Drittes Kapitel



Charles Halloway sah den beiden Jungen nach und verspürte den Wunsch, alles liegen und stehen zu lassen und mit ihnen zu laufen. Er wußte, was der Wind mit ihnen machte, nach welchen geheimnisvollen Orten er sie wehte, die nie wieder so geheimnisvoll sein würden. In seiner Seele stieg ein trauriger Schatten auf. Mit einer solchen Nacht muß man laufen, sonst holt einen die Traurigkeit ein.

Sieh dir das an, dachte er. Will rannte um des Rennens willen, Jim, weil etwas vor ihm lag.

Seltsamerweise rennen sie aber doch gemeinsam.


Woran liegt das? dachte er, während er durch die Bibliothek ging und Lichter ausschaltete, Lichter ausschaltete, Lichter ausschaltete. Steht es auf den Wirbeln unserer Daumen, unserer Finger geschrieben? Warum sind manche Menschen wie fiedelnde, kratzende Grashüpfer, Käfer mit vibrierenden Fühlern, von Kopf bis Fuß Ganglien, die sich ewig verknoten und wieder und wieder verknoten? Ihr Ofen brennt das ganze Leben lang lichterloh, von der Wiege an steht ihnen der Schweiß auf der Lippe, schimmern ihre Augen. Cäsars hagere und hungrige Freunde. Sie essen Dunkelheit, die da nur stehn und atmen.

Jim ist so – wespig wie eine Brennessel.


Und Will? Er ist der letzte Pfirsich, hoch droben auf dem sommerlichen Baum. Bei manchen Jungen muß man weinen, wenn sie nur vorübergehen. Ihnen geht's gut, sie sehen gut aus, sie sind brav. Natürlich pinkeln sie auch einmal von einer Brücke oder stehlen einen billigen Bleistiftanspitzer – das ist es nicht. Nur wenn man sie vorbeigehen sieht, da weiß man schon, wie's ihr Leben lang sein wird: Sie stecken Schläge, Wunden, Schmerzen, Stiche ein und fragen stets nach dem Warum.

Warum muß das so sein? Warum gerade sie?

Aber Jim sieht es kommen, er wartet darauf, daß es geschieht, er behält die Augen offen, leckt sich die Wunden, mit denen er gerechnet hat, fragt nie nach dem Warum – er weiß es. Er weiß immer, was ist. Lange vor ihm war einer, der wußte es auch, einer, der Wölfe als Schoßhunde und Löwen als Bettgenossen hielt. Nein, Jim weiß es nicht mit seinem Verstand, aber sein Leib weiß es. Und während sich Will noch die letzte Wunde verbindet, duckt sich Jim schon beiseite und entgeht dem entscheidenden Schlag.

Da gehen sie hin. Jim läuft langsamer, damit Will mitkommt, der rennt schneller, damit er bei Jim bleibt. Jim wirft zwei Fenster in einem Geisterhaus ein, weil Will dabei ist; Will wirft wenigstens eines ein, weil Jim ihn beobachtet. Mein Gott, wie doch jeder seine Finger im Lehm des anderen hat! Das ist Freundschaft: Jeder spielt den Töpfer, weil er wissen will, welche Form er dem anderen geben kann.

Jim, Will, dachte er, beides Fremde. Lauft nur. Ich hol euch schon ein, irgendwann einmal...

Die Tür der Bibliothek flog auf und schloß sich wieder.

Fünf Minuten später betrat er die Eckkneipe – ein Glas trank er jeden Abend, ein einziges nur – und hörte jemanden sagen:

"Den hab ich gelesen, als der Alkohol erfunden wurde, da glaubten die Italiener, sie hätten die große Sache gefunden, nach der man seit Jahrhunderten suchte. Das Lebenselixier! Hast du das nicht gewußt?"

"Nein." Der Barmann kehrte ihm den Rücken zu.


Der Mann fuhr fort: "Na klar, Branntwein. Neuntes, zehntes Jahrhundert. Sah wie Wasser aus. Brannte aber. Ich meine, es brannte nicht nur in der Kehle und im Magen, man konnte es auch richtig anzünden. So glaubten sie, es sei eine Mischung aus Feuer und Wasser. Feuerwasser, das Lebenselixier – mein Gott! Vielleicht hatten sie gar nicht so unrecht, wenn sie glaubten, das sei ein Allheilmittel, ein Wundertrank. – Noch einen?"

"Ich brauche keinen", sagte Halloway. "Aber in mir drin, da ist einer, der braucht ihn."

"Wer?"


Der Junge, der ich einmal war, dachte Halloway. Der Junge, der mit den wirbelnden Blättern den Weg entlangläuft.

Doch das konnte er nicht sagen.


So trank er mit geschlossenen Augen und lauschte in sich hinein, ob das Ding da drin sich nicht wieder regte und in den Gestrüpphaufen raschelte, die zum Verbrennen aufgehäuft waren, doch nie brannten.

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