Zweiundvierzigstes Kapitel



Irgendwo in der schlummernden Einsamkeit, zwischen den reglosen, aber lebensstrotzenden Millionen von Büchern, verirrt hinter zwei Dutzend Ecken nach links, drei Dutzend Ecken nach rechts, Flure entlang, über Korridore ohne Ausgang, verschlossene Türen und halbleere Regale, irgendwo im literarischen Dickens-Nebel Londons, im Dostojewski-Schneegestöber Moskaus und der dahinterliegenden Steppen, irgendwo zwischen Atlanten und geographischen Handbüchern hockten, standen, lagen die beiden Jungen, unterdrückten ihr Niesen, preßten die Lippen aufeinander, schwitzten und froren gleichzeitig.

Irgendwo versteckt kauerte Jim und dachte: Er kommt!


Irgendwo verborgen kauerte Will und dachte: Er ist schon in der Nähe!

"Jungens..."


Mr. Dark kam mit seiner Schar von Freunden, mit seiner erlesenen Auswahl gezeichneter Reptilien, die sich um Mitternacht auf seiner Haut sonnten. Mit ihm kam der tintene Tyrannosaurus rex anmarschiert, öligschleichend, voller urtümlicher Kraft. Eine Donnerechse stolzierte drohend heran, und mit ihr kam Mr. Dark, gewappnet mit bösartigem Blitz gemalter Raubtiere und dem Schaf, das vor dem Donner floh, vor dem Sturm bedrohlicher Muskeln. Es war der Urweltdrache, der seine Schwingen erhob und gleichsam durch die marmornen Verliese schwebte. Und mit den geprägten, eintätowierten Gestalten des nackten Verderbens kam seine übliche Zuschauerschar; sie hockte auf jedem seiner Glieder, auf seinen Schultern, spähte vom Haardschungel seiner Brust, hing in mikroskopischen Millionen unter seinen Achseln und stieß Fledermausschreie aus, lechzend nach Kampf, bereit zur Jagd und, wenn nötig, zum Töten. Mr. Dark schob schlurfend seine Beine, seinen Leib, sein scharfgeschnittenes Gesicht vorwärts, wie eine schwarze Flutwelle auf eine verlassene Küste schlägt, ein dunkles Chaos voller phosphoreszierender Schönheiten und böser Alpträume.

"Jungens?"


Die sanfte Stimme war voll unendlicher Geduld, warm und freundlich gegenüber den verborgenen Geschöpfen, die sich zitternd versteckten zwischen trockenen Büchern. So raschelte, kroch, schlich, ging, lauerte er, verharrte drohend zwischen den Primaten, den ägyptischen Denkmälern für Tiergottheiten, streifte im Vorbeigehen schwarze Geschichten des toten Afrika, verhielt eine Weile in Asien, eilte dann weiter zu neuen Ufern.

"Jungens! Ich weiß doch, daß ihr mich hört! Auf dem Schild steht: RUHE! Also werde ich flüstern. Einer von euch will immer noch das, was wir anzubieten haben. Oder? Na?"

Jim, dachte Will.


Ich, dachte Jim. Nein! O nein! Nicht mehr! Ich nicht...


"Kommt doch raus!" Mr. Dark schnurrte sanft lockend die Worte durch seine Zähne. "Ich verspreche euch eine Belohnung. Wer sich zuerst stellt, gewinnt alles!"

Bum-bum-bum.


Mein Herz, dachte Jim.


Bin ich das, überlegte Will. Oder ist es Jim?


"Ich hör euch!" Mr. Darks Lippen zitterten. "Schon näher. Will? Jim? Jim ist doch der schlauere, wie? Komm doch, mein Junge!"

Nein, dachte Will.


Ich weiß doch nichts, dachte Jim verstört.


"Jim – ja!" Mr. Dark fuhr herum, schlug eine andere Richtung ein. "Jim, zeig mir, wo dein Freund ist." Ganz leise. "Wir schließen ihn ein, und du bekommst die Freifahrt, die er eigentlich haben sollte, wenn er schlau gewesen wäre. In Ordnung, Jim?" Wie eine gurrende Taube. "Wieder näher. Ich hör dein Herz klopfen!"

Aufhören, befahl Will in Gedanken seinem Herzen.


Halt! Aufhören! Jim hielt den Atem an.


"Ich weiß nicht recht... Seid ihr da in der Nische?"


Mr. Dark ließ sich von einer bestimmten Gruppe seiner Ungeheuer vorwärts zerren.

"Bist du dort, Jim? Oder... vielleicht... da drüben?"


Gedankenlos stieß er gegen einen Bücherkarren auf Gummirädern, der ins Dunkel davonrollte und an ein Regal stieß. Irgendwo zerbrach er und verstreute die Bücher wie schwarze Raben auf den Boden.

"Ihr seid alle beide geschickt im Versteckspielen", sagte Mr. Dark. "Aber jemand ist noch schlauer. Habt ihr heute abend die Dampforgel des Karussells gehört? Wißt ihr, daß jemand auf dem Karussell saß, der euch lieb und teuer ist? Will? Willy? William? William Halloway! Wo ist deine Mutter heute abend?"

Schweigen.


"Sie ist heute abend durch den Nachtwind gesaust, Willy, William! Immer im Kreise. Wir haben sie draufgesetzt. Immer rundherum. Wir haben sie drauf sitzen lassen. Immer im Kreise. Hörst du mich, Will? Einmal – ein Jahr, noch ein Jahr, immer noch ein Jahr, immer im Kreis herum!"

Dad, dachte Will. Dad, wo bist du?


Fern in dem kleinen Raum saß Charles Halloway mit laut klopfendem Herzen. Er hörte alles und dachte: Er wird sie nicht finden, ich rühr mich nur, wenn er sich rührt, er kann sie nicht finden, sie werden nicht auf ihn hören! Sie werden es ihm nicht glauben! Dann geht er wieder weg.

Mr. Dark rief leise: "Deine Mutter, Will! Immer im Kreise herum. Und du kannst dir doch sicher denken, in welche Richtung, Will?"

Mr. Dark beschrieb mit seiner geisterhaften Hand im Dunkeln einen Kreis.

"Immer im Kreis. Und als wir deine Mutter dann herunterließen, Junge, als sie sich im Spiegelkabinett sah, da hättest du den einen einzigen Ton hören sollen, den sie von sich gab. Das klang wie bei einer Katze, die einen so großen Haarklumpen verschluckt hat, daß sie ihn nicht wieder herauswürgen kann. Und schreien konnte sie auch kaum, weil das Haar ihr aus Mund, Nase und Ohren drang. Junge, war sie alt, alt, alt! Als wir sie zuletzt sahen, Willy, da rannte sie zwischen all den Spiegeln vor sich selbst davon. Sie wird bei Jim an die Haustür klopfen, aber wenn seine Mutter so ein zweihundert Jahre altes Gerippe vor der Tür stehen sieht, das um die Gnade eines raschen Todes durch eine Kugel bettelt, Junge, dann wird Jims Mutter genauso würgen, und der Haarklumpen wird ihr wie der Katze im Hals stecken.

Aber ihr wird nicht übel, sie wird sie davonjagen, hinaus zum Betteln auf die Straße, und keiner wird ihr glauben, Will. Sie ist nur noch ein Knochengerippe, keine Spurmehr von vergangener Schönheit, keine Ähnlichkeit mit euch! An uns liegt es jetzt, Will. Wir müssen laufen und sie suchen, sie retten. Wir wissen, wo sie ist – stimmt's, Will? Sag mir: Stimmt das? Stimmt es?"

Mr. Darks Stimme war nur ein Zischeln in der Dunkelheit.

Irgendwo in der Bibliothek, kaum hörbar, begann nun jemand zu schluchzen.

Der Illustrierte Mann atmete erleichtert und erfreut auf.

Jaaaaa...

"Hier", murmelte er. "Was? Wo? Steht ihr vielleicht unter J wie Jungen? A wie Abenteuer? V wie versteckt? G wie geheim? E wie entsetzt? Oder unter J für Jim und N für Nightshade? W für William und H für Halloway? Wo stecken sie denn, meine zwei kostbaren menschlichen Bücher, damit ich die Seiten umblättern und darin lesen kann?"

Er schob auf dem untersten Regal einige Bücher beiseite, um Platz für seinen rechten Fuß zu finden.

Dann schob er den rechten Fuß in die Lücke, verlagerte sein Gewicht und hing mit dem linken Fuß frei in der Luft.

"Dort!"


Sein linker Fuß stieß im zweiten Regal Bücher beiseite und fand festen Halt. So kletterte er immer höher, zum vierten, fünften, sechsten Regal, hinauf in den dunklen Himmel der Bibliothek. Seine Hände klammerten sich an die Regale, er klomm höher hinauf ins Laub der raschelnden, papiernen Blätter, um die Jungen zu finden, falls sie da waren, klein und gepreßt wie Lesezeichen in den Büchern.

Seine rechte Hand mit der Königstarantel, von Rosen umwunden, stieß an ein Buch über Bayeux-Gobelins. Es krachte hinunter in den bodenlosen Abgrund. Es dauerte endlos lange, bis das Buch auf den Boden schlug und auseinanderklaffte, Ruinen der Schönheit, Gold, Silber und Himmelsblau.

Keuchend griff er mit der linken Hand nach dem neunten Regal, ächzte, griff ins Leere. Keine Bücher mehr.

"Na, ihr Jungen, seid ihr da oben auf dem Mount Everest?"

Schweigen.


Nur das ganz leise Schluchzen, näher jetzt.

"Ist es hier kalt? Kalt, kälter, am kältesten?"

Die Augen des Illustrierten Mannes waren jetzt in Höhe des elften Regals.

Steif und starr wie ein Toter, mit dem Gesicht nach unten, lag Jim da, keine drei Zoll von ihm entfernt.

Ein Regal höher in der Katakombe, die Augen in Tränen schwimmend, lag Will Halloway.

"Na ja", sagte Mr. Dark.


Er streckte die Hand aus und streichelte Will über den Kopf.

"Hallo!" sagte er.

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