen.«
»Sei froh, daß du unten warst«, sagte Donay. »Sonst wärst du jetzt auch tot.« Er hatte Kara und das gute Dutzend Drachenflieger begleitet, da er in der Stadt noch einige Dinge holen wollte – unter anderem auch Irata, das menschliche Gegenstück zu Elders Computer. Und eine ellenlange Liste von Dingen, die mitzubringen ihm Elder aufgetragen hatte. Donay war blaß geworden, als er sie überflog, hatte sie aber kommentarlos eingesteckt.
»Ja, vermutlich hast du recht«, sagte Cord düster. »Aber ich wünschte mir fast, es wäre so.«
»Unsinn!« Kara widersprach heftig. »Ich brauche lebende Krieger, keine toten! Hast du eine Spur gefunden?«
»Von Elder?« Cord nickte. »Er war dort unten. Ganz in der Nähe der Stelle, an der Liss und die beiden anderen ermordet wurden. Der Hund hat seine Spur eindeutig wiedererkannt.«
»Daß er dort unten war, muß nicht unbedingt bedeuten, daß er die drei auch umgebracht hat«, sagte Donay. Kara registrierte den besorgten Blick, den er ihr aus den Augenwinkeln zuwarf. »Was hast du entdeckt?«
»Ein paar alte Keller voller Staub und Spinnen«, antwortete Cord. Zögernd fügte er hinzu: »Und noch etwas, aus dem nicht schlau werde.« Er sah Donay an. »Vielleicht solltest du es dir bei Gelegenheit noch einmal ansehen.«
»Nicht bei Gelegenheit«, sagte Kara. »Sofort. Wir gehen noch heute hinunter. Was ist es?«
»Wahrscheinlich nichts von Bedeutung«, antwortete Cord. »Eine Inschrift an einer Wand. Ich kann es nicht besser ausdrücken, aber irgendwie jagte sie mir Angst ein. Der Hund wurde auch unruhig. Ich konnte ihn kaum noch bändigen.«
»Eine Inschrift?« Donay beugte sich interessiert vor. »Ein Bild, meinst du?«
»Nein. Eine Art... Buchstaben. Ich konnte sie nicht lesen.«
»Hunde können auch nicht lesen«, sagte Donay.
»Ich weiß«, antwortete Cord in leicht beleidigtem Ton.
»Trotzdem war er wie von Sinnen. Er hat sogar nach mir geschnappt.«
»Gut«, sagte Kara. »Sehen wir uns diese sonderbare Inschrift an.«
»Jetzt gleich?« fragte Cord.
»Was spricht dagegen?«
»Gendik will dich sehen«, antwortete Cord. »Karoll und er warten bereits draußen auf dich.«
»Er ist noch hier?« fragte Kara überrascht. Gleichzeitig war sie fast erleichtert. Der Anblick des brennenden Drachenhortes war nicht unbedingt das, was sie Gendik zur Begrüßung hatte bieten wollen.
»Er war noch gar nicht weg«, bestätigte Cord. Er stand auf. »Ich kann ihn abwimmeln, wenn du das möchtest.«
Kara liebäugelte eine Sekunde lang tatsächlich mit dem Gedanken. Aber dann schüttelte sie mit einem Seufzer den Kopf. »Nein, schick ihn nur her. Bringen wir es hinter uns.«
Cord ging, und Donay blickte ihm nachdenklich hinterher. »Was, zum Teufel, hat er damit gemeint?«
»Wir werden es sehen«, sagte Kara. Sie hatte keine Lust, jetzt darüber nachzudenken. Im Grunde wollte sie über gar nichts nachdenken. Sie wollte nicht einmal hier sein. Für einen Moment wünschte sie sich, wieder das Kind zu sein, das in einem anderen, beschützenden Drachenhort aufwuchs.
Karoll und der Herrscher von Schelfheim mußten wohl unmittelbar vor der Tür gewartet haben, denn sie erschienen bereits nach wenigen Augenblicken. Karolls Gesicht war so ausdruckslos, wie Kara es kannte; das Gesicht eines Politikers und Diplomaten, in dessen Wortschatz der Begriff ›Gefühl‹ einfach fehlte. Aber auf dem Antlitz Gendiks entdeckte sie weder Niedergeschlagenheit noch Schrecken. Seine Augen blitzten vor Zorn, und es dauerte eine Weile, bis Kara begriff, daß dieser Zorn weder den namenlosen Angreifern noch dem grausamen Schicksal galt, das seine Stadt getroffen hatte, sondern einzig und allein ihr.
Er polterte auch sofort los. »Du kommst spät! Der Überfall fand gestern morgen statt! Wieso kommt ihr erst jetzt, und wieso habt ihr nur so wenige Krieger bei euch? Die, die du hiergelassen hast...«
»... sind tot«, unterbrach ihn Kara. »Stellt Euch vor, Gendik, das ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen.«
Gendik erbleichte, weil er solch eine harte, schneidende Replik noch nicht erlebt hatte. Im gleichen beleidigenden Ton fuhr sie fort: »Ich muß gestehen, daß ich ein wenig überrascht bin, Euch hier zu sehen, Gendik. Ich dachte, ich hätte Euch und Eure Berater zu einem Gespräch in den Drachenhort eingeladen.«
»Ich kann hier nicht weg«, antwortete Gendik verstört. »Wie stellst du dir das vor? Die Stadt ist von einer Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes getroffen worden. Soll ich sie im Stich lassen, nur um einen Becher Wein mit dir und deinen Freunden zu trinken?«
Wie recht du hast, dachte Kara. Und die wirkliche Katastrophe kommt erst noch, mein Freund.
Karoll versuchte zu schlichten. »Ich bitte euch«, sagte er in die Runde. »Wir sind alle erregt und nervös. Gegenseitige Vorwürfe helfen da niemandem weiter. Gendik konnte nicht einfach für eine Woche verschwinden, nach allem, was hier geschehen ist, Kara. Und du hattest sicher gute Gründe, erst jetzt hier zu erscheinen und mit weniger Kriegern, als wir erwarteten.«
»Ja«, sagte Kara düster. »Die hatte ich.«
Gendik warf seinem Berater einen zornigen Blick zu, ging aber nicht weiter auf seine Worte ein, sondern setzte im gleichen, herausfordernden Tonfall wieder an: »Wann kommen die anderen Krieger? Und was gedenkt ihr zu tun, um einen dritten Überfall zu verhindern?«
»Überhaupt nichts«, antwortete Kara ruhig.
Karoll starrte sie aus aufgerissenen Augen an.
»Wir werden nichts tun, weil wir nichts tun können, Gendik. Du hast gesehen, wozu sie fähig sind. Was erwartest du von mir? Daß ich meine Leute gegen einen übermächtigen Feind in die Schlacht schicke? Ich habe dir zehn meiner besten Krieger hiergelassen, und sie haben sie abgeschossen wie lahme Tauben. Ich denke nicht daran, meine Freunde zu opfern.«
»Das heißt, du läßt uns im Stich?« murmelte Gendik fassungslos. »Du wirfst uns ihnen zum Fraß vor?«
»Zehn Jahre, Gendik«, begann Kara. »Zehn Jahre lang habt ihr alle keine Gelegenheit ausgelassen, uns zu zeigen, wie sehr ihr uns verachtet. Ihr habt unseren Schutz angenommen, aber unsere Nähe wolltet ihr nicht. Und ihr wollt sie noch immer nicht. Ihr verachtet uns, und ihr gebt euch nicht einmal die Mühe, es zu verheimlichen. Ihr haltet uns für Barbaren, für Wilde, die in ihrer Burg weit weg in den Bergen gut genug aufgehoben sind! Aber jetzt, wo eure kostbaren Leben in Gefahr sind, da schreit ihr plötzlich nach uns. Mit einem Mal sind die Barbaren wieder gut, nicht wahr?«
Sowohl Gendik als auch Karoll sahen sie völlig verständnislos an. Selbst Kara war ein wenig überrascht über die Heftigkeit ihres Ausbruchs, aber sie fühlte sich sehr erleichtert. Sie hatte es einfach einmal sagen müssen.
»Wir haben einen Vertrag, Kara«, sagte Karoll beinahe sanft. »Schelfheim zahlt Abgaben an euch. Nicht viel und auch nicht immer so pünktlich, aber wir erfüllen unseren Teil. Und der Hort...«
»Der Hort«, unterbrach ihn Kara leise, »existiert nicht mehr.«
Die beiden Männer starrten sie an, und auch in Donays Augen erschien ein besorgter Ausdruck. Sie waren eigentlich übereingekommen, nichts von ihrer Niederlage zu erzählen oder sie zumindest herunterzuspielen. Aber Kara hatte plötzlich das Gefühl, daß die Zeit für Lügen endgültig vorüber war. »Wie... bitte!« hauchte Gendik schließlich.
»Sie haben uns ebenfalls angegriffen«, antwortete Kara leise, ohne ihn oder Karoll anzusehen. »Der Drachenhort ist zerstört. Sie haben ihn niedergebrannt, Gendik. Ich weiß nicht, ob wir ihn überhaupt jemals wieder aufbauen können. Sehr viele unserer Krieger sind tot. Die, die ich mitgebracht habe, sind beinahe alle, die überhaupt noch in der Lage waren, einen Drachen zu besteigen. Und ich werde sie ganz gewiß nicht als Zielscheibe für diese Ungeheuer hierlassen.«
»Ihr... gebt einfach auf?« sagte Gendik verstört. »Ihr wollt nicht einmal gegen sie kämpfen? Ihr wollt uns einfach im Stich lassen?«
Hatte er denn gar nichts verstanden? Kara blickte ihn an und versuchte vergeblich, weiterhin so etwas wie Zorn oder wenigstens Verachtung zu empfinden. Es gelang ihr nicht. Ihr Vorrat an Gefühlen war erschöpft. Sie fühlte sich nur noch leer. Und es war auch Donay, der Gendik antwortete, nicht Kara. »Natürlich nicht«, sagte er mit einem fast flehenden Blick in Karas Richtung. »Aber wir haben es mit einem Gegner zu tun, der mit den uns bekannten Mitteln und Waffen nicht zu schlagen ist. Wir müssen eine neue Taktik ausarbeiten. In diesem Zusammenhang...« Er griff unter seine Jacke und zog den zusammengefalteten Zettel hervor, den er von Elder bekommen hatte. »Da wären noch ein paar Dinge, die ich euch zusammenzustellen bitte.«
»Eine neue Taktik?« ächzte Gendik. »Worin besteht sie?
Darin, sich feige zu verkriechen und darauf zu warten, daß sie die Lust verlieren, uns zusammenzuschießen?«
»Sie besteht auf jeden Fall nicht darin, mit offenen Augen in den sicheren Tod zu rennen«, antwortete Kara müde. »Überdies habe ich sicheren Grund zu der Annahme, daß sie euch nicht noch einmal angreifen werden.«
»Wie beruhigend«, sagte Gendik. »Und wenn du dich täuschst, dann sind wir die ersten, die das merken, wie?«
Sein Hohn prallte von Kara ab. Er war ebensowenig echt wie sein überheblicher Blick. Der Gendik, der Kara gegenübersaß, hatte kaum noch etwas mit dem Mann gemein, der vor wenigen Minuten durch die Tür hereingekommen war. Gendik war bis ins Mark erschüttert. Schelfheim hatte sich all die Jahre hindurch sicher gefühlt, beschützt von der stärksten Macht, die es auf dieser Welt gab. Und mit einem Mal mußten sie erkennen, wie wenig dieser Schutz wert war.
»Es ist keineswegs so, daß wir aufgeben«, fuhr Kara fort. »Aber Donay hat völlig recht. Die Libellen sind keine Gegner, die wir mit Waffengewalt in die Knie zwingen können. Wir müssen uns einen anderen Weg ausdenken. Das bedeutet nicht, daß wir kapitulieren.«
»Dann... dann verbünden wir uns mit ihnen«, sagte Gendik nervös. »Wir müssen herausfinden, was sie von uns wollen und warum sie hier sind. Vielleicht gibt es einen Weg, sich mit ihnen zu arrangieren.«
Kara lächelte bitter. Sie hatte diesen Vorschlag von einem Mann wie Gendik erwartet. »Ich fürchte, das einzige, was sie von uns wollen, ist auch das einzige, was wir ihnen nicht geben können«, sagte sie.
Karoll hatte mittlerweile den Zettel gelesen und sah stirnrunzelnd auf. »Das kann ich euch nicht geben«, sagte er. »Diese Dinge werden in Schelfheim benötigt. Ganz davon abgesehen, daß ich einen Monat bräuchte, um sie zusammenzustellen.«
Kara maß ihn mit einem langen Blick. »Ich kann mich nicht erinnern, daß Donay Euch um diese Dinge gebeten hat, Karoll«, sagte sie kühl. »Es war ein Befehl, und Ihr werdet ihm gehorchen. Und Ihr habt Zeit bis morgen früh, das Gewünschte zusammenzustellen.« Sie stand auf. »Es sei denn, Ihr legt Wert darauf, daß ich meine Krieger ausschicke, um sie zu suchen.«
So schnell, daß Gendik keine Chance mehr hatte, eine Antwort zu finden, verließ sie das Zimmer und das Haus. Ein warmer Wind schlug ihr entgegen. Ohne im Schritt innezuhalten, eilte sie auf den gewaltigen Krater zu, bückte sich unter der dreifachen Absperrung hindurch und blieb erst stehen, als jeder weitere Schritt nicht nur Lebensgefahr, sondern Selbstmord bedeutet hätte. Das Loch war merklich größer geworden. Als sie das erste Mal zusammen mit Elder und Hrhon hier hinabgestiegen war, da hatte es gerade den Durchmesser des Brückenpfeilers gehabt. Jetzt hatte es mehr als die Hälfte des Platzes verschlungen; und das leise, aber beständige Rieseln und Rascheln verriet ihr, daß es sich noch immer ausdehnte. Vielleicht, dachte sie, wird es überhaupt nie aufhören zu wachsen, sondern Schelfheim eines Tages wie ein steinerner Strudel verschlingen.
»Warum warst du so grob zu ihnen?« fragte Donay hinter ihr. Sie hatte nicht gemerkt, daß er ihr gefolgt war, und sie drehte sich auch nicht zu ihm herum.
»Wieso? Hattest du solches Mitleid mit Gendik?«
»Nein«, antwortete Donay. »Er hat es verdient, aber der Zeitpunkt war nicht sehr klug gewählt.« Mit veränderter Stimme fügte er hinzu: »Geh da weg. Es macht mich nervös, dich da stehen zu sehen.«
Wie um seine Worte zu bekräftigen, löste sich ein kleiner runder Stein unmittelbar neben Karas rechtem Fuß, rollte ein Stück und fiel dann ins Loch. Kara verfolgte seinen Flug, bis er von der Schwärze des Schachtes aufgesogen wurde. Sie rührte sich nicht. »Wieso? Wir wollen doch sowieso nach unten, oder?«
»Aber nicht so«, antwortete Donay. »Jedenfalls hatte ich das nicht vor. Du, vielleicht?« Das Schweigen, mit dem sie auf seine nur rhetorisch gemeinte Frage antwortete, schien ihn zu alarmieren, denn plötzlich vergaß er seine eigene Warnung, trat neben sie und legte die Hand auf ihre Schulter. Sie wankte, machte einen hastigen Schritt vom Rand des Kraters fort und hielt sich instinktiv an Donay fest. Unter ihrer beider Füßen lösten sich immer mehr Steine und rollten abwärts, und ganz plötzlich spürte sie den Sog der Tiefe. Die Gefahr abzustürzen bestand nicht wirklich, aber sie hatten es doch plötzlich sehr eilig, einige Schritte zwischen sich und den Abgrund zu bringen.
Was für ein absurdes Ende wäre das doch für diese Geschichte gewesen, dachte Kara.
Donay ließ fast verlegen ihre Schultern los, trat einen Schritt vor und wußte plötzlich nicht mehr, was er mit seinen Händen anfangen sollte.
»Laß uns gehen«, sagte Kara, als sie seine Verlegenheit spürte. »Cord wartet sicher schon auf uns.«