Achtundzwanzigstes Kapitel



Die Nacht war erfüllt vom süßen Duft des Herbstlaubs; es roch, als türmte sich der feine Sand des alten Ägyptens vor der Stadt zu hohen Dünen. Wie kommt es nur, dachte Will, daß ich in so einer Stunde an viertausend Jahre alten Staub alter Völker denken kann, der um die Welt treibt – wo ich doch so traurig bin, weil keiner es merkt, bis auf mich und vielleicht Dad, aber wir reden nicht darüber.

Es war wirklich eine Zeit zwischen den Zeiten. In der einen Sekunde waren ihre Gedanken neugierige Terrier, in der nächsten schlafende Katzen, samten und weich. Es war Zeit zum Schlafen, aber sie zögerten noch wie alle Jungen, die um Bett und Kopfkissen einen weiten Bogen machen. Es war eine Zeit, in der man vieles sagen kann, wenn auch nicht alles. Die Zeit nach den ersten Entdeckungen – doch andere standen ihnen noch bevor.

Sie wollten alles wissen und nichts wissen. Es war die neugefundene Süße eines Männergesprächs, wie es sein muß. Es war auch die mögliche Bitterkeit der Offenbarung.

Eigentlich sollten sie nach oben gehen, aber sie konnten sich in diesem Augenblick, der für die Zukunft ähnliches versprach, nicht trennen; Augenblicke in kommenden, nahen Nächten, in denen der Mann und der zum Mann werdende Junge am liebsten gesungen hätten.

So fragte Will schließlich vorsichtig:

"Dad? Bin ich ein guter Mensch?"


"Ich denke schon. Doch – ich weiß es."


"Wird mir – wird mir das etwas nützen, wenn's wirklich hart auf hart kommt?"

"Ja, es wird dir helfen."


"Wird es mich notfalls auch retten? Ich meine, wenn ich unter lauter bösen Menschen bin, und in meilenweitem Umkreis ist nicht ein einziger guter Mensch – was dann?"

"Es wird dir helfen."


"Das genügt mir nicht, Dad."


"Gott garantiert nicht für deinen Leib. Es geht mehr um den Seelenfrieden..."

"Aber, Dad, hast du nicht auch manchmal solche Angst, daß du..."

"Daß man keinen Seelenfrieden findet?" Sein Vater nickte und machte ein bedrücktes Gesicht.

"Dad", fragte Will mit sehr leiser Stimme. "Bist du ein guter Mensch?"

"Dir und deiner Mutter gegenüber ja. Ich versuche es. Aber kein Mensch ist immer nur ein Held. Ich kenn mich jetzt ein ganzes Leben lang. Ich kenne alles, was es an mir Bemerkenswertes gibt..."

"Und wenn du alles zusammenrechnest?"


"Eine Summe von allem? Nun, die anderen kommen und gehen, und ich verhalte mich meist still. Ja, da bin ich schon ganz in Ordnung."

Will fragte: "Und warum bist du dann nicht glücklich, Dad?"

"Der Rasen vor dem Haus – warte mal – morgens um halb zwei ist nicht der richtige Ort zum Philosophieren..."

"Ich wollt's ja nur mal wissen."


Sie schwiegen eine Weile, dann seufzte Dad.

Er nahm Will beim Arm und führte ihn zur Verandastufe. Sie setzten sich, er zündete sich die Pfeife wieder an. Schmauchend sagte er: "Na gut. Mutter schläft ja. Sie weiß nicht, daß wir Nachtschwärmer hier draußen sitzen. Also können wir ruhig weitermachen. Nun hör mir mal zu: Wann bist du auf den Gedanken gekommen, ein guter Mensch müßte immer glücklich sein?"

"Das glaube ich immer schon."


"Dann mußt du jetzt umlernen. Manchmal trägt der Mann, der am glücklichsten von allen aussieht, der immer mit dem breitesten Lächeln durch die Stadt läuft, die allergrößte Sündenlast. Es gibt solche und solche Lächeln, man muß lernen, die dunklen von den lichten zu unterscheiden. Wer bellend lacht, richtig laut und herzhaft, der hat meist etwas zu verbergen. Er hat seinen Spaß gehabt und trägt eine Schuld mit sich herum. Die Menschen lieben nämlich die Sünde, Will – und wie sie sie lieben! In allen Farben, Formen, Größen, Arten. Es gibt Zeiten, da steht unser Appetit nicht nach einem schön gedeckten Tisch, sondern nach einem Futtertrog.

Wenn einer die anderen Menschen zu laut lobt, dann muß man achthaben, ob er sich nicht gerade im Sumpf gesuhlt hat. Andererseits sieht man manchmal Menschen vorbeigehen, unglücklich, bleich, niedergeschlagen – das sind zuweilen die wirklich guten Menschen, Will. Gut sein ist nämlich furchtbar schwierig. Die Menschen strengen sich an und zerbrechen dabei oft. Ich kenn ein paar davon. Der Bauer muß sich doppelt so sehr anstrengen wie sein Schwein. Vielleicht liegt es am Nachdenken über das Gutsein, daß eines Nachts der Sprung in die Mauer kommt. Es sind auch die Menschen mit dem höchsten moralischen Standard, die schon die Last eines Härchens spüren. Sie lassen sich selbst keine Ruhe, sie lassen nicht locker, wenn sie merken, daß sie nur einen Fingerbreit vom Pfad der Tugend abkommen.

Ach, wie herrlich wäre das, wenn man nur gut sein und Gutes tun müßte, nicht immer darüber nachdenken! Aber schwer ist's schon, wie? Wenn du nachts wach liegst und weißt, im Kühlschrank liegt das letzte Stück Zitronenkuchen, und es gehört dir nicht, aber du denkst daran – muß ich dir das erklären? Oder du bist an einem heißen Sommertag an deine Schulbank gefesselt, und weit draußen sprudelt frisch und kühl und klar der Fluß über die Steine. Jungen können klares Wasser über Meilen hinweg rauschen hören. So geht das Minute um Minute, Stunde um Stunde, ein ganzes Leben lang. Es hört nie auf, hat nie ein Ende.

Jetzt mußt du eine Wahl treffen, in der nächsten Minute schon wieder eine und dann wieder. Gut oder böse tickt die Uhr. Gut oder böse. Lauf schwimmen oder schwitz weiter, lauf den Kuchen holen oder bleib hungrig liegen.

Also bleibst du. Aber bist du erst einmal geblieben, Will, dann kennst du doch das Geheimnis? Du denkst nicht mehr an den Fluß. Oder den Kuchen. Denn wenn du dran denkst, dann wirst du verrückt. Wenn du all die Flüsse zusammenzählst, in denen du nicht geschwommen bist, all die Stücke Kuchen, die du nicht gestohlen hast, Will, dann hast du eine ganze Menge versäumt, wenn du erst in mein Alter gekommen bist. Aber dann tröstest du dich mit dem Gedanken: Je öfter du im Wasser bist, um so öfter kannst du auch ertrinken – oder an einem Stück Kuchenglasur ersticken. Aber dann kann's vielleicht auch sein, daß du dich aus purer dummer Feigheit von zu vielen Dingen fernhältst, wartest, auf Nummer Sicher gehst.

Schau mich an: Ich hab mit neununddreißig geheiratet, Will – mit neununddreißig! Aber ich hab immer so geschuftet und hab gedacht, ich kann erst heiraten, wenn ich das Böse ganz überwunden habe. Erst zu spät kam ich dahinter, daß man nicht warten darf, bis man vollkommen ist. Daß man hingehen und fallen muß und sich wieder erheben, wie es alle tun. So hab ich einmal in dem ständigen Ringkampf mit mir selbst ausgesehen, als deine Mutter abends in die Bibliothek kam. Sie wollte ein Buch und bekam mich. Damals hab ich's erkannt: Man nimmt einen halbbösen Mann und eine halbböse Frau und tut die beiden guten Hälften zusammen, dann bekommt man einen vollkommenen, guten Menschen.

Das bist du, Will, jede Wette! Und das Seltsame ist, mein Sohn – auch traurig für mich –, daß ich dich immer über den Rasen rennen sehe, während ich oben auf dem Dach sitze und es mit Büchern decke, das Leben mit der Bibliothek vergleiche – und bald einsehen mußte, daß du rascher weiser wirst, als ich jemals sein werde..."

Dads Pfeife war ausgegangen. Er hielt inne, klopfte sie aus und stopfte sie neu.

"Nein, Sir", sagte Will.


"Doch", sagte sein Vater. "Ich wäre ein Narr, wenn ich nicht wüßte, was für ein Narr ich bin. Meine Weisheit besteht nur in dem Wissen, daß du weise bist."

"Komisch", sagte Will nach einer langen Pause. "Du hast mir heute abend viel mehr erzählt als ich dir. Ich werde noch darüber nachdenken. Vielleicht sag ich dir alles beim Frühstück. Einverstanden?"

"Gern, wenn du willst."


"Weil – ich möchte, daß du glücklich bist, Dad."


Er haßte die Tränen, die ihm in die Augen schossen.


"Ist schon gut, Will."


"Ich würde alles sagen oder tun, was dich glücklich machen könnte."

"Lieber Will." Dad zündete seine Pfeife an und schaute dem Rauch nach, der sich süßlich in der Luft auflöste.

"Sag mir nur, daß ich ewig leben werde, dann bin ich schon zufrieden."

Seine Stimme ist es, dachte Will. Ich hab's noch nie bemerkt, aber sie hat dieselbe Farbe wie sein Haar.

"Dad", sagte er. "Sag das doch nicht so traurig."


"Ich? Ich bin nun mal von Natur aus ein trauriger Mensch. Ich lese ein Buch, und es macht mich traurig.

Sehe einen Film: ich werde traurig. Ein Theaterstück? Nichts schlimmer als das."

"Gibt's denn nichts", fragte Will, "was dich nicht traurig macht?"

"Nur eins: der Tod."


"Junge!" Will erschrak. "Ich hab gedacht, gerade der muß dich doch traurig machen "

"Nein", sagte der Mann, dessen Stimme zu seinem Haar paßte. "Der Tod läßt alles andere traurig erscheinen. Doch der Tod selbst erschreckt nur. Wenn's keinen Tod gäbe, wäre nicht alles andere gefärbt."

Und genauso ist der Zirkus, dachte Will. Den Tod wie eine Klapper in der einen Hand, das Leben wie eine Zuckerstange in der anderen. Rasselt mit der Klapper, dich zu schrecken, hält dir die Zuckerstange hin und macht dir den Mund wäßrig. Die Zauberschau, beide Hände voll!

Er sprang auf.


"Dad, hör mir zu: Du wirst ewig leben! Glaub's mir, oder du bist verloren! Klar, du warst vor ein paar Jahren krank – aber das ist vorbei. Klar bist du vierundfünfzig, aber das ist doch jung! Und noch etwas..."

"Ja, Will?"


Sein Vater wartete. Er zögerte, biß sich auf die Lippen, platzte heraus:

"Bleib von dem Zirkus weg!"


"Seltsam", murmelte Dad, "das wollte ich dir gerade sagen."

"Ich würde nicht für eine Milliarde Dollar noch einmal dorthin gehen."

Aber, fügte Will in Gedanken hinzu, das wird die Zirkusleute nicht davon abhalten, die ganze Stadt nach mir abzusuchen.

"Versprichst du's mir, Dad?"


"Warum soll ich nicht dorthin gehen, Will?"


"Das gehört mit zu den Dingen, die ich dir morgen oder nächste Woche oder nächstes Jahr erzähle. Du mußt mir einfach vertrauen, Dad."

"Tu ich, mein Sohn."


Dad reichte ihm die Hand.


"Das ist ein Versprechen."


Wie auf ein geheimes Zeichen wandten sich beide dem Haus zu. Die Zeit war um, es war spät, es war genug geredet, sie spürten beide, daß sie jetzt gehen mußten.

"Wo du rausgekommen bist, da gehst du auch wieder rein", sagte Dad.

Will tastete schweigend nach den eisernen Stiften unter dem raschelnden Efeu.

"Dad. Du wirst sie mir doch nicht rausziehen?"


Dad probierte einen der Stifte.


"Eines Tages, wenn du sie nicht mehr haben willst, wirst du sie selbst herausziehen."

"Ich werde sie nie leid."


"Kommt dir das so vor? Ja, in deinem Alter glaubt man immer, man wird nie etwas leid. Gut, mein Sohn, rauf mit dir!"

Er sah, wie sein Vater die efeuumrankte Steige entlang nach oben blickte.

"Willst du auch mit raufkommen, Dad?"


"Nein, nein!" rief Vater rasch.


"Du darfst gern, wenn du möchtest", sagte Will.


"Schon gut. Los jetzt."


Aber er betrachtete immer noch das Efeulaub, das sich in einer frühen Morgenbrise bewegte.

Will griff hinauf, nach der ersten, zweiten, dritten Sprosse, dann blickte er hinab.

Schon aus dieser geringen Entfernung sah es aus, als schrumpfte Dad da unten auf dem Rasen ein. Irgendwie wollte er ihn nicht zurücklassen, mitten in der Nacht, allein gelassen, die eine Hand wie zu einer Bewegung halb erhoben. Aber er bewegte sie nicht.

"Dad!" flüsterte er. "Du hast doch nicht das Zeug dazu!"

"Wer sagt das?" rief Dads Mund lautlos.


Dann sprang er.


Lautlos lachend schwangen sich der Junge und der Mann an der Seite des Hauses empor, immer weiter, Hand über Hand, Fuß um Fuß.

Er hörte, wie Dad abrutschte, strampelte, sich festhielt.


Nicht loslassen, dachte er. "Ach..." Der Mann atmete schwer.

Mit geschlossenen Augen betete Will: Halt – dich – fest!

Der alte Mann atmete ein, atmete aus, fluchte leise, kletterte weiter.

Will öffnete die Augen. Der Rest des Weges ging glatt, wunderbar, leicht, herrlich. Sie schwangen sich über das Fensterbrett und blieben dort eine Weile sitzen, gleich groß, gleich schwer, getönt von denselben Sternen. Sie umarmten sich mit dem Gefühl herrlicher Erschöpfung, lachten leise miteinander, preßten einander die Hand auf den Mund, aus Angst, jemanden zu wecken – Gott, das Land, die Frau, die Mutter, die Hölle. Sie spürten die warme Quelle der Heiterkeit dort, blieben noch einen Augenblick so sitzen, die Augen hell und feucht vor Liebe.

Dann drückte Dad den Jungen noch einmal fest an sich und war fort. Die Tür schloß sich hinter ihm.

Trunken von dem herrlichen nächtlichen Erlebnis, weggelockt von der Angst hin zu größeren, besseren Dingen, die er in Dad entdeckt hatte, warf Will die

Kleider mit lahmen Armen und wohlig schmerzenden Beinen von sich und sank schwer wie ein gefällter Baumstamm ins Bett.

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