Dreißigstes Kapitel



Es hörte zu regnen auf.

Das Dach war sauber.


Sie ließen den Schlauch davonschnellen und tausend Meilen tiefer ins nachtfeuchte Gras plumpsen.

Jenseits der Stadt zögerte der Ballon immer noch zwischen finsterer Mitternacht und vielversprechender, erhoffter Morgensonne.

"Worauf wartet sie?"


"Vielleicht riecht sie, was wir vorhaben."


Sie kletterten durch den Dachspeicher herunter und lagen bald wieder in getrennten Betten in getrennten Zimmern, nachdem sie geredet und den fiebrigen Schauder am Rücken gespürt hatten. Nun lagen sie still da und lauschten den Herzen und den Uhren, die zu rasch dem Morgen entgegentickten.

Was sie auch machen, dachte Will, wir müssen einfach schneller sein. Er wünschte sich, daß der Ballon zurückkommen möge, daß die Hexe merkte, daß sie ihr Zeichen fortgespült hatten, daß sie das Dach noch einmal markierte. Warum?

Weil...


Er starrte auf seinen Pfadfinderbogen und die Pfeile, den großen, starken Bogen, den Köcher mit spitzen Pfeilen an der Ostwand seines Zimmers.

Tut mir leid, Dad, dachte er und setzte sich lächelnd auf. Diesmal geh ich allein raus. Ich will erreichen, daß sie Tage, vielleicht Wochen nicht zurückfliegen und über uns Bericht erstatten kann.

Er nahm Bogen und Köcher von der Wand, zögerte, überlegte und drückte dann behutsam das Fenster auf. Er beugte sich hinaus. Sinnlos, laut zu schreien. Nein. Nur scharf und konzentriert denken. Die können Gedanken lesen, das weiß ich genau, sonst hätte man sie nicht geschickt; sie kann keine Gedanken lesen, aber sie fühlt die Wärme eines menschlichen Körpers, sie spürt jede Temperaturänderung, besondere Gerüche, Aufregung.

Und wenn ich auf und ab hüpfe und sie allein durch mein Gefühl wissen lasse, daß ich sie übertölpelt habe, vielleicht, vielleicht...

Vier Uhr morgens, verkündete schläfrig eine Turmuhr in einem anderen Land.

Hexe, dachte er, komm zurück!


Hexe, dachte er lauter, mit klopfendem Herzen, hörst du mich? Das Dach ist sauber! Wir machen unsern eigenen Regen. Du mußt zurückkommen und das Dach noch einmal markieren! Hexe...

Und die Hexe kam zurück!


Er fühlte, wie sich die Erde unter dem Ballon drehte.


In Ordnung, Hexe, komm nur, ich bin allein, nur der namenlose Junge, du kannst nicht meine Gedanken lesen, aber ich steh da und spuck dir mitten ins Gesicht! Und ich schrei dir zu, daß wir dir einen Streich gespielt haben, du verstehst schon, was ich so meine, also komm nur, komm! Wag es! Los, komm!

Meilen entfernt erhob sich ein zustimmender Seufzer, kam näher.

Heiliger Strohsack, dachte er plötzlich, ich will doch nicht, daß sie zu diesem Haus zurückkommt! Los! Er fuhr blitzschnell in die Kleider.

Er umklammerte seine Waffen, kletterte die im Efeu versteckten Sprossen hinunter, stapfte durchs nasse Gras.

Hexe! Hier! Er rannte hierhin und – dorthin, er hinterließ Spuren und fühlte sich auf verrückte Weise wohl, wild wie ein Hase, der an einer geheimnisvollen Wurzel, giftig-süß, geknabbert hat und nun wie toll herumhoppelt. Knie stoßen ans Kinn, Absätze zertrampeln nasses Laub. Er hüpfte über eine Hecke, in den Händen die stacheligen Waffen, im Mund Angst und Freude wie aneinanderklickende Murmeln.

Er schaute zurück. Der Ballon kam näher! Atemzug für Atemzug schob er sich näher heran, von Baum zu Baum, von Wolke zu Wolke.

Wohin will ich eigentlich, überlegte er. Warte! Das Redman-Haus! Seit Jahren unbewohnt! Nur noch zwei Häuserblocks.

Seine Füße raschelten leise im Laub, und das große Ding raschelte laut am Himmel, während das Mondlicht alles beschneite und die Sterne glitzerten.

Er hielt vor der Veranda des alten Redman-Hauses inne, eine Fackel in jeder Lunge, Blutgeschmack auf der Zunge, lautlosen Schrei auf den Lippen: Hier! Hier wohne ich!

Er fühlte, wie ein mächtiger Fluß am Himmel seinen Lauf änderte.

Gut, dachte er.


Seine Hand drehte den Türknopf des alten Hauses. O Gott, dachte er, und wenn sie nun hier drin auf mich warten?

Er öffnete die Tür zur Dunkelheit.


Staub wirbelte im Finstern auf und senkte sich wieder.

Spinnweben bebten. Sonst nichts.

Will sprang die zerfallenden Treppenstufen hinauf, immer zwei zugleich. Er kletterte über den Speicher aufs Dach hinaus, versteckte seine Waffe hinter dem Schornstein und richtete sich hoch auf.

Der Ballon senkte seinen Weidenkorb herab. Er war von einem schleimigen Grün, bemalt mit titanischen Bildern geflügelter Skorpione, uralter Phönixe, mit Rauch und Feuer und Wolken.

Hexe, dachte er, hierher!


Der feuchtkalte Schatten traf ihn wie der Flügel einer riesigen Fledermaus.

Will stürzte und reckte die Arme hoch. Der Schatten war fast wie schwarzes Fleisch, das zuschlug.

Er fiel und klammerte sich an den Schornstein.


Der Schatten senkte sich tiefer, hüllte ihn ein.


Aber plötzlich schwenkte der Wind um.


Es war kalt wie in einer Höhle unter dem Meer, in dieser Wolke.

Die Hexe zischte vor verzweifelter Enttäuschung. Der Ballon schoß in weitem Bogen in die Höhe.

Der Wind, dachte der Junge in wilder Freude. Er steht auf meiner Seite!

Nein, flieg nicht weg, dachte er. Komm zurück.


Er fürchtete, daß sie seinen Plan gewittert hatte.


Und das stimmte auch. Seine Gedanken juckten sie. Sie schnupperte, sie sog die Luft ein. Er sah, wie ihre Fingernägel die Luft ankratzten und betasteten, als sei sie Wachs, auf dem sie irgendwelche Formen suchte. Sie streckte die Hände aus, die Handflächen nach unten, als sei er ein Ofen, der irgendwo mit kleiner Flamme in den unteren Bereichen der Welt brannte, und sie wollte sich die Hände daran wärmen. Als der Korb sich wie ein Pendel in die Lüfte schwang, sah er ihre blinden, zugenähten Augen, die moosbedeckten Ohren, den fahlen, aprikosenfarbenen Mund, der die hindurchstreichende Luft mumifizierte, um zu schmecken, was an seinem Plan, seinen Gedanken nicht stimmte. Er war zu gut, zu selten, zu fein, zu wirklich, um wahr zu sein! Natürlich wußte sie das!

Und da sie es wußte, hielt sie den Atem an.


Dadurch dehnte sich der Ballon, in der Mitte zwischen Einatmen und Ausatmen.

Nun atmete die Hexe ganz behutsam, probeweise, tastend ein. Der Ballon wurde schwerer und sank.

Ausatmen. Das Luftgefährt wurde vom schweren Dampf befreit, es stieg!

Und nun das Warten. Das Anhalten ihres feuchten, stickigen Atems in ihrem Kinderleib.

Will machte ihr eine lange Nase.


Sie sog die Luft ein. Das Gewicht dieses einen Atemzugs ließ den Ballon absinken.

Näher, dachte er.


Aber sie steuerte ihr Gefährt vorsichtig im Kreise, weil sie das aus seinen Poren strömende Adrenalin schmeckte.

Er drehte sich im Kreise, folgte dem Ballon mit den Blicken, immer im Kreise. Du, dachte er, du willst, daß ich seekrank werde! Immer herumdrehen willst du mich, wie? Mich schwindlig machen?

Nur eines konnte er noch versuchen.


Er stand mit dem Rücken zum Ballon und rührte sich nicht.

Hexe, dachte er, da kannst du doch nicht widerstehen.


Er spürte das unhörbare Geräusch der schleimgrünen Wolke, die angehaltene, säuerlich riechende Luft, das Quietschen im Weidenkorb, als der Schatten seine Beine kühlte, sein Rückgrat und seinen Nacken.

Näher!


Die Hexe sog Luft ein, Gewicht, nächtliche Last, Ballast aus sternenkaltem Wind.

Näher!


Ein elefantengroßer Schatten strich ihm über die Ohren.

Er drückte seine Waffe an sich.


Der Schatten hüllte ihn ein.


Eine Spinne huschte über sein Haar – ihre Hand?


Er unterdrückte einen Schrei und fuhr herum.


Die Hexe lehnte sich über den Rand des Korbes, kaum einen Fußbreit entfernt.

Er bückte sich. Griff zu.


Die Hexe stieß kreischend den Atem aus, als sie roch, fühlte, wußte, was er da in der Hand hielt.

Entsetzt reagierte sie, holte tief Luft, sog Gewicht ein, belastete den Ballon. Er kratzte übers Dach.

Will spannte die Sehne, lud sie mit Vernichtung.


Der Bogen zerbrach in zwei Stücke. Er starrte auf den nicht verschossenen Pfeil in seiner Hand.

Die Hexe atmete triumphierend auf. Es war ein Seufzer der Erleichterung.

Der Ballon schwang sich empor. Der trockene, raschelnde, beladene Weidenkorb traf ihn.

Wieder schrie die Hexe in irrem Triumph auf.

Will klammerte sich mit der freien Hand an den Rand des Weidenkorbes, holte weit aus und schleuderte mit aller Kraft die steinerne Pfeilspitze hinauf ins wabbelige Fleisch des Ballons.

Die Hexe schnappte nach Luft. Sie krallte nach seinem Gesicht.

Der Pfeil schien eine Stunde unterwegs zu sein. Dann ritzte seine Spitze ein kleines Loch in den Ballon. Der Schaft sank rasch und tief ein wie in einen weichen grünen Käse. Der Riß verbreiterte sich von selbst über die ganze Ballonhülle wie das gigantische Lächeln, das sich über eine riesige Birne ausbreitet. Die blinde Hexe brabbelte, ächzte, zerbiß sich die Lippen, schrie schrillen Protest, und Will hielt sich fest, die Hände um Weidengeflecht geklammert, mit den Beinen zappelnd, während der Ballon seufzte, zischte, gurgelte, den eigenen, verströmenden Tod beklagte, während gruftkühle Luft entwich, der Atemzug eines Drachen, und der Korb vom Rückstoß hochgewirbelt wurde.

Will ließ los. Raum und Luft umsausten ihn. Er drehte sich um, fiel auf Dachziegel, glitt das alte, steile Dach hinab zur Regenrinne; mit den Füßen voran tauchte er weiter hinein ins Leere, schrie, klammerte sich an die Dachrinne, hielt sich fest und fühlte, wie das Blech ächzte und nachgab. Er suchte den Himmel ab und sah den Ballon pfeifen, zischen wie ein verwundetes Tier, hochfliegen und seinen entsetzten Atem in die Wolken verströmen, ein erschossenes Mammut, das nicht sterben will und in schrecklichen Krämpfen seinen stinkenden Atem aushustet.

Alles geschah in einem Augenblick. Dann fiel Will ins Nichts und hatte nicht einmal Zeit, für den Baum dankbar zu sein, der ihn aufnahm, einbettete, kratzte, ihm die Haut aufriß, aber seinen Sturz mit der Matratze seiner Äste, Zweige, seines Laubs dämpfte. Wie ein Papierdrache hing er da, das Gesicht nach oben, und hörte dem Mond zugewandt die letzten Klagen der Hexe vertönen, während der Ballon sie in Spiralen wegriß, fort von dem Haus, fort von der Straße, der Stadt, in unmenschlichem Stöhnen.

Das breite Lächeln des Ballons, der breite Riß umfaßte nun alles, als er im Delirium hinging, um auf der Wiese zu sterben, von der er aufgestiegen war, niedersinkend zwischen die unwissenden, schlafenden, nichtsahnenden Häuser.

Lange Zeit konnte sich Will nicht regen. Er hing in den Zweigen zwischen Himmel und Erde, hatte Angst, sich zu bewegen und unten auf dem schwarzen Boden zu zerschellen, und wartete ab, bis sich der Schmiedehammer in seinem Schädel beruhigte.

Das Pochen seines Herzens konnte ihn schon losreißen, niederstürzen lassen, aber er war doch froh, es zu hören, weil er so wußte, daß er noch lebte.

Als er sich endlich beruhigt hatte, sammelte er seine Glieder zusammen, suchte sorgfältig nach einem Gebet und kletterte den Baum hinab.

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