Neunundzwanzigstes Kapitel



Er schlief genau eine Stunde.

Dann war ihm, als erinnerte er sich an etwas, das er zuvor nur halb bemerkt hatte. Er wachte auf, setzte sich hoch, blinzelte hinüber zu Jims Dachfirst.

"Der Blitzableiter!" japste er. "Er ist weg!"


Wirklich – er war fort!


Gestohlen? Nein. Hat Jim ihn abgenommen? Ja! Nur so zum Spaß. Lächelnd war er hinaufgeklettert, hatte den Blitzableiter abmontiert – sollte der Blitz doch in das Haus einschlagen! Angst? Nein. Angst war ein neuer Anzug aus elektrischem Strom, den Jim erst noch anprobieren mußte.

Jim! Will hätte ihm am liebsten das verdammte Fenster eingeworfen. Nagel den Blitzableiter wieder an! Noch vor dem Morgen, Jim, wird der Zirkus jemanden ausschicken, der stellt fest, wo wir wohnen, und wir wissen nicht, auf welchem Weg sie kommen und wie sie aussehen. Aber, Herr im Himmel, dein Dach ist so leer!

Die Wolken treiben schnell dahin, das Gewitter überfällt uns, und dann...

Will hielt inne.


Was für ein Geräusch macht ein treibender Ballon? Keines.

Nein, ganz stimmte das auch nicht. Aus sich selbst heraus macht er ein Geräusch, er seufzt wie der Wind, der deine Gardinen bläht, weiß wie der Atem des Schaums. Oder er macht ein Geräusch wie die Sterne, die sich in deinem Traum drehen. Vielleicht kündigt er sich auch an wie Mondaufgang und Monduntergang. Ja, das ist am besten: Wie der Mond über die Tiefen des Alls segelt, so treibt ein Ballon dahin.

Wie hört man ihn? Wie wird man gewarnt? Vernimmt das Ohr ihn? Nein. Aber die kleinen Härchen im Nacken, der pfirsichfeine Flaum im Ohr, die nehmen ihn wahr, und die Haare am Arm singen eine fremdartige Musik wie zitternde Heuschreckenbeine. Du weißt es also, du bist ganz sicher, du fühlst es, liegst im Bett und weißt, daß ein Ballon in den himmlischen Ozean eintaucht.

Will spürte Bewegung in Jims Haus. Auch Jim mit seinen feinen Sinnen muß gemerkt haben, wie die Wasser sich hoch über der Stadt teilten, um Leviathan durchzulassen.

Beide Jungen fühlten den mächtigen Schatten auf dem Weg zwischen ihren Häusern, beide stießen ihre Fenster auf, beide schoben die Köpfe heraus, beiden blieb der Mund offenstehen angesichts der gewohnten, freundschaftlichen Gleichzeitigkeit, dieser köstlichen Pantomime der Intuition, des Erspürens. Alles, was sie in diesen Jahren taten, war wie bei einem Tandem aufeinander abgestimmt. Dann blickten beide mit silbrig schimmernden Gesichtern – der Mond ging auf – nach oben.

Ein Ballon schwebte vorbei und verschwand.


"Heiliger Strohsack, was hat denn ein Ballon hier zu suchen?" fragte Jim, ohne eine Antwort zu erwarten.

Denn sie wußten beide, daß ein Ballon zum Suchen am besten war: kein Motorengeräusch, keine quietschenden Reifen auf dem Asphalt, keine Schritte auf der menschenleeren Straße, nur der Wind, der eine mächtige Schneise in die Wolken schlug, Platz machte für den Weidenkorb, das Sturmsegel.

Weder Jim noch Will schlugen das Fenster zu. Sie zogen die Jalousie nicht herunter, sie mußten einfach regungslos dastehen, warten, denn sie hörten das Geräusch wieder. Es war wie ein Murmeln aus dem Traum eines anderen Menschen...

Die Temperatur sank um vierzig Grad.

Denn nun flüsterte, raunte der sturmgebleichte Ballon, sank federweich herab, kühlte mit seinem elefantengroßen Schatten glitzernde Gräser und Sonnenuhren, die ihren Blick rasch zu dem Schatten erhoben.

Sie sahen etwas Seltsames, das sich im herunterhängenden Weidenkorb bewegte. War das ein Kopf? Waren es Schultern? Ja, und der Mond stand wie ein silberner Mantel dahinter. Mr. Dark, dachte Will. Der Zermalmer, dachte Jim. Die Warze, dachte Will. Das Skelett! Der Lavaschlürfer! Der Henker! Monsieur Guillotine!

Nein.


Die Staubhexe.


Die Hexe, die Schädel und Knochen in den Staub malen und sie dann wegniesen konnte.

Jim blickte zu Will herüber. Will zu Jim. Beide lasen es von den Lippen des anderen ab: die Hexe!

Aber warum schickten sie nachts in einem Ballon ein wächsernes altes Weib auf die Suche, dachte Will.

Warum kam nicht einer der anderen, mit ihrem Reptiliengift, Wolfsfeuer, Schlangenblick in den Augen? Warum eine bröckelnde Statue mit blinden Augen, mit spinnenfädenzugenähten Lidern?

Und dann sahen sie empor und wußten es.


Die Hexe, seltsam aus Wachs geformt, lebte ein seltsames Leben. Blind war sie, aber sie streckte rostfleckige Finger aus, mit denen sie Windbrocken streichelte, liebkoste, mit denen sie den Wind zerteilen, Schalen vom Raum ablösen, Sterne verdunkeln konnte, bis sie waberten und tanzten und dann wieder scharf in den Raum stachen wie ihre spitze Nase.

Aber die Jungen wußten noch mehr.


Sie wußten, daß sie blind war, aber blind auf besondere Weise. Sie konnte die Hände niedersenken und die Buckel der Welt abtasten, Hausdächer berühren, Dachfenster befühlen, Staub aufrühren und Zugluft beschnuppern, die durch Flure zog, und Seelen, die durch Menschen zogen, Strömungen, die von den Lungen zum klopfenden Puls und zu pochenden Schläfen und wieder zurück zu den Lungen verliefen. Genau wie die beiden spürten, daß sich der Ballon wie Herbstregen herabsenkte, so fühlte sie, wie die Seelen der Jungen durch die bebenden Nasenflügel entflohen und wieder zurückkehrten. Jede Seele – ein riesiger warmer Fingerabdruck – fühlte sich anders an, sie konnte sie zwischen den Fingern drehen wie Lehm; jede schmeckte anders, sie konnte sie mit ihrem Gummigaumen, ihrer Natternzunge kosten; klang anders – sie stopfte sich die Seele in ein Ohr, zog sie beim andern wieder heraus.

Ihre Hände griffen spielerisch durch die Luft herab, eine nach Jim, eine nach Will. Der Schatten des Ballons überspülte sie mit einer Woge der Panik, erfüllte sie mit Entsetzen.

Die Hexe atmete aus.


Der Ballon, nun von dem säuerlich riechenden Ballast befreit, hob sich. Der Schatten glitt vorüber.

"O Gott!" sagte Jim. "Jetzt wissen sie, wo wir wohnen."

Beide schnappten nach Luft. Irgendein unheimliches Paket schrappte und knirschte über die Ziegel von Jims Dach.

"Will! Sie hat mich!"


"Nein! Ich glaube..."


Das schabende, bürstende Geräusch ratschte von unten nach oben über das ganze Dach. Dann sah Will den Ballon hochwirbeln und in Richtung auf die Berge davonfliegen.

"Sie ist weg – da fliegt sie! Jim, sie hat was mit deinem Dach gemacht. Schieb den Kletterbalken rüber!"

Jim schob den langen, dünnen Pfosten herüber, an dem sonst die Wäscheleine befestigt wurde. Will verankerte ihn fest an seinem Fenstersims, dann kletterte er Hand über Hand hinüber, bis Jim ihn über seine Fensterkante ins Zimmer zog. Den Pfosten versteckten sie im Einbauschrank. Dann schoben und zogen sie sich gegenseitig zum Dach hoch. Auf dem Dachboden roch es nach Sägemühlen, alt, dunkel und viel zu still. Will schob sich auf den hohen Dachgiebel hinaus und rief: "Jim, da ist es!"

Und da war es auch, schimmernd im Mondlicht.


Es war eine Spur, wie eine Schnecke sie auf dem Bürgersteig hinterläßt. Schleimig. Silbrig glitzernd. Aber es war die Spur einer gigantischen Schnecke, die hundert Pfund wiegen mußte, wenn es eine solche Schnecke überhaupt gab. Das silbrige Band war einen Meter breit.

Es begann unten an der laubgefüllten Dachrinne, zog sich bis zum First empor und auf der anderen Seite zittrig wieder hinunter.

"Warum?" keuchte Jim. "Warum nur?"


"Das ist einfacher, als nach Straßennamen und Hausnummern zu suchen. Sie hat dein Dach markiert, damit sie es meilenweit sehen können. Tag und Nacht."

"Ach du liebe Zeit!" Jim bückte sich und berührte die Spur mit dem Finger. Ein leicht übelriechendes, klebriges Zeug blieb daran haften.

"Will, was sollen wir machen?"


"Ich hab eine Idee", flüsterte der andere. "Vor dem Morgen kommen sie gewiß nicht zurück. In der Nacht fangen die keinen Krach an. Sie haben einen bestimmten Plan. Und was wir jetzt machen – das da!"

Tief unter ihnen lag, zusammengeringelt wie eine gewaltige Boa Constrictor, der Gartenschlauch.

Will war wie der Wind unten, schnell, lautlos, er stieß nichts um und weckte keinen auf. Jim oben auf dem Dach war überrascht, als Will in Null Komma nichts wieder angekeucht kam, den Schlauch in der Faust.

"Will, du bist ein Genie!"


"Klar! Beeil dich!"


Sie zerrten den Schlauch hinaus, um die Schindeln zu durchweichen, das Silber wegzuspülen, die böse Quecksilberfarbe zu beseitigen.

Bei der Arbeit blickte Will auf. Die reine Farbe der Nacht ging schon in den Morgen über. Er sah den Ballon, der gegen den Wind anmanövrierte. Spürte sie es? Kam sie zurück? Würde sie das Dach noch einmal markieren?

Mußten sie es noch einmal abwaschen? Markieren – abwaschen, bis der Morgen kam? Ja, wenn's sein mußte...

Wenn man der Hexe nur endgültig das Handwerk legen könnte, dachte Will. Sie wissen unsere Namen nicht, kennen die Anschrift nicht. Und Mr. Cooger ist dem Tode zu nahe, um sich daran zu erinnern. Der Zwerg – falls das wirklich der Blitzableitermann ist – hat keinen Verstand mehr und erinnert sich auch nicht, so Gott will.

Und sie werden es nicht wagen, Miss Foley vor dem Morgen zu belästigen. Also warten sie zähneknirschend draußen auf der Wiese und haben die Hexe als Kundschafterin vorgeschickt...

"Ich bin ein Narr!" klagte Jim, als er leise die Stelle des Daches abspülte, wo sich der Blitzableiter befunden hatte. "Warum hab ich ihn nicht droben gelassen?"

"Der Blitz hat noch nicht eingeschlagen", sagte Will.


"Und wenn wir aufpassen, wird er es auch nicht. – Hier noch einmal!"

Sie spülten das Dach ab.


Unten öffnete jemand ein Fenster.


"Mom." Jim lachte leise. "Sie glaubt, es regnet."



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