Fünfunddreißigstes Kapitel



In Neds Kaffeebar, nur ein paar Häuser vom Zigarrenladen entfernt, saß Charles Halloway. Er war erschöpft von der durchwachten, durchdachten Nacht, vom vielen Herumlaufen. Als er seine zweite Tasse Kaffee ausgetrunken hatte und gerade zahlen wollte, beunruhigte ihn die plötzliche Stille draußen auf der Straße. Daß sich der Umzug auflöste und sich die Zirkusleute unter die Zuschauer am Straßenrand mischten, das spürte er mehr, als er sehen konnte. Er wußte auch nicht, warum, aber er steckte sein Geld wieder ein.

"Stell mir die dritte Tasse warm, Ned."


Ned wollte gerade den Kaffee einschenken, da ging die Tür weiter auf. Jemand trat ein und stürzte sich mit der rechten Hand leicht auf die Theke.

Charles Halloway starrte sie an.


Die Hand starrte zurück.


Auf den Rücken eines jeden Fingers war ein Auge tätowiert.

"Mama! Da unten! Schau doch!"


Der kleine Junge schrie und deutete durch das Gitter nach unten.

Immer neue Schatten zogen vorbei und blieben hängen.

Darunter auch – das Skelett.

Groß wie ein kahler Baum im Winter, dürr wie ein Gerippe, überall Knochen wie bei einer Vogelscheuche, so fiel der Schatten des Gerippes auf die verborgenen Dinge, auf kalten Papierabfall, auf warme, geduckte Jungen.

Geh weg, dachte Will. Geh!


Die dicken Kinderfinger zeigten durch das Gitter.

Geh!

Das Gerippe ging weiter.


Gott sei Dank, dachte Will, dann verschlug es ihm den Atem. "Oh – nein!"

Denn plötzlich tauchte der Zwerg auf. An seinem schmutzigen Hemd klingelten leise viele Glöckchen, sein gedrungener Schatten versteckte sich unter ihm, seine Augen waren wie braune Marmorsplitter, jetzt leuchtend in offenem Wahnsinn, im nächsten Augenblick tieftraurig in einem Wahnsinn des für ewig Verlorenen, ewig Vergrabenen, so suchte er nach etwas, das er nicht finden konnte, nach etwas Verlorenem, vielleicht nach zwei Jungen, dann wieder nach seinem verlorenen Ich; der kleine, zusammengedrückte Mann zwang seinen Blick hierhin, dorthin, hinauf, hinunter; ein Teil seines Ichs suchte die verlorene Vergangenheit, das andere die unmittelbare Gegenwart.

"Mama!" schrie das Kind.


Der Zwerg blieb stehen und betrachtete das Kind, das nicht größer war als er selbst. Ihre Blicke trafen sich.

Will warf sich zurück und versuchte mit dem Körper förmlich am Beton zu kleben. Er spürte, wie Jim dasselbe tat. Sie regten sich nicht, aber ihre Gedanken rasten. Sie versteckten sich im Dunkeln vor dem kleinen Drama, das sich da oben abspielte.

"Komm, Kleiner!" sagte eine Frauenstimme.


Der Junge wurde weggezerrt. Zu spät.


Der Zwerg sah schon nach unten.


Und in seinem Blick waren die verlorenen und zerstreuten Stücke eines Mannes, der einmal Fury geheißen und Blitzableiter verkauft hatte – wie viele Tage, wie viele Jahre war das wohl her? – in der wunderbar sicheren Zeit, ehe die Angst geboren wurde.

Ach, Mr. Fury, was hat man ihnen nur angetan, dachte Will. Unter eine Ramme geworfen, in einer Stahlpresse zerquetscht, Tränen und Schreie aus dem Brustkorb gepreßt, wie ein Schachtelmännchen zusammengedrückt, bis nichts mehr übrig war von Mr. Fury – nur noch dieser... Dieser Zwerg. Das Zwergengesicht war kaum noch menschlich. Es wurde immer maschinenähnlicher – eine Kamera.

Die Linsenaugen bewegten sich blicklos, öffneten sich in der Dunkelheit. Klick. Zwei Linsen dehnten sich und zogen sich rasch und geschmeidig wieder zusammen.

Schnappschuß von dem Kellergitter.

Auch ein Schnappschuß von dem, was darunter war?


Starrt er das Metall an, dachte Will, oder blickt er durch die Zwischenräume?

Eine geraume Weile verharrte der Zwerg, diese verlorene, zerquetschte Puppe aus Lehm, regungslos. Er stand aufrecht, aber er schien zu hocken. Seine Blitzlichtaugen waren weit aufgerissen. Vielleicht schossen sie immer noch Bilder?

Doch die Kameraaugen des Zwergs sahen eigentlich nicht Jim und Will, sondern nur ihre Umrisse, ihre Farbe, ihre Größe. Dieses Bild war im Fotokasten des Schädels gespeichert. Später – wieviel später? – konnte das Bild vom irren, winzigen, vergeßlichen, wandernden, verlorenen Verstand des Blitzableitermannes entwickelt werden. Erst dann würde er sehen, was wirklich unter dem Gitter lag. Und dann? Enthüllung! Rache!

Vernichtung!


Klick. Schnapp. Tick.


Kinder liefen lachend vorbei.


Der Kind-Zwerg wurde von ihnen mitgerissen. Irr wankte er davon, erinnerte sich, suchte nach etwas, wußte aber nicht, was es war.

Die umwölkte Sonne tauchte den ganzen Himmel in Licht.

Die beiden Jungen waren in der lichtgestreiften Höhle gefangen. Sie preßten leise den Atem durch knirschende Zähne.

Jim drückte Wills Hand. Fest, ganz fest.


Die beiden warteten auf die nächsten Augen, die vorbeikommen und das Kellergitter absuchen würden.

Die tätowierten blau-rot-grünen Augen – alle fünf – fielen von der Theke herunter.

Charles Halloway schlürfte seine dritte Tasse Kaffee und drehte sich auf seinem Hocker ein wenig herum.

Der Illustrierte Mann beobachtete ihn.


Charles Halloway nickte.


Der Illustrierte Mann nickte nicht, seine Augen blinkten nicht, er starrte Charles Halloway nur unverwandt an, bis der sich am liebsten abgewandt hätte, es aber nicht tat, sondern nur so gelassen wie möglich den Blick des unverschämten Eindringlings erwiderte.

"Was soll's denn sein?" fragte Ned.


"Nichts." Mr. Dark betrachtete Wills Vater. "Ich suche zwei Jungen."

Wer sucht die nicht? Charles Halloway erhob sich, bezahlte und ging. "Danke, Ned." Als er an dem tätowierten Mann vorbeikam, hielt der gerade Ned die Hände hin, mit den Handflächen nach oben.

"Jungen?" fragte Ned. "Wie alt?"


Die Tür schlug zu.


Mr. Dark sah Charles Halloway nach, wie er draußen am Fenster vorbeiging.

Ned redete.


Doch der Illustrierte Mann hörte ihm nicht zu.


Wills Vater ging auf die Bibliothek zu, blieb stehen, ging weiter zum Gericht, blieb stehen, wartete auf die nächste Eingebung, tastete seine Taschen ab, vermißte die Zigaretten und ging zurück zum Zigarrenladen.

Jim blickte nach oben und sah vertraute Schuhe, ein blasses Gesicht, salz-und-pfefferfarbenes Haar. "Will! Dein Dad! Ruf ihn. Er wird uns helfen."

Will brachte keinen Laut hervor.


"Dann werde ich ihn rufen!"


Will packte Jims Arm, schüttelte heftig den Kopf.

Nein!

"Warum nicht?" fragten lautlos Jims Lippen. "Darum nicht", antworteten Wills Lippen.

Weil... Er blickte hoch... Da oben sah Dad noch kleiner aus als am vergangenen Abend neben dem Haus. Es wäre, als hätten sie noch einen vorbeikommenden Jungen gerufen. Noch einen Jungen brauchten sie nicht – was sie brauchten, war ein General! Oder noch besser ein Generalmajor! Er versuchte, Dads Gesicht im Schaufenster zu erkennen und zu sehen, ob es wirklich älter, fester, stärker aussah als letzte Nacht im milchigen Licht des Mondes. Aber er sah nur Dads Finger, die sich nervös verkrampften, seinen zuckenden Mund, als getraute er sich nicht, Mr. Tetley zu sagen, was er wollte...

"Eine... das heißt... eine Fünfundzwanzig-Cent-Zigarre."

"Mein Gott!" sagte Mr. Tetley oben. "Ist der Mann reich!"

Charles Halloway ließ sich Zeit. Langsam entfernte er die Klarsichthülle und wartete auf einen Hinweis, irgendeine Bewegung im Universum, die ihm sagte, was er nun tun sollte, warum er hierher zurückgekommen war, um eine Zigarre zu kaufen, die er eigentlich gar nicht haben wollte. Er hatte das Gefühl, als hätte ihn jemand beim Namen gerufen, zweimal. Rasch drehte er sich um, betrachtete die Menge, sah, wie die Clowns Handzettel verteilten. Dann entzündete er die Zigarre, die er gar nicht mochte, an der ewigen, bläulichen Gasflamme, die in einem kleinen silbernen Röhrchen auf der Theke brannte. Beim Paffen ließ er mit der freien Hand die Bauchbinde fallen. Er sah sie an den Metallrost stoßen und verschwinden. Sein Blick folgte ihr in die Tiefe, wo...

Die Bauchbinde blieb genau neben dem Fuß seines Sohnes Will Halloway liegen.

Charles Halloway erstickte fast am Zigarrenrauch.


Ja, da unten waren zwei Schatten! Und diese Augen!


Entsetzen starrte ihm aus der Dunkelheit unter der Straße entgegen. Fast hätte er sich schreiend zu dem Kellergitter niedergebeugt.

Statt dessen rief er aber nur leise in die Menge ringsumher, während das Wetter aufklarte:

"Jim? Will? Was zum Teufel ist denn mit euch los?"


In diesem Augenblick trat dreißig Meter entfernt der Illustrierte Mann aus der Kaffeebar.

"Mr. Halloway...", begann Jim.


"Kommt sofort da heraus!" befahl Charles Halloway.


Der Illustrierte Mann stand eine Weile inmitten der Menge, dann drehte er sich langsam herum und kam auf den Zigarrenladen zu.

"Dad, wir können nicht! Bitte, schau nicht auf uns herunter!"

Der Illustrierte Mann war nur noch ungefähr zwanzig Meter entfernt.

"Jungen", sagte Halloway, "die Polizei..."


Jim unterbrach ihn heiser: "Mr. Halloway, wenn Sie jetzt nicht wegsehen, dann sind wir tot! Wenn uns der Illustrierte Mann..."

"Wer?" fragte Mr. Halloway.


"Der Mann mit den Tätowierungen."


Im Geist sah Halloway die fünf tintenblauen Augen auf der Theke der Kaffeebar.

"Dad, schau hinüber auf die Uhr am Gericht. Wir erzählen dir inzwischen, was geschehen ist..."

Mr. Halloway richtete sich auf.


Da stand der Illustrierte Mann neben ihm.


"Na?" sagte der Illustrierte Mann.


"Elf Uhr fünfzehn." Charles Halloway betrachtete mit der Zigarre im Mund die Uhr am Gerichtsgebäude und richtete seine Armbanduhr danach. "Geht eine Minute nach."

Will hielt Jim fest, Jim hielt Will fest. Sie duckten sich in das Loch voller Kaugummipapier und Bauchbinden, während oben auf dem Rost vier Füße scharrten.

Dark betrachtete genau Charles Halloways Gesicht, verglich die Knochen unter der Haut, suchte nach einer Ähnlichkeit. Dann sagte er: "Sir, die Vereinigte Schau von Cooger und Dark hat zwei hiesige Jungen ausgewählt – zwei! –, die bei der Festaufführung unsere Ehrengäste sein sollen."

"Hm, ich..." Wills Vater bemühte sich, nicht den Blick auf den Bürgersteig zu senken.

"Die beiden Jungen..."


Will betrachtete die eisernen Nägel in den Schuhsohlen des Illustrierten Mannes. Sie entlockten den Eisenstäben Funken.

"... diese Jungen sollen überall frei fahren dürfen, jede Schau kostenlos sehen, jedem Künstler die Hand schütteln, Zauberkästen und Baseballschläger mit nach Hause nehmen..."

"Wer sind denn die Glücklichen?" unterbrach ihn Halloway.

"Wir haben die beiden nach Fotos ausgesucht, die gestern auf dem Hauptweg der Festwiese geschossen wurden. Wenn Sie die beiden identifizieren können, werden Sie ihr Glück teilen! Das hier sind sie."

Jetzt sieht er uns hier unten, dachte Will. Mein Gott!


Der Illustrierte Mann streckte die Hände aus.


Wills Vater zuckte zusammen.


In leuchtendblauer Farbe eintätowiert, starrte ihm von der rechten Handfläche Wills Gesicht entgegen.

Auf die linke Handfläche war Jims Gesicht mit Tinte graviert, unauslöschlich und natürlich wie das Leben.

"Kennen Sie die beiden?" Der Illustrierte Mann bemerkte, wie Mr. Halloway krampfhaft schluckte, wie seine Lider zuckten, sein ganzer Körper sich wie unter dem Schlag eines Schmiedehammers duckte. "Wie heißen die beiden?"

Dad, Vorsicht, dachte Will.


"Ich weiß nicht...", sagte Wills Vater.


"Sie kennen sie!"


Der Illustrierte Mann streckte seine bebenden Hände aus, hielt sie hin und erwartete das Geschenk von Namen.

Wills Gesicht auf der Haut und Jims Gesicht auf der Haut und Wills Gesicht unter der Straße wie Jims Gesicht unter der Straße zitterten, verzerrten sich, zuckten.

"Sir, Sie wollen doch nicht, daß die beiden um alles kommen?"

"Nein, aber..."


"Aber, aber, aber?" Mr. Dark ragte ganz in der Nähe auf, herrlich mit der Bildergalerie auf seiner Haut. Seine Augen durchdrangen alles, und die Augen der Kreaturen unter seinem Hemd durchdrangen den Stoff, die Jacke, die Hose, sie hielten den alten Mann fest, verbrannten ihn mit ihrem Feuer, fixierten ihn tausendfach. Mr. Dark hielt ihm die beiden Handflächen noch dichter unter die Nase.

"Aber?"

Mr. Halloway mußte sich Luft machen. Er biß in die Zigarre. "Fast hab ich gedacht..."

"Was denn?" fragte Mr. Dark erwartungsvoll.


"Einer von den beiden sieht aus wie..."


"Wie wer?"


Er macht es zu wichtig, dachte Will. Das mußt du doch merken, Dad, oder?

"Hören Sie", sagte Wills Vater, "was an den beiden Jungen macht Sie eigentlich so nervös?"

"Nervös...?"


Mr. Darks Lächeln schmolz dahin wie ein Karamelbonbon.

Jim duckte sich wie ein Zwerg, Will zog sich zu einem Wicht zusammen, beide starrten wie gebannt nach oben.

"Sir", sagte Mr. Dark, "kommt Ihnen meine echte Begeisterung so vor? Nervös?"

Wills Vater bemerkte, wie sich die Sehnen in dem Arm spannten. Sie bewegten sich wie die Nattern und Schlangen, die zweifellos dort eintätowiert waren, böse und giftig.

"Eins der beiden Bilder sieht Milton Blumquist ähnlich", sagte Mr. Halloway bedächtig.

Mr. Dark ballte die Faust.


Wahnsinnige Kopfschmerzen überfielen Jim.


"Und der andere", fuhr Wills Vater fast ausdruckslos fort, "der sieht aus wie Avery Johnson."

Ach, Dad, dachte Will. Du bist großartig!


Der Illustrierte Mann ballte die andere Faust.


Will zuckte ein Schmerz durch den Kopf, daß er beinahe laut aufschrie.

Mr. Halloway schloß: "Beide Jungen sind vor ein paar Wochen nach Milwaukee übergesiedelt."

"Sie lügen!" sagte Mr. Dark eiskalt.


Wills Vater war ehrlich erschrocken.


"Ich?" fragte er. "Glauben Sie, ich will den Gewinnern der Preise den Spaß verderben?"

"Übrigens haben wir die Namen der beiden Jungen vor zehn Minuten herausbekommen", fuhr Mr. Dark fort.

"Ich wollte mich nur noch einmal überzeugen."

"So?" fragte Wills Vater ungläubig.


"Jim und Will", sagte Mr. Dark.


Jim wand sich im Dunkeln. Wills Kopf sank tief zwischen die Schultern. Er preßte die Augen zu.

Das Gesicht von Wills Vater war ein Teich, in den die beiden Namen gefallen waren, ohne Kreise zu ziehen.

"Das sind die Vornamen? Will? Jim? Gibt ne Menge Jims und Wills in einer Stadt wie der unsern."

Will kroch in sich hinein und überlegte: Wer hat's ihnen gesagt? Miss Foley? Aber die war fort, und ihr Haus war voller Regenschatten. Nur eine einzige weitere Person...

Das kleine Mädchen, das weinend unter dem Baum saß und wie Miss Foley aussah? Das Mädchen, das uns einen solchen Schrecken eingejagt hat, überlegte er. In der letzten halben Stunde ist der Umzug vorbeigekommen, man hat sie gefunden, und sie war nach stundenlangem Weinen bereit, alles zu sagen, alles zu tun, wenn sie im Klang der Musik, im Rundherum der Pferde wieder alt werden durfte. Wenn sie nur wieder wuchs, wenn sie nicht mehr weinen mußte, wenn all das Schreckliche ein Ende hatte und sie wieder sein konnte, was sie immer war. Haben die Zirkusleute sie angelogen? Haben sie ihr das versprochen, als sie unter dem Baum gefunden und weggeschleppt wurde? Das kleine Mädchen, das weinte, aber nicht alles sagte, weil...

"Also Jim und Will. Die Vornamen", sagte Wills Vater. "Und die Familiennamen?"

Die wußte Mr. Dark nicht.


Ein ganzes Universum von Ungeheuern schwitzte auf seiner Haut. Sie strömten Phosphor aus, stanken, verkrochen sich zwischen seinen Beinen mit den stählernen Muskeln.

"Jetzt glaube ich, daß Sie mich anlügen", sagte Wills Vater mit einer seltsamen und fast heiteren, weil ihm völlig neuen Gelassenheit. "Sie kennen die Familiennamen nicht. Warum lügen Sie mich an, Sie, ein Fremder vom Zirkus, hier in einer kleinen Stadt hinter dem Mond?"

Der Illustrierte Mann ballte die tätowierten Fäuste noch fester.

Wills Vater betrachtete mit blassem Gesicht diese bösen, verkrampften Finger und Knöchel, die Nägel, die sich ins Fleisch gruben. Darunter waren die beiden Jungen gefangen, eingesperrt im Fleisch, hart bedrängt.

Die Schatten unten wanden sich vor Schmerzen.

Der Illustrierte Mann setzte wieder eine heitere Miene auf.

Aber von seiner rechten Faust fiel ein heller Tropfen herab.

Ein anderer leuchtender Tropfen fiel von seiner linken Faust.

Die Tropfen verschwanden durch das Kellergitter.


Will hielt die Luft an. Etwas Feuchtes hatte sein Gesicht berührt. Er preßte die Hand dagegen, betrachtete dann seinen Handteller. Der Tropfen, der ihm auf die Wange gefallen war, leuchtete blutrot.

Er hob den Blick zu Jim. Der lag nun ganz ruhig da, denn der Opfergang – wirklich oder eingebildet – schien nun vorbei. Beide hoben den Blick zu dem Kellergitter. Die genagelten Schuhe schlugen Funken aus dem Eisen.

"Will" Vater sah die Blutstropfen aus den geballten Fäusten sickern, aber er zwang sich dazu, dem Illustrierten Mann nur ins Gesicht zu sehen, als er sagte:

"Tut mir leid, wenn ich Ihnen nicht weiterhelfen kann."

Hinter dem Illustrierten Mann kam mit ausgestreckten Händen, schwankend, in bunten Zigeunerkleidern, mit wächsernem Gesicht, die Augen hinter dunklen Gläsern verborgen, die Wahrsagerin, die Staubhexe. Sie murmelte vor sich hin.

Eine Sekunde später sah Will auf und erblickte sie.


Nicht tot, dachte er. Weggetragen, angeschlagen, abgestürzt, ja – aber sie war wieder da. Und sie war böse!

Mein Gott, wie wütend war sie! Und sie sucht ganz besonders nach mir!

Wills Vater sah sie auch. Instinktiv klopfte sein Herz langsamer. Die Menge gab ihr den Weg frei und machte lärmend Bemerkungen über ihren grellbunten Aufzug, ihr zerschlissenes Kleid. Man versuchte sie an ihre Reimereien zu erinnern, um es später erzählen zu können. Sie ging weiter, und ihre Finger tasteten die Stadt ab wie eine ungeheuer komplizierte Relieftapete.

Dabei sang sie:

"Sagt's euren Männern. Sagt's euren Frau'n. Sag euch die Zukunft. Laß sie euch schaun. Ich seh die Welt. Kommt zu mir ins Zelt. Ich sag dir die Farbe seiner Züge. Ich sag dir die Farbe ihrer Lüge. Ich sag dir von seinen Küssen. Ich sag dir von ihrem Gewissen. Kommt, kommt, wenn's euch gefällt, kommt zu mir in mein Zelt!"

Kinder erschraken, Kinder waren beeindruckt, die Eltern freuten sich, sie hatten ihren Spaß daran, und die Zigeunerin, die aus dem Staub alles Lebenden kam, fuhr mit ihrem Singsang fort. In ihrem Murmeln lag Zeitlosigkeit. Zwischen ihren Fingern spann und zerriß sie mikroskopisch feine Spinnweben, in denen sich aufwirbelnde Staubkörnchen und leise Atemzüge fingen.

Sie berührte die Flügel von Mücken, die Seelen unsichtbarer Bakterien, alle Flecken und tanzenden feinen Strahlen vom Sonnenlicht, in dem Bewegung schwebte und noch mehr verborgene Erregung.

Will und Jim knackten vor innerer Spannung mit den Fingerknöcheln, duckten sich tiefer und hörten:

"Blind, ja blind. Aber ich sehe, was ich sehe, und ich sehe, wo ich gehe", murmelte die Hexe leise. "Da, ein Mann mit einem Strohhut im Herbst – hello! Und – ach, da ist ja auch Mr. Dark, und... und ein alter, alter Mann."

So alt ist er doch gar nicht, schrie es in Will auf. Er blinzelte hinauf zu den dreien, als die Staubhexe stehenblieb und ihr Schatten froschkalt auf die beiden Jungen fiel.

"... alter Mann."


Mr. Halloway schüttelte es, als hätte ihm jemand ein Dutzend kalter Messerklingen in den Bauch gestoßen.

"... alter Mann... alter Mann", sang die Hexe.


Dann hörte sie auf. "Ah..." Die Härchen in ihrer Nase richteten sich auf. Sie öffnete die Lippen, um die Luft zu kosten. "Ah..."

Der Illustrierte Mann wurde aufmerksam.

"Wartet...", seufzte die Zigeunerin.

Ihre Fingernägel kratzten über eine unsichtbare Wandtafel.

Will spürte, daß er schniefte und wimmerte wie ein gehetzter Jagdhund.

Langsam senkten sich ihre Finger, tasteten die Spektren ab, wägten das Licht. Im nächsten Augenblick schon konnte sie einen dürren Zeigefinger durch das Kellergitter stecken – da! Da unten!

Dad, dachte Will. Tu doch etwas!


Jetzt, wo seine blinde, aber unendlich sehende Freundin da war, zeigte sich der Illustrierte Mann liebenswürdig und geduldig. Er betrachtete sie liebevoll.

"Nun..." Die Hexenfinger zuckten.


"Nun!" sagte Wills Vater laut.


Die Hexe zuckte zusammen.


"Nun, das ist wirklich eine herrliche Zigarre!" rief Wills Vater und drehte sich gewichtig zur Ladentür um.

"Still!" befahl der Illustrierte Mann.


Die beiden Jungen blickten nach oben.


"Nun..." Die Hexe sog die Luft ein.


"Muß sie wieder anzünden!" Mr. Halloway trat in den Laden und hielt seine Zigarre an die ewig blaue Flamme.

"Still!" flehte Mr. Dark.


"Rauchen Sie nicht?" fragte Wills Vater.


Die Hexe wurde geschüttelt von seinen lauten, jovialen Worten. Sie ließ wie verwundet die eine Hand sinken, wischte sie ab, wie man eine Antenne abwischt, um besser empfangen zu können, und hob sie wieder. Ihre Nüstern blähten sich im Wind.

"Ah!" Wills Vater blies dicken Zigarrenqualm aus und hüllte die Hexe wie in eine Wolke ein.

Sie hustete halberstickt.


"Idiot!" bellte der Illustrierte Mann, doch die Jungen konnten nicht sagen, ob Wills Vater oder die Frau damit gemeint war.

"Hier, Sie sollen auch eine haben", sagte Mr. Halloway, stieß noch eine dichte Rauchwolke aus und überreichte Mr. Dark eine Zigarre.

Die Hexe nieste krampfhaft, taumelte zurück, stolperte davon. Der Illustrierte Mann packte Dads Arm, merkte, daß er damit zu weit ging, ließ wieder los. Ihm blieb nichts anderes übrig, als seiner Zigeunerhexe zu folgen und seine unerwartete, vollkommene Niederlage einzugestehen. Im Weggehen hörte er noch, wie Wills Vater ihm nachrief: "Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen!"

Nein, Dad, dachte Will.


Der Illustrierte Mann kam zurück.


"Ihr Name, Sir?" fragte er ohne Umschweife.


Sag's ihm nicht, dachte Will.


Wills Vater überlegte eine Weile, nahm dann die Zigarre aus dem Mund, klopfte die Asche ab und sagte ruhig:

"Halloway. Ich arbeite in der Bibliothek. Kommen Sie doch mal vorbei."

"Darauf können Sie sich verlassen, Mr. Halloway. Ich werde kommen!"

Die Hexe wartete an der nächsten Ecke.


Mr. Halloway befeuchtete seinen Zeigefinger, prüfte die Windrichtung und pustete ihr eine dicke Rauchwolke nach.

Sie prallte zurück und war verschwunden.


Der Illustrierte Mann richtete sich steif auf, drehte sich um und marschierte davon. Die tätowierten Porträts von Jim und Will preßte er in den Fäusten eisenhart zusammen.

Schweigen.


Unter dem Rost war es so still, daß Mr. Halloway schon glaubte, die beiden Jungen seien vor Angst gestorben.

Will blickte von unten empor. Seine Augen wurden feucht, er öffnete den Mund und dachte: Mein Gott, warum hab ich das früher nie bemerkt?

Dad ist groß. Wirklich groß ist er!


Charles Halloway sah immer noch nicht auf den Eisenrost, sondern verfolgte mit den Blicken die kleinen roten Punkte auf dem Bürgersteig, die um die nächste Ecke bogen. Die Blutstropfen, die Mr. Darks Weg markierten. Auch über sich selbst war er überrascht. Er fand sich mit der Überraschung ab, mit seiner neugefundenen Selbstsicherheit, die zum Teil Verzweiflung war und zum Teil einer gelassenen Heiterkeit entsprang. Aber das Unglaubliche war geschehen. Keiner soll fragen, warum er seinen richtigen Namen genannt hatte; selbst er konnte diese Frage nicht beantworten, nicht recht sagen, was sie bedeutete. Nun heftete er den Blick auf die Ziffern der Uhr am Gerichtsgebäude und sagte dabei zu den Jungen:

"Ach, Jim, Will – da geht tatsächlich etwas vor. Könnt ihr euch für den Rest des Tages irgendwo verstecken? Wir müssen Zeit gewinnen. Wo fängt man bei solchen Dingen an? Nichts Ungesetzliches ist geschehen, es wurde jedenfalls gegen kein Gesetz verstoßen, das in den Büchern steht. Aber ich komme mir vor, als wäre ich tot und seit einem Monat begraben. Eine Gänsehaut läuft mir über den Rücken. Versteckt euch, Jim, Will! Ich werde euren beiden Müttern sagen, ihr habt beim Zirkus Arbeit bekommen, damit ist dann euer Ausbleiben entschuldigt. Versteckt euch, bis es dunkel wird, und um sieben kommt ihr dann in die Bibliothek. Unterdessen sehe ich mir einmal die Unterlagen der Polizei über Zirkusse an, suche in den Zeitungsbänden in der Bibliothek, in alten Büchern und Archiven nach – alles, was wichtig sein könnte. So Gott will, hab ich einen Plan, wenn ihr nach Einbruch der Dunkelheit wieder auftaucht. Paßt bis dahin gut auf. Gott segne dich, Jim, und dich, Will."

Der kleine Vater, der auf einmal sehr groß war, ging langsam davon.

Er merkte nicht, daß ihm die Zigarre aus der Hand fiel und in einem Funkenregen durch das Gitter rollte.

Da lag sie nun in dem viereckigen Loch und starrte Jim und Will mit einem funkelndroten Auge an. Die beiden starrten zurück, machten das Auge schließlich blind und drückten die Zigarre aus.

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