Siebenundvierzigstes Kapitel



Das beifällige Gemurmel der Menge legte sich.

Charles Halloway rührte sich nicht. Er wartete, bis die Gasse sich hin zur Bühne geöffnet hatte.

Er konnte den Gesichtsausdruck der Mißgeburten dort oben nicht sehen. Sein Blick schweifte über die Menge hin und blieb am Spiegelkabinett hängen, diesem leeren Vergessen, das mit zehnmal tausend Millionen Lichtjahren von Spiegelungen und Rückspiegelungen lockte, alles umdrehte und wieder umdrehte, in die Tiefe des Nichts führte, ins Leere stürzen ließ, sinken, bis der Magen revoltierte.

Aber war da nicht ein Echo zweier Jungen im Silberbelag einer jeden Spiegelscheibe? Spürte er es oder spürte er es nicht – vielleicht mit den Wimpern, wenn schon nicht mit den Augen –, ihr Hindurchschreiten, das Warten dahinter, warmes Wachs in der Kälte, das Warten, bis sie vom Entsetzen wie ein Spielzeug aufgezogen wurden, bis die Panik sich Bahn brach?

Nein, sagte sich Charles Halloway, nicht denken. Bring es hinter dich.

"Ich komme!" rief er...


"Gib's ihnen, Opa", sagte ein Mann.


"Ja", antwortete Charles Halloway, "das hab ich auch vor."

Dann schritt er durch die Menge.


Als der Freiwillige, der Nachtwanderer, näher kam, drehte sich die Hexe langsam um.

Ihre Lider zerrten an den schwarzen, wächsernen Fäden hinter der dunklen Brille.

Mr. Dark, dieses von Zeichnungen übersäte, übersättigte Sammelsurium von Seelen, beugte sich von der Bühne und leckte sich erwartungsvoll über die Lippen. Gedanken ließen in seinen Augen feurige Funkenräder wirbeln, rasch, rascher – was, was was?

Und der alte Hausmeister setzte ein Lächeln auf, das so starr war wie ein Zelluloidgebiß aus einer Wundertüte. Er ging weiter, und die Menge bahnte ihm eine Gasse, wie sich die See vor Moses öffnete und hinter ihm wieder schloß. Was werde ich tun? Warum war er überhaupt hier? Aber er ging unverzagt weiter, Schritt für Schritt.

Charles Halloways Fuß berührte die unterste Stufe des erhöhten Podiums.

Die Hexe zitterte insgeheim.


Mr. Dark witterte ein Geheimnis und warf dem Mann einen scharfen Blick zu. Dann streckte er diesem vierundfünfzigjährigen Mann rasch die Hand entgegen.

Doch der vierundfünfzigjährige Mann schüttelte den Kopf, gab ihm die Hand nicht, ließ sich nicht hinaufhelfen.

"Danke – nein."


Als Charles Halloway auf der Bühne stand, winkte er der Menge zu.

Hin und wieder applaudierte jemand, als ob man ein paar Knallfrösche losläßt.

"Aber..." Mr. Dark tat erstaunt. "Aber Ihre linke Hand, Sir. Wenn Sie nur eine Hand gebrauchen können, dann können Sie doch keine Flinte halten und abfeuern."

Charles Halloway erbleichte.


"Ich schaff es schon", sagte er. "Auch mit einer Hand."

"Hurra!" schrie unter ihm ein Junge.


"Gut so, Charlie!" rief dahinter ein Mann.


Mr. Dark wurde vor Zorn rot, als die Leute jetzt noch lauter lachten und klatschten. Er wehrte mit beiden Händen die Wogen erfrischenden Beifalls ab, der wie Regen von den Zuschauern her auf ihn niederprasselte.

"Schon gut, schon gut, sehen wir erst mal, ob er's schafft!"

Heftig packte der Illustrierte Mann eine Flinte, riß sie aus dem Ständer und schleuderte sie durch die Luft.

Die Menge hielt den Atem ab.


Charles Halloway duckte sich. Er hob die rechte Hand.


Die Waffe klatschte gegen seine Handfläche. Er packte zu. Sie fiel nicht herunter. Er hatte sie fest im Griff.

Die Zuschauer johlten und beschimpften Mr. Dark wegen seiner schlechten Manieren. Er wandte sich eine Sekunde lang ab und verfluchte sich selbst.

Strahlend hob Wills Vater die Flinte.

Die Menge brüllte.


Und während die Woge des Applauses sich brach und das Ufer entlangrollte, sah er wieder in die tausend Spiegel, wo die erahnten, doch ungesehenen Umrisse von Will und Jim zwischen den gigantischen Rasierklingen von Enthüllung und Illusion verharrten. Dann wandte er sich wieder dem Medusenblick von Mr. Dark zu, rasch und abschätzend, dann weiter zu der gesichtslosen, zitternden Norne der Mitternacht, die sich immer mehr in den Hintergrund drängte. Sie stand nun schon am anderen Ende der Tribüne und drängte sich an die schwarz-rote Zielscheibe.

"Junge!" rief Charles Halloway.


Mr. Dark erstarrte.


"Ich brauche einen Jungen, der mir freiwillig die Flinte halten hilft", rief Charles Halloway.

"Los! Irgendeiner!" fügte er hinzu.


In der Menge scharrten ein paar Jungen verlegen mit den Füßen im Staub.

"Mein Junge!" rief Charles Halloway. "Bleib stehen.

Dort ist mein Sohn. Er wird sich freiwillig melden, wie, Will?"

Die Hexe hielt eine Hand in die Luft, um die Welle der Kühnheit zu ertasten, die wie ein Fieber von dem vierundfünfzigjährigen Mann ausging. Mr. Dark fuhr herum, als hätte ihn eine Schrotladung voll getroffen.

"Will!" schrie der Vater.


Will saß regungslos im Wachsfigurenkabinett.


Die Leute sahen nach links, nach rechts, hinter sich.


Keine Antwort.


Will hockte im Wachsmuseum.


Mr. Dark beobachtete das alles mit einer Mischung aus Achtung, Bewunderung, Besorgnis. Er schien genauso abzuwarten wie Wills Vater.

"Los, Will, komm doch und hilf deinem Alten!" rief Charles Halloway in kameradschaftlichem Ton.

Will saß im Wachsmuseum.


Mr. Dark lächelte.


"Will! Willy! Komm hierher!"


Keine Antwort.


Mr. Darks Lächeln wurde breiter.


"Willy! Hörst du denn deinen alten Vater nicht?"


Mr. Darks Lächeln verblaßte.


Die letzte Frage kam nämlich von einem Mann unter den Zuschauern.

Die Menge lachte.


"Will!" rief eine Frau.


"Willy!" schrie eine andere.


"Juhuh!" johlte ein älterer Herr mit Bart.


"Los, komm doch, Will!" Das war ein Junge.


Lachend stießen sich die Menschen mit den Ellbogen an.

Charles Halloway rief. Sie riefen. Charles Halloways Ruf hallte zu den Bergen hin. Ihr Rufen klang bis hin zu den Bergen.

"Will! Willy! Wil-ly!"


In den Spiegeln huschte und zitterte ein Schatten.


Der Hexe liefen Bäche von Schweiß über das Gesicht.


"Da!"


Die Menge hörte zu rufen auf.


Auch Charles Halloway verstummte. Er brachte den Namen seines Sohnes nicht mehr über die Lippen und stand schweigend da.

Will erschien im Eingang des Spiegelkabinetts und sah aus wie die Wachsfigur, zu der er beinahe geworden war.

"Will!" rief sein Vater leise.


Der Klang der sanften Stimme ging der Hexe durch Mark und Bein.

Will bewegte sich wie eine Marionette durch die Zuschauermenge.

Sein Vater hielt ihm den Gewehrkolben als Stock hin und zog ihn zu sich herauf.

"Da habt ihr meine gesunde linke Hand!" verkündete Charles Halloway.

Will sah und hörte nichts von dem rauschenden Beifall des Publikums.

Mr. Dark hatte sich nicht geregt, doch Charles Halloway merkte die ganze Zeit über, wie in seinem Kopf Kanonenschläge losgingen. Einer nach dem anderen verzischten sie und erstarben. Mr. Dark hatte keine Ahnung, was die beiden planten. Das wußte übrigens auch Charles Halloway nicht. Ihm war, als hätte er diese Szene für sich selbst geschrieben, all die vielen Jahre in der Bibliothek, in den vielen Nächten; er hatte das Manuskript erst auswendig gelernt und es dann zerrissen und nun vergessen, was er auswendig gelernt hatte. Er verließ sich auf das geheimnisvolle Wirken seines Unterbewußtseins und spielte auswendig weiter – nein! Er spielte, was Herz und Seele ihm eingaben. Und nun?

Seine strahlenden Zähne schienen die Hexe noch blinder zu machen. Unmöglich! Mit einem Ruck hob sie die Hand zu den Gläsern, den zugenähten Lidern!

"Alles näher kommen!" rief Wills Vater. Die Zuschauer drängten sich dichter heran. Die Bühne war wie eine Insel. Das Meer waren die Menschen.

"Jetzt achtet auf das Ziel!"


Die Hexe schmolz in ihren Lumpen dahin.


Der Illustrierte Mann wandte sich nach links und fand keine Unterstützung bei dem Skelett, das nur noch hagerer erschien; fand keine Hilfe bei dem Zwerg, der idiotisch-gleichgültig vor sich hin starrte.

"Die Kugel, bitte", sagte Wills Vater liebenswürdig.


Die tausend Zeichnungen auf der zuckenden Haut hörten die Aufforderung nicht, warum sollte Mr. Dark sie hören?

"Wenn Sie so nett sein wollen – die Kugel, bitte", wiederholte Charles Halloway. "Damit ich der alten Hexe den Floh von der Warze schießen kann."

Will stand regungslos da.


Mr. Dark zögerte.


Draußen in der bewegten See breitete sich Lächeln aus, hier und da, hundert, zweihundert, dreihundert Zeugen lächelten, als hätte der Mond seine Anziehungskraft ausgeübt. Dann verebbte die Flutwelle.

Mit einer langsamen Handbewegung streckte der Illustrierte Mann ihm die Kugel hin. Mit einer zähen, schlangenartigen Bewegung hielt er die Kugel erst dem Jungen vor die Nase, um festzustellen, ob er sie bemerkte. Will sah nichts.

Sein Vater nahm das Geschoß.


"Kratzen Sie Ihre Anfangsbuchstaben hinein", sagte Mr. Dark mechanisch.

"Das genügt mir nicht!" Charles Halloway hob die Hand seines Sohnes und legte die Kugel hinein, damit er sie festhalte. Dann klappte er mit seiner gesunden Hand das Taschenmesser auf und markierte das Blei mit einem seltsamen Symbol.

Was ist eigentlich los, überlegte Will. Ich weiß, was passiert. Oder weiß ich nicht, was passiert? Was eigentlich?!

Mr. Dark sah auf der Kugel einen aufgehenden Mond eingekratzt und fand daran nichts zu beanstanden. Er schob die Kugel in den Lauf und warf Wills Vater die Flinte wieder zu. Der fing sie genau so geschickt wie vorhin auf.

"Fertig, Will?"


Das rosige Gesicht des Jungen senkte sich in der Andeutung eines Nickens.

Charles Halloway warf dem Spiegelkabinett einen letzten Blick zu und dachte: Jim, bist du immer noch drin? Mach dich fertig!

Mr. Dark wandte sich ab, um seine Staubhexe zu beruhigen, zu tätscheln, ihr zuzureden, aber dann hielt er mitten in der Bewegung inne, als das Flintenschloß wieder aufschnappte. Wills Vater ließ die Kugel herausspringen, um die Zuschauer davon zu überzeugen, daß sie noch vorhanden war. Sie sah zwar echt aus, doch er hatte vor langer Zeit gelesen, daß es sich um eine Ersatzkugel handelte, die aus einem harten, stahlfarbenen Wachs bestand. Wenn man sie abschoß, dann verflüchtigte sie sich vor dem Flintenlauf in einem Dampfwölkchen. Der Illustrierte Mann hatte geschickt die Kugeln ausgetauscht und legte der zitternden Staubhexe genau in diesem Augenblick die echte Bleikugel in die Hand. Sie mußte die Kugel in der Wange verstecken. Beim Knall des Schusses hatte sie wie unter einem Aufprall zu schwanken und dann die angeblich mit ihren gelben Rattenzähnen aufgefangene Kugel vorzuzeigen. Tusch! Applaus!

Der Illustrierte Mann sah Charles Halloway mit geöffnetem Flintenschloß, mit der Wachskugel, dastehen.

Doch Halloway verriet nicht, was er wußte, sondern sagte nur: "Ritzen wir unser Zeichen lieber etwas deutlicher ein, meinen Sie nicht auch?" Wieder hielt der Junge die Kugel in seiner gefühllosen Hand. Und wieder ritzte Charles Halloway mit dem Taschenmesser denselben geheimnisvollen aufgehenden Mond in das glatte Wachs. Dann schob er die Kugel wieder in den Lauf.

"Fertig?!"


Mr. Dark sah die Hexe an.


Die zögerte, dann nickte sie matt.


"Fertig!" verkündete Charles Halloway.


Er war rings umgeben von den Zelten, der atmenden Menschenmenge, den besorgten Mißgeburten, einer vor Panik erstarrten Hexe, dem versteckten Jim, der noch gefunden werden mußte, einer uralten Mumie, die immer noch, blaues Feuer spuckend, auf dem elektrischen Stuhl angeschnallt dasaß, einem Karussell, das nur darauf wartete, bis die Vorstellung zu Ende war, die Leute gingen und der Zirkus mit den Jungen und dem alten Hausmeister fertig werden konnte.

Charles Halloway hob die plötzlich sehr schwere Flinte an die Wange und sagte im Plauderton zu seinem Sohn:

"Will, ich stütze mich hier auf deine Schulter. Heb den Lauf ganz vorsichtig in der Mitte an. Mit einer Hand.

Hier, nimm schon, Will." Der Junge hob die Hand. "Gut so, mein Sohn. Wenn ich ›Achtung!‹ sage, dann halt den Atem an. Verstehst du mich?"

Der Kopf des Jungen erbebte in einer kaum merklichen Bestätigung. Er schlief. Er träumte. Es war ein Alptraum.

Und in seinem Alptraum geschah das.

Zuerst hörte er seinen Vater rufen: "Damen! Herren!"


Der Illustrierte Mann ballte die Faust. In der Faust zermalmte er Wills Abbild wie eine trockene Blume.

Will wand sich.


Der Lauf senkte sich.


Charles Halloway tat, als merkte er es nicht.


"Will hier ist mein gesunder linker Arm, auf den ich mich verlassen kann. Ich und er, wir beide werden jetzt gemeinsam den einmaligen, sensationellen, äußerst gefährlichen und zuweilen tödlichen Kugeltrick vorführen!"

Beifall. Gelächter.


Rasch und jugendlich legte der vierundfünfzigjährige Hausmeister den Lauf der Waffe auf die zuckende Schulter des Jungen.

"Hörst du, Will? Hör mir gut zu! Es ist für uns!"


Der Junge lauschte. Der Junge wurde ruhiger.


Mr. Dark preßte die Faust härter zusammen.


Will befiel eine leichte Lähmung.


"Wir werden den Nagel genau auf den Kopf treffen! Stimmt's, mein Junge?"

Das Lachen schwoll an.


Und der Junge mit dem Flintenlauf auf der Schulter wurde tatsächlich sehr ruhig. Mr. Dark preßte die Fingernägel in das rosige Gesicht, das in seiner Faust verborgen lag, doch der Junge wurde bei der Stimmung, die ihn umgab, immer heiterer. Sein Vater deklamierte weiter.

"Zeig der Dame deine Zähnchen, Will!"


Will zeigte der Frau vor der Kimme seine Zähne.


Das Gesicht der Hexe wurde völlig blutleer.


Jetzt entblößte auch Charles Halloway seine Zähne, soweit sie noch vorhanden waren.

In die Staubhexe zog der Winter ein.


Unter den Zuschauern meinte jemand: "Junge, ist die großartig! Sie tut richtig furchtsam. Schau nur!"

Ich schaue schon, dachte Wills Vater. Seine Linke hing ihm nutzlos an der Seite herab, die Rechte hatte er am Abzug der Flinte, das Gesicht dicht am Visier. Sein Sohn stand stocksteif, und das Gesicht der Hexe war haargenau im Visier, vor der Zielscheibe. Dann kam der letzte, allerletzte Augenblick, der Gedanke: Eine Wachskugel im Schloß, was kann eine Wachskugel schon anrichten?

Eine Kugel, die sich unterwegs in Nichts auflöst, was nützt die schon? Was wollen wir hier? Was können sie uns tun? Albern, das alles.

Nein, dachte Wills Vater. Hör auf damit!


Er verscheuchte die Zweifel.


Er spürte, wie seine Lippen lautlose Worte formten.


Doch die Hexe hörte, was er sagte.


Im ersterbenden Gelächter, noch ehe der warme Beifall ganz verebbt war, formte er lautlos mit den Lippen die Worte:

Der aufgehende Mond, den ich auf die Kugel geritzt habe, ist kein aufgehender Mond.

Er ist mein eigenes Lächeln.


Ich habe der Kugel im Lauf mein Lächeln aufgeprägt.


Er sagte es nur einmal.


Er wartete, bis sie verstanden hatte. Dann sagte er es, lautlos, noch einmal.

Im nächsten Augenblick, noch bevor der Illustrierte Mann ebenfalls die Worte übersetzen konnte, rief er: "Achtung!"

Will hielt die Luft an. Weit weg, zwischen den Wachsfiguren, saß Jim versteckt, Speichel tropfte ihm übers Kinn. Die gefesselte Mumie auf dem elektrischen Stuhl summte zwischen den Zähnen, tot-lebendig. Mr. Darks Illustrationen zuckten unter klebrigem Schweiß, als er ein letztes Mal die Faust ballte – zu spät! Gelassen hielt Will still. Ebenso gelassen und ruhig sagte sein Vater: "Jetzt!"

Der Schuß krachte.



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