Sechsundvierzigstes Kapitel



Länger wurde der Zug, eine ganze Meile lang. Die Reihenfolge:

Am Rand der Festwiese traten Jim und Will das Gras mit ihren leblosen Füßen und gingen zwischen Freunden, die ihnen immer wieder von den wundertätigen spitznadeligen Drachenfliegen erzählten.

Eine gute halbe Meile hinter ihnen folgte die Hexe, auf geheimnisvolle Weise verwundet. Die Zigeunerin, die Symbole in den Staub malen konnte, bemühte sich, den anderen nachzukommen.

Noch ein Stück weiter hinten kam Wills Vater, der alte Hausmeister. Bald machte sich sein Alter bemerkbar, und er ging langsamer, bald schritt er jugendlich-rasch aus, wenn er an das erste kurze Zusammentreffen und seinen Sieg dachte. Seine Linke hielt er an die Brust gedrückt.

Im Gehen kaute er Tabletten gegen den Schmerz.

Mitten auf dem Hauptweg blieb Mr. Dark stehen und blickte sich um, als hätte eine innere Stimme ihm die Namen der Teilnehmer an der weit auseinandergezogenen Parade zugeflüstert. Doch die Stimme verklang, er war unsicher. Ein kurzes Nicken, dann schoben sich Zwerg, Skelett, Jim und Will durch die Menschenmenge.

Jim fühlte den Menschenstrom an sich vorbeifließen, ohne daß ihn jemand wirklich berührte. Will hörte hier und da den Wasserfall eines Lachens, und er ging genau unter dem Schwall hindurch. Oben am Himmel explodierten ungezählte Glühwürmchen, und über ihren Köpfen drehte sich das Riesenrad, fröhlich wie ein gewaltiges Feuerwerk.

Dann erreichten sie den Irrgarten der tausend Spiegel und schoben sich seitlich, immer wieder anstoßend, abprallend, langsam zwischen den harten Eisflächen hindurch, auf denen bleiche, von giftigen Spinnen gestochene Jungen, ihnen sehr ähnlich, tausendfach auftauchten und wieder verschwanden.

Das bin ich, dachte Jim.


Aber ich kann mir nicht helfen, dachte Will, so viele von mir hier auch sein mögen.

Eine Menge Jungen, dazu eine Menge von Mr. Darks Illustrationen. Er hatte jetzt Jacke und Hemd abgelegt und zwängte sich durch die Wachsfiguren am Ende des Irrgartens.

"Hinsetzen!" befahl Mr. Dark. "Sitzen bleiben!"


Die beiden Jungen setzten sich, stumm, regungslos wie ägyptische Katzen, zwischen die wächsernen Gestalten ermordeter, erschossener, geköpfter, gevierteilter Männer und Frauen. Sie zuckten mit keiner Wimper, sie schluckten nicht.

Ein paar späte Besucher kamen lachend vorbei. Sie machten ihre Bemerkungen über die Wachsfiguren.

Keiner bemerkte den dünnen Faden von Speichel, der einem der "wächsernen" Jungen aus dem Mundwinkel lief.

Sie sahen nicht, wie hell und klar der Blick des zweiten "wächsernen" Jungen war, wie ihm plötzlich die Tränen in die Augen schossen und über die Wangen liefen.

Draußen humpelte die Hexe durch die schmalen Gänge zwischen gespannten Seilen hinter den Buden und Zelten.

"Damen und Herren!"


Die letzten Besucher des Abends, etwa drei-bis vierhundert, drehten sich gleichzeitig herum.

Vor ihnen reckte sich der Illustrierte Mann, nackt bis an den Gürtel, voll unheimlicher Vipern, Säbeltiger, schrecklicher Affen, schauriges Gezücht vor lachsfarbenschwefelgelbem Himmel.

"Zum letzten Mal an diesem Abend gratis! Kommen Sie näher! Treten Sie alle näher!"

Die Menge drängte sich um das große Podium vor dem Zelt der Mißgeburten. Dort standen der Zwerg, das Skelett und Mr. Dark.

"Damen und Herren! Der großartigste, einmaligste, gefährlichste, oft verhängnisvolle weltberühmte Kugeltrick!"

Die Menge sperrte vor Vergnügen die Mäuler auf.


"Bitte, die Gewehre!"


Der Dünne schob einen Ständer mit Schießeisen heran.


Die Hexe eilte herbei und blieb stocksteif stehen, als Mr. Dark ausrief:

"Und hier unsere todesmutige Mademoiselle Tarot. Sie fängt die Kugeln auf, sie setzt ihr Leben aufs Spiel!"

Die Hexe schüttelte den Kopf und erschrak, aber Mr. Dark packte sie und hob sie leicht wie ein Kind auf das Podium. Sie protestierte immer noch. Mr. Dark zögerte zwar, aber angesichts der Menge konnte er nicht mehr zurück und rief:

"Bitte, ein Freiwilliger, der das Gewehr abfeuert!"


Leises Raunen stieg aus der Menge auf. Man machte sich gegenseitig Mut.

Mr. Dark bewegte kaum die Lippen und fragte leise: "Ist die Uhr stehengeblieben?"

"Nein", wimmerte sie. "Nicht stehengeblieben."


"Nein?" Fast hätte er geschrien.


Er versengte sie mit seinem Blick, dann wandte er sich wieder den Zuschauern zu. Seine Lippen bewegten sich im gewohnten Rhythmus, seine Finger glitten über die Gewehre.

"Freiwillige vor!"


"Bitte, aufhören!" flehte die Hexe händeringend.


"Es geht weiter! Zur Hölle mit dir! Zweimal zur Hölle!" flüsterte er ihr mit wütendem Zischen zu.

Insgeheim zwickte sich Dark ins Handgelenk, an der Stelle, wo die Zeichnung einer stockblinden Frau eintätowiert war. Das Bild kniff er mit den Fingernägeln.

Die Hexe schnappte nach Luft, griff sich an die Brust und stöhnte. Sie knirschte mit den Zähnen. "Erbarmen!" jammerte sie halblaut.

Die Menge verharrte schweigend.


Ein rasches Nicken von Mr. Dark.


"Da sich keine Freiwilligen melden..." Er kratzte sich am tätowierten Handgelenk. Die Hexe erschauderte.

"Also streichen wir den letzten Akt der Vorstellung und..."

"Hier! Ich melde mich freiwillig."


Köpfe wandten sich.


Mr. Dark zuckte zurück, dann fragte er: "Wo?"


"Hier!"


Weit draußen am Rand der Menge hob sich eine Hand.


Die Menschen bildeten eine Gasse.

Mr. Dark konnte den Mann klar erkennen, der jetzt dort stand, allein, getrennt von den anderen.

Charles Halloway, Bürger, Vater, nach innen gekehrter Ehemann, Nachtwandler, Hausmeister der städtischen Bibliothek.

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