Vierzigstes Kapitel



Können sie...", begann Jim zögernd, "ich meine... kaufen sie... kaufen sie Seelen?"

"Warum kaufen, wenn man sie umsonst kriegen kann?" antwortete Mr. Halloway. "Die meisten Menschen sind doch begierig nach einer Gelegenheit, alles für nichts aufzugeben. Mit nichts anderem gehen wir so nachlässig um wie mit unseren unsterblichen Seelen. Außerdem deutest du damit an, daß da draußen der Teufel sei. Ich sage aber nur, es ist eine Art Kreatur, die es gelernt hat, von Seelen zu leben – es sind nicht die Seelen selbst. Das hat mich an den alten Mythen immer gestört. Ich habe mich gefragt: Wozu braucht Mephistopheles eine Seele? Was macht er damit, wenn er sie kriegt, was nützt sie ihm? Macht Platz, ich lege jetzt meine eigene Theorie auf den Tisch! Diese Kreaturen brauchen das Leuchtgas aus den Seelen, die nachts keinen Schlaf finden und am Tage wegen alter Sünden fiebern. Eine tote Seele läßt sich nicht entzünden. Aber eine lebende, zerquälte Seele, heiß von Selbstanklage – ja, das ist das Richtige für solche, wie die sind!

Woher ich das weiß? Ich halte die Augen offen. Der Zirkus ist wie Menschen – nur menschlicher. Ein Mann und eine Frau gehen nicht voneinander, sie bringen einander nicht um, sondern sie martern einander ein Leben lang, reißen sich die Haare, die Fingernägel einzeln aus, und die Qual des einen ist dem anderen das Narkotikum, das ein Leben erst lebenswert macht. Der Zirkus spürt von Magengeschwüren geplagte Egos aus meilenweiter Entfernung auf und fliegt herbei, um Hand an die Schmerzen zu legen. Er riecht Jungen, die sich damit abquälen, Männer zu werden, und die dabei schmerzen wie große dumme Weisheitszähne aus zwanzigtausend Meilen Entfernung, einen in Winternacht gebetteten Sommer. Er fühlt die Schwermut alternder Männer, wie ich einer bin, die sich nutzlos nach längst verlorenen Augustnachmittagen sehnen. Not, Armut, Sehnsucht – wir verbrennen sie in unserem Lebenssaft, oxydieren sie in unseren Seelen, stoßen einen Strom davon aus Lippen, Nasen, Augen und Ohren, senden mit Antennenfingern über Kurz-oder Langwelle, weiß Gott was, aber die Herren der Mißgeburten spüren das Jucken und kommen angerannt, um zu kratzen. Die Reise ist weit und leicht. An jedem Kreuzweg stehen genug Menschen bereit, die ihnen gern eimerweise Schmerzen als Treibstoff geben. Vielleicht bleibt der Zirkus so am Leben. Er existiert von den Sünden, die wir einander antun, vom Gift unserer schrecklichsten Reue."

Charles Halloway schnaubte.


"Du liebe Zeit, wieviel hab ich in den letzten zehn Minuten laut gesagt, wieviel nur gedacht?"

"Sie haben eine Menge geredet", sagte Jim.


"Verdammt, aber in welcher Sprache?" rief Charles Halloway, denn plötzlich hatte er den Eindruck, daß er auch nicht mehr getan hatte als in anderen Nächten, da er allein in der Bibliothek herumgelaufen war und seine Gedanken den langen Gängen mitgeteilt hatte, die sie ihm als Echo einmal zurückwarfen und sie dann im Nichts verschwinden ließen. Sein Leben lang hatte er Bücher geschrieben, geschrieben in die gewaltigen Räume gewaltiger Gebäude, und sie waren zu den Fenstern hinausgeflogen. Nun kam ihm alles wie ein Feuerwerk vor, das nur wegen der Farbe, wegen des Klanges, des prächtigen Wortbaus abgebrannt wurde, um auf die Jungen Eindruck zu machen und ihm selbst zu schmeicheln, das aber keinen Eindruck hinterließ, nachdem Farbe und Ton vergangen waren. Nur eine Übung im Monolog. Verlegen kam er näher.

"Wieviel davon ist wohl angekommen? Jeder fünfte Satz? Oder zwei Sätze von acht?"

"Drei von tausend", sagte Will.


Charles Halloway konnte nicht anders, er lachte und seufzte zugleich.

Dann warf Jim ein: "Ist es... ist es der... Tod?"


"Der Zirkus?" Der alte Mann entzündete seine Pfeife, blies den Rauch aus und sah ihm nach. "Nein. Aber ich glaube, er gebraucht den Tod als Drohung. Der Tod existiert nicht. Es hat ihn nie gegeben, es wird ihn nie geben. Aber wir haben von ihm so viele Bilder gemalt, all die Jahre hindurch, haben versucht, ihn festzuhalten, zu verstehen, daß wir ihn als Wesenheit ansehen, seltsam lebendig und gierig. Aber er ist nichts weiter als eine stehengebliebene Uhr, ein Verlust, ein Ende, Dunkelheit.

Nichts. Und der Zirkus ist klug genug zu wissen, daß wir uns vor dem Nichts mehr fürchten als vor dem Etwas.

Gegen ein Etwas kann man kämpfen. Aber... das Nichts? Wo trifft man das? Hat es ein Herz, eine Seele, einen Hintern, einen Verstand? Nein, nein! So schüttet uns der Zirkus nur einen großen Becher voller Nichts hin und schnappt uns, wenn wir vor Angst auf den Rücken fallen.

Oh, er zeigt uns schon etwas, das zu nichts führen könnte! Die glitzernden Spiegel da draußen auf der Festwiese, das ist schon etwas! Etwas Seltenes. Genug, um eine Seele aus dem Sattel zu werfen. Es ist ein Tiefschlag, wenn man sich selbst nach neunzig Jahren sieht und von einem der Dunst der Ewigkeit aufsteigt wie der Dampf von Trockeneis. Dann, wenn du steifgefroren bist, spielen sie dir diese liebliche, zu Herzen gehende Musik vor, die nach frisch gewaschenen Kleidern riecht, flatternd auf einer Leine im Mai, die klingt, wie wenn Heuhaufen in Weinbergen liegen, eine Melodie von blauem Himmel und Sommernacht – bis in deinem Kopf Trommeln dröhnen, die wie Vollmonde aussehen und um die Zirkusorgel kreisen. Wie einfach. Herr im Himmel, wie ich ihre einfache, direkte Art bewundere! Man braucht nur einen alten Mann mit Spiegeln zu schlagen und zuzusehen, wie seine Stücke in einem Puzzle von vielen Eisbrocken zu Boden fallen – und nur der Zirkus kann sie wieder zusammensetzen? Wie? Sie lassen dich zu den Klängen eines Walzers auf dem Karussell rückwärts fahren. Aber sie sind vorsichtig und sagen den Leuten, die zu ihrer Musik Karussell fahren, kein Wort davon."

"Wovon?" fragte Jim.


"Nun, daß du in der einen Gestalt ein übler Sünder bist, wenn du es in der anderen Gestalt warst. Sie ändern die Größe, aber damit verändern sie nicht das Gehirn. Wenn ich dich morgen in einen Fünfundzwanzigjährigen verwandelte, Jim, dann wären deine Gedanken immer noch die eines Jungen, und man würde es merken. Oder wenn sie mich in diesem Augenblick in einen zehnjährigen Jungen verwandelten, so wäre mein Verstand immer noch fünfzig, und dieser Junge würde sich seltsamer, unheimlicher verhalten, als jemals zuvor sich ein Junge benommen hat. Aber noch auf andere Weise ist die Zeit aus den Fugen geraten..."

"Wie denn?" fragte Will.


"Wenn ich Junge würde, so wären alle meine Freunde doch immer noch fünfzig oder sechzig, nicht wahr? Ich wäre für ewig von ihnen abgeschnitten, weil ich ihnen doch nicht sagen könnte, was ich angestellt habe. Sie wären dagegen. Sie würden mich hassen. Ihre Interessen wären nicht mehr meine Interessen, das ist doch klar?

Besonders ihre Sorgen. Krankheit und Tod für sie, für mich ein neues Leben. Wo auf dieser Welt ist also ein Platz für einen Mann, der wie zwanzig aussieht, in Wirklichkeit aber älter ist als Methusalem? Welcher Mensch könnte den Schock einer solchen Verwandlung überstehen? Die Zirkusleute sagen dir nichts davon, daß das schlimmer ist als der Schock nach einer Operation – aber, bei Gott, es ist schlimmer!

Also, was geschieht? Du bekommst dein Fett: Irrsinn.

Auf der einen Seite die veränderte persönliche Umgebung, die veränderte Gestalt. Auf der anderen das Schuldgefühl, weil man die Frau, den Mann, die Freunde wie alle Menschen sterben läßt – Herr im Himmel, allein darüber müßte ein Mensch wahnsinnig werden. Darausentstehen neue Ängste, neue Qualen, an denen sich der Zirkus mästen kann. Wenn dir der grüne Dunst aus dem zermarterten Gewissen aufsteigt, so sagst du, daß du dahin zurückkehren willst, woher du gekommen bist. Die Zirkusleute hören dir zu und nicken. Ja, versprechen sie dir, wenn du brav bist, dann geben sie dir die fünfzig Jahre – oder wieviel es auch sei – wieder zurück. Allein von dem Versprechen, das richtige Alter wiederherzustellen, reist der Zirkus durch die Welt. Die Schauzelte stecken voller Verrückter, die nur darauf warten, aus der Sklaverei entrinnen zu können.

Unterdessen reisen sie mit dem Zirkus und liefern ihm den Brennstoff, den er braucht."

Will murmelte etwas vor sich hin.


"Was?"


"Miss Foley", sagte Will traurig. "Die arme Miss Foley, die haben sie jetzt, wie du gerade sagst. Als sie hatte, was sie wollte, da fürchtete sie sich davor und wollte es nicht mehr. Was hat sie doch geweint, Dad, so furchtbar geweint. Sicher versprechen sie ihr gerade, daß sie wieder fünfzig werden kann, wenn sie will – irgendwann einmal. Ich frage mich, was sie gerade mit ihr machen. Ach, Dad, Jim..."

"Gott sei ihr gnädig." Wills Vater streckte schwerfällig die Hand aus und zeichnete mit dem Finger die Zirkusbilder nach. "Vermutlich hat man sie zu den anderen Mißgeburten gesteckt. Und wer sind die?

Sünder, die in der Hoffnung auf Erlösung so weit und so lange um die Welt gefahren sind, daß sie schon die Gestalt ihrer Sünden angenommen haben? Der Dicke, was war er einst? Wenn ich den Sinn für schwarzen Humor richtig deute, den die Zirkusleute da beweisen, die Art, wie sie zu wägen belieben, so würde ich sagen, daß er früher nach jeder Art von Lust gierte. Jedenfalls lebt er nun im Zirkus und platzt fast aus seiner Haut. Der Dünne, das Skelett, oder wie immer sie ihn nennen – hat er vielleicht Frau und Kinder verhungern lassen, körperlich wie auch geistig? Der Zwerg? War es dein Freund, der Blitzableiterverkäufer, oder war er es nicht?

Immer unterwegs, nie zur Ruhe kommend, ließ er es niemals darauf ankommen und rannte stets vor den Gewittern her; ja, er hat wohl Blitzableiter verkauft, aber andere hat er dem Unwetter preisgegeben. Deshalb ist er, als er auf die Freifahrt hereinfiel, vielleicht absichtlich, vielleicht versehentlich, nicht in einen Jungen verwandelt worden, sondern in einen grotesken Zwerg. Die wahrsagende Zigeunerin, die Staubhexe? Vielleicht eine Frau, die stets für morgen lebte und das Heute dahingehen ließ wie ich. Nun wird sie dafür bestraft, indem sie anderen Leuten ihren wilden Aufstieg und Untergang voraussagen muß. Sag mir, Junge, du hast sie doch aus der Nähe gesehen, du mußt es wissen... Der Spitzkopf? Der Schafhirt? Der Feuerfresser? Die siamesischen Zwillinge, mein Gott, wer waren sie? Wir werden es nie erfahren. Sie werden es uns niemals sagen.

In der letzten halben Stunde haben wir nur Vermutungen geäußert, über viele Dinge, und wahrscheinlich zumeist falsche Vermutungen. Jetzt brauchen wir einen Plan.

Wohin gehen wir von hier aus?"

Charles Halloway breitete einen Stadtplan aus und zeichnete die Zirkuswiese mit Blaustift ein.

"Bleiben wir verborgen? Nein. Wenn's um Miss Foley und so viele andere geht, können wir das nicht. Also, wie greifen wir sie an, ohne daß es uns vorher selbst erwischt? Welche Waffen..."

"Silberne Kugeln!" rief Will plötzlich.


"Aber nein!" Jim schnaubte verächtlich. "Das sind doch keine Vampire!"

"Wenn ich katholisch wäre, würde ich mir Weihwasser aus der Kirche holen..."

"Unsinn!" sagte Jim. "Zeug fürs Kino. Im Leben gibt's so etwas nicht. Hab ich recht, Mr. Halloway?"

"Hoffentlich, mein Junge."


Wills Augen blitzten wütend. "Okay. Dann gibt's nur eins: Wir gehen mit einem Kanister Kerosin und ein paar Streichhölzern zur Festwiese und..."

"Das ist verboten!" rief Jim.


"Das sagst ausgerechnet du!"


"Halt die Luft an!"


Genau in diesem Augenblick erstarrten sie alle.

Flüstern.

Ein ganz schwacher Windhauch schwebte durch die Bibliothek, die Flure entlang, in den kleinen Raum.

"Der Haupteingang", flüsterte Jim. "Den hat gerade jemand aufgemacht."

Weit entfernt ein leises Klicken. Die Zugluft, die für einen Augenblick die Hosenaufschläge und das schüttere Haar des Mannes bewegt hatte, hörte auf.

"Jemand hat sie gerade zugemacht."

Schweigen.


In der weitläufigen, dunklen Bibliothek mit ihren Labyrinthen und den vielen schlafenden Büchern war nichts mehr.

"Es ist aber jemand hier drinnen!"


Die beiden Jungen richteten sich halb auf und stießen lautlose Schreie aus.

"Verstecken."


"Wir können dich doch nicht allein..."


"Versteckt euch."


Die Jungen rannten davon und verschwanden im dunklen Wirrwarr.

Charles Halloway zwang sich dazu, langsam einzuatmen, auszuatmen, dann setzte er sich steif hin, den Blick auf die vergilbte Zeitung gerichtet. Er wartete, wartete – wartete wieder...

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