Dreiundzwanzigstes Kapitel



Mit einer Geschwindigkeit von gut dreißig Stundenkilometer erreichten sie den Festplatz – vielleicht ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger. Der Neffe lief voran. Jim war dicht hinter ihm, etwas weiter zurück Will. Er keuchte, und die Erschöpfung schoß ihm in die Beine, die Lungen, den Kopf, ins Herz.

Der Neffe rannte vor lauter Angst, sah sich um, lächelte nicht mehr.

Wir haben ihn doch angeschmiert, dachte Will. Er hat gedacht, ich laufe ihm nicht nach, ich bleibe da und rufe die Polizei, ich stolpere, ich werde als Lügner entlarvt – oder ich verstecke mich irgendwo. Jetzt hat er Angst, daß ich ihn windelweich haue. Er will auf das Karussell springen, immer im Kreise herumfahren, damit er älter und stärker wird als ich. Jim! Jim, wir müssen ihn erwischen, er muß jung bleiben, wir müssen ihm das Fell über die Ohren ziehen! Aber er merkte gleich, daß er mit Jims Hilfe nicht rechnen konnte. Jim lief nicht dem Neffen nach. Ihm war eine Freifahrt wichtiger.

Der Neffe verschwand hinter einem Zelt weit vorn. Jim folgte ihm. Als Will endlich den breiten Mittelweg auf der Festwiese erreichte, setzte sich das Karussell gerade in Bewegung. Im Takt der blechernen, quietschenden Musik schwang sich der Neffe mit dem frischen Jungengesicht auf die große, sich drehende Scheibe. Er wirbelte Mitternachtsstaub auf.

Jim war drei Schritte hinter ihm. Er sah die Pferde davongaloppieren, und sein Blick ließ das Auge des Hengstes aufblitzen.

Das Karussell drehte sich vorwärts!


Jim lehnte sich daran.


"Jim!" schrie Will.


Der Neffe verschwand aus seinem Gesichtskreis, fortgetragen von der Maschine. Als er wieder zum Vorschein kam, streckte er seine rosa Finger lockend aus.

"Jim..."

Jim hob schon den einen Fuß.


"Nein!" Will stürzte vor. Er prallte gegen Jim, packte ihn, hielt ihn fest. Sie fielen übereinander.

Überrascht huschte der Neffe in der Dunkelheit vorbei, ein Jahr älter geworden. Ein Jahr älter, dachte Will, um ein Jahr größer, stärker, böser!

"O Gott, Jim, schnell!" Er sprang auf und rannte zum Führerstand. Ein Gewirr von blanken Schaltern und Hebeln und Porzellan und Drähten umgab ihn. Er legte den Schalter um. Aber hinter ihm stand Jim; er riß Will zurück und sprudelte hervor:

"Will, du machst uns alles kaputt! Nein!"


Jim legte den Schalter wieder vor.


Will fuhr herum und schlug ihm ins Gesicht. Jeder packte den anderen beim Ellbogen, sie schoben und drängten einander. Dann fielen sie gegen den Schaltkasten.

Will sah den bösen Jungen, wieder um ein Jahr älter.


So glitt er durch die Nacht. Noch fünf oder sechs Runden, dann war er stärker als sie beide zusammen!

"Jim, er wird uns umbringen!"


"Mich nicht!"


Will spürte, wie ihn etwas elektrisierte. Schreiend zuckte er zurück und schlug nach dem Schalter. Funken flogen aus dem Kasten. Blitze zuckten zum Himmel. Jim und Will wurden vom Druck zurückgeworfen. Sie lagen am Boden und sahen, wie das Karussell außer Kontrolle geriet.

Der böse Junge flog vorbei. Er klammerte sich an einen Baum aus Messing. Er fluchte. Er spuckte. Er kämpfte gegen den Wind, gegen die Zentrifugalkraft. Verzweifelt versuchte er, sich zwischen Stangen und Pferden zum äußeren Rand des Karussells vorzuarbeiten. Sein Gesicht tauchte auf, verschwand wieder, tauchte auf, verschwand.

Er klammerte sich fest. Er schwankte. Aus dem Schaltkasten flogen blaue Funken. Das Karussell ruckte und hüpfte. Der Neffe glitt aus. Er stürzte. Der stählerne Huf eines schwarzen Hengstes traf ihn. Er blutete an der Stirn.

Jim fauchte, wehrte sich, schlug, aber Will ließ nicht locker. Er preßte ihn ins Gras. Sie schrien um die Wette, beide voller Angst, und ihre Herzen hämmerten im Gleichtakt. Elektrische Blitze sprühten als weißer Funkenregen aus dem Schaltkasten. Dreißig-, vierzig-, fünfzigmal sauste das Karussell herum.

"Will, laß mich los!"


Die Zirkusorgel jaulte, spuckte Dampf aus, lief trocken und spielte dann gar nichts mehr, als die Zungen verglühten und durch die Ventile geblasen wurden. Blitze zuckten über die beiden hingestreckten Jungen, leckten mit Flammen nach den wildgewordenen Pferden, die immer im Kreise herumjagten. Zwischen ihnen lag eine Gestalt, kein Junge mehr, sondern ein Mann – immer im Kreise, immer im Kreise.

"Er ist – er ist – Will, sieh doch, er ist...", keuchte Jim und begann zu schluchzen, weil er nichts anderes tun konnte. Will nagelte ihn am Boden fest. "Will, o Gott, Will, steh auf! Wir müssen das Ding rückwärts laufen lassen!"

In den Zelten gingen Lichter an.


Aber niemand kam heraus.


Warum nicht, überlegte Will halb irr. Die Explosionen? Die Entladungen? Glauben die Feiglinge, die ganze Welt jagt über die Festwiese? Wo bleibt Mr. Dark? Ist er in der Stadt? Hat er Böses vor? Was? Wo? Warum?

Er glaubte das Herz der ausgestreckten Gestalt auf der runden Scheibe pochen zu hören, überschnell, dann langsam, schnell, langsam, unglaublich schnell, dann so langsam, wie der Mond in einer weißen Winternacht am Himmel untergeht.

Jemand, irgend etwas droben auf dem Karussell wimmerte schwach.

Gott sei Dank ist es dunkel, dachte Will. Gott sei Dank, daß ich nichts sehen kann. Da geht jemand. Es kommt jemand. Da – was immer es auch sein mag – da ist es wieder! Da... Da...

Auf der bebenden Maschine versuchte ein verschwommener Schatten sich wankend zu erheben, aber es war spät, sehr spät, so spät – am spätesten. Der Schatten zerbröckelte. Das Karussell kreiste wie die Erde. Es peitschte Luft und Sonne, Sinne und Vernunft fort, bis nur Dunkelheit, Kälte und Alter blieben.

In einem letzten, krampfhaften Erbrechen flog der Schaltkasten völlig auseinander.

Alle Lichter des Zirkus gingen aus.

Das Karussell wurde im kalten Nachtwind langsamer.


Will ließ Jim los.


Wie oft, dachte Will. Wie oft hat es sich herumgedreht? Sechzigmal? Achtzig-, neunzigmal?

Wie oft, fragte auch Jims Gesicht. Voller Entsetzen sah er zu, wie das tote Karussell bebte und leblos im Gras stehenblieb, eine erstarrte Welt, die nichts – nicht ihre Herzen, nicht ihre Hände oder ihre Köpfe – jemals wieder zurückdrehen konnte.

Langsam gingen sie auf das Karussell zu. Ihre Schuhe raschelten durch das Gras.

Die schattenhafte Gestalt lag auf der ihnen zugewandten Seite, auf dem hölzernen Boden, das Gesicht zur anderen Seite gedreht.

Die eine Hand hing über den Rand der Scheibe.


Sie gehörte keinem Jungen.


Sie sah aus wie eine riesige Hand aus Wachs, geschmolzen im Feuer. Das Haar des Mannes war lang, weiß, dünn wie Spinnweben. Es flimmerte wie Distelhaar im kalten Windhauch.

Sie beugten sich über das Gesicht.


Die Augen waren zusammengepreßt wie bei einer Mumie. Die Nase war eingefallen. Der Mund war eine zerstörte weiße Blume, die Blütenblätter zu einer dünnen Wachsschicht verzerrt, die sich über die Zähne spannte.

Ein schwaches, blubberndes Seufzen drang zwischen den Lippen hervor. Der Mann war in seinem Anzug klein, klein wie ein Kind, aber lang – und alt, so alt. Nicht neunzig oder hundert Jahre, nicht hundertzehn, sondern wahrscheinlich hundertzwanzig, hundertdreißig Jahre alt.

Will berührte ihn.


Der Mann war so kalt wie ein Albino-Frosch. Er roch nach Mondsümpfen und uralten ägyptischen Mumienbinden.

So etwas findet man sonst nur im Museum, eingewickelt in konservierendes Linnen, luftdicht hinter Glas eingesperrt.

Aber er lebte. Er winselte wie ein Baby und verfiel vor ihren Augen – schnell, so schnell, dem Tod immer näher.

Will mußte sich über das Geländer des Karussells übergeben.

Dann fielen Jim und Will beinahe übereinander. Ihre weichen Schuhe trampelten über die verrückten Blätter, über das unwirkliche Gras, über die wesenlose Erde. Sie flogen den Mittelgang entlang...

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