Zwölftes Kapitel



Manchmal sieht man hoch oben am Himmel einen Papierdrachen, so weise, daß er den Wind kennt. Er fliegt, dann stürzt er auf einen bestimmten Fleck zu. Man kann an der Schnur ziehen, daß sie fast reißt, es ist zwecklos, man kann rennen, der Drache sucht sich doch seinen Landeplatz.

"Jim! Wart auf mich!"


Jim war jetzt dieser Drache, und die Schnur war durchschnitten. Sein Wissen um den Wind trug ihn von Will hinweg. Der konnte nur rennen, erdgebunden, wohin der andere flog, hoch, dunkel, still und plötzlich so fremd.

"Jim! Ich komme!"


Im Laufen dachte Will: Es ist immer dasselbe. Er rennt. Ich rede. Ich drehe Steine um. Jim greift in den kalten Schlick darunter. Ich erklimme Hügel. Jim schreit von der höchsten Kirchturmspitze herab. Ich habe ein Sparkonto. Jim hat nur das Haar auf seinem Kopf, den Schrei auf seinen Lippen, das Hemd am Leibe und die Tennisschuhe an den Füßen. Warum erscheint er mir reicher? Weil ich auf einem Stein in der Sonne sitze, dachte Will, während Jims Haare auf den Armen im Mondschein knistern und er mit Kröten tanzt. Ich hüte Kühe. Jim zähmt Ungeheuer. Narr, schreie ich Jim an. Feigling, schreit er zurück. Und wir – rennen!

Sie rannten aus der Stadt, über die Felder und blieben dann regungslos unter der Eisenbahnbrücke stehen. Der Mond lauerte hinter den Hügeln, die Wiesen erbebten unter einem Gespinst von Tau.

Dann donnerte der Zug über die Brücke. Die Zirkusorgel wimmerte. "Aber – es spielt sie doch keiner!" Jim starrte hinauf.

"Jim, laß die üblen Späße!"


"Ganz ehrlich – sieh doch selbst!"


Die blanken Pfeifen der Zirkusorgel glitten im Sternenlicht dahin, immer weiter, aber niemand saß am Spieltisch. Der Wind spielte mit eisigem Hauch in den Orgelpfeifen.

Die Jungen rannten. Der Zug kurvte davon. Wie aus tiefer See, verrostet, mit grünem Moos überwachsen, läutete die Glocke zum Begräbnis, läutete, läutete. Dann stieß die Dampfpfeife eine große weiße Wolke aus, und Will spürte eiskalte Perlen auf der Stirn.

Wie oft hatte Will mitten in der Nacht den Zug pfeifen gehört? Die Dampfpfeife stößt weiße Wolken aus, die den Schlaf säumen, verloren, allein und fern, und sei der Zug noch so nahe. Manchmal wachte er mit Tränen auf der Wange auf und fragte sich: Warum? Er legte sich wieder ins Kissen zurück und dachte: Ja, sie bringen mich zum Weinen, wenn sie nach Osten fahren, nach Westen fahren, so tief im Land sich verlieren, daß sie im Traum versinken.

Diese Züge und ihr Klagelaut gingen auf ewig zwischen den Bahnhöfen verloren. Sie wußten nicht, woher sie kamen, hatten keine Ahnung, wohin sie gingen, hauchten ihren letzten weißen Atem am Horizont aus, waren fort. So geht es mit allen Zügen, immer und immer.

Doch der Pfiff dieses Zuges...


Das Heulen und Klagen eines ganzen Lebens lag darin, gesammelt aus anderen Nächten, anderen schlummernden Jahren; das Heulen der Hunde in Vollmondnächten, das Brausen kalter Winde, die im Januar vom Fluß her durch das Geländer der Veranda pfeifen, bis das Blut in den Adern stockt; tausende jammernde Feuersirenen, schlimmer noch: letzte Atemzüge einer Milliarde Menschen, tot oder sterbend, die leben wollten, ihr Stöhnen, ihr Seufzen – das tönte hier über die Erde!

Wills Augen füllten sich mit Tränen. Er stolperte. Er kniete sich hin und tat so, als müsse er sich ein Schuhband schnüren.

Doch dann sah er, wie auch Jim sich an die Ohren griff, wie auch seine Augen naß wurden. Die Dampfpfeife brüllte – Jim brüllte mit ihr um die Wette. Die Pfeife schrillte – Jim schrie gegen sie an.

Dann verstummten plötzlich die Milliarden Stimmen, als ob der Zug in einem feurigen Wirbelsturm von der Erde verschwunden sei.

Leise glitt der Zug weiter. Schwarze Transparente flatterten, schwarzes Konfetti schwebte im süßlichen Wind den Hügel herab. Die Jungen liefen hinterher, und der Nachtwind war so kalt, daß sie mit jedem Atemzug Eiskrem aßen.

Sie erklommen die letzte Anhöhe.


"Junge!" flüsterte Jim.


Der Zug war auf Rolfes Mondwiese abgebogen. Sie hieß so, weil die jungen Pärchen der Gegend hierherkamen, um den Mond über einem weiten, unendlichen Land stehen zu sehen, über einem Binnenmeer, das im Frühjahr voller Gras und im Herbst voller Heu und voller knirschenden Schnees im Winter war. Es war ein schöner Spazierweg, am Ufer des geheimnisvollen Binnenmeers entlang, wenn der Mond sich zitternd über das Gewoge erhob.

Der Zug jedenfalls duckte sich nun auf dem alten Bahngleis ins hohe Gras, drüben am Waldrand, und die Jungen kauerten wartend hinter einem Busch.

"Es ist so still", flüsterte Will.


Der Zug stand mitten auf der gemähten Herbstwiese.


Niemand auf der Lokomotive, niemand auf dem Tender, niemand in den Wagen dahinter, alle schwarz im Schein des Mondes. Metall kühlte sich klickend ab.

"Psst!" machte Jim. "Ich spüre sie, wie sie sich dort bewegen."

Will spürte die Gänsehaut tausendfach am ganzen Körper.

"Glaubst du, sie haben etwas dagegen, daß wir ihnen zusehen?"

"Möglich", gab Jim fröhlich zurück.


"Warum dann der Lärm der Zirkusorgel?"


"Wenn mir das einfällt, sag ich's dir." Jim lächelte.


"Sieh mal!" Flüstern.

Ein riesiger, moosgrüner Ballon berührte den Mond, als käme er geradewegs vom Himmel.

Zweihundert Meter entfernt, zweihundert Meter hoch verhielt er und schwankte lautlos in der Luftströmung.

"Der Korb unter dem Ballon – da ist jemand drin!"


Aber dann stieg ein hochgewachsener Mann vom Führerstand des Zuges, wie ein Kapitän, der die Untiefen dieses Binnenmeeres ausloten will. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Sein Gesicht lag im Schatten. So watete er bis zur Mitte der Wiese. Sein Hemd war so schwarz wie die Handschuhe an den Händen, die er zum Himmel emporstreckte.

Er machte eine Handbewegung. Einmal nur.


Der Zug erwachte zum Leben.


Ein Kopf tauchte an einem Fenster auf, dann ein Arm, dann noch ein Kopf – wie Marionetten auf der Bühne.

Plötzlich trugen zwei schwarzgekleidete Männer einen dunklen Zeltmast durch das raschelnde Gras.

Die Stille war es, die Will zurückschrecken ließ, während Jim sich mit mondhellen Augen gespannt vorbeugte.

In einem Zirkus sollte man Knurren und Brüllen hören wie im tiefen Wald und ganze Wolken von Staub sehen, aufgewirbelt von den Löwen; Männer müssen geschäftig herumrennen, Flaschen klirren, Futtereimer klappern, Maschinen und Elefanten stampfen, Zebras seufzen, eingeschlossen in doppelten Käfigen.

Aber das war wie ein alter Stummfilm, eine schwarzweiße Bühne voller Geister, die ihre Lippen bewegten; mondweiß stand der Atem vor ihren Gesichtern, und alle Bewegungen vollzogen sich in so vollkommener Stille, daß man den Wind in den Härchen auf der Backe flüstern hörte.

Weitere Schatten entstiegen dem Zug und huschten an den Käfigen vorbei, in denen die Finsternis mit blicklosen Augen lauerte. Auch die Zirkusorgel schwieg, bis auf die Andeutung eines verrückten Liedes, das der Wind den Orgelpfeifen entlockte.

Der Zirkusdirektor stand mitten auf dem freien Feld.


Der Ballon hing wie ein riesiger, grünverschimmelter Käse regungslos am Himmel. Dann senkte sich die Dunkelheit über alles herab.

Als die Wolken den Mond verhüllten, sah Will gerade noch, wie der Ballon herabschwebte.

In der schwarzen Nacht spürte er, wie die Männer sich unsichtbar an die Arbeit machten. Der unsichtbare Ballon kam ihm vor wie eine fette Spinne im Netz. Er machte sich an Masten und Tauen zu schaffen und zog Stoff in die Höhe.

Die Wolken lichteten sich. Der Ballon stieg auf.


Auf der Wiese ragten die Masten auf, das Skelett des Hauptzeltes, das nur noch auf die Zeltbahnen wartete.

Wieder schoben sich Wolken vor den weißen Mond.

Will erschauderte im Schatten. Er hörte Jim wegkriechen, packte seinen Fuß und spürte, wie seine Muskeln erstarrten.

"Warte!" raunte Will. "Sie ziehen gerade die Zeltbahnen auf."

"Nein", sagte Jim. "O nein..."


Auf geheimnisvolle Weise wußten es beide: Die Drähte und Taue hoch droben an den Masten fingen die vorbeifliegenden Wolken ein, entrissen dem Wind ganze Bahnen von ihnen; ein großes Schattenungeheuer nähte sie aneinander, eine neben die andere, bis das Zelt Gestalt annahm. Endlich vernahmen sie das klatschende Geräusch der im Wind flatternden riesigen Fahnen.

Die Bewegung hörte auf. Dunkelheit ruhte wieder regungslos in der Dunkelheit.

Will lag mit geschlossenen Augen da und lauschte dem Schlag der gewaltigen pechschwarzen Schwingen, als sei ein riesiger Urvogel zum Leben erwacht, hier, auf der nachtschwarzen Wiese.

Die Wolken flogen davon. Der Ballon war verschwunden.

Die Männer waren fort.


Der Wind ließ Wellen wie schwarzen Regen über das fertige Zelt rinnen.

Plötzlich erschien der Weg zurück zur Stadt unendlich weit.

Will blickte instinktiv über die Schulter. Nichts als Gras und leises Flüstern.

Langsam wandte er den Blick wieder dem schweigenden, dunklen, scheinbar leeren Zelt zu.

"Das gefällt mir nicht", sagte er.


Jim konnte seinen Blick nicht abwenden. "Ja", flüsterte er nur. "Ja!"

Will stand auf. Jim lag noch flach am Boden.


"Jim!" rief Will.


Jims Kopf flog herum, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Er kniete und raffte sich schwankend auf.

Sein Körper drehte sich um, doch sein Blick war immer noch auf diese schwarzen Fahnen geheftet, die großen Banner und Transparente, die mit ungeahnten Schwingen, mit Hörnern und dämonenhaftem Grinsen sich regten.

Ein Vogel schrie auf. Jim erschrak.


Wolkenschatten jagten sie in blinder Flucht bis an den Stadtrand. Von da aus rannten die beiden Jungen von ganz allein weiter.

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