Zehntes Kapitel



Kurz nach Mitternacht.

Schleppende Schritte.

Der Blitzableiterverkäufer kam mit zufriedener Miene die menschenleere Straße entlang, die Ledertasche fast leer. An der Ecke blieb er stehen.


Weiche weiße Nachtfalter klopften leise an ein Fenster und schauten hinein.


Im Schaufenster lag wie ein Totenschiff aus sternenfarbenem Glas auf zwei Sägeböcken ein Eisklotz, groß genug, um dem Ring eines Riesen als Edelstein zu dienen.

In diesen Eisblock war die schönste Frau der Welt eingeschlossen.

Das Lächeln wich vom Gesicht des Blitzableiterverkäufers.

Da lag diese Frau in der traumhaften Kälte des Eises, wie jemand, der vor Jahrtausenden in einer Lawine entschlafen ist, ewig jung. Sie war schön wie der Morgen und frisch wie Blumen, lieblich wie ein Mädchen, wenn ein Mann die Augen schließt und es in der vollkommenen Schönheit einer Gemme festhält.

Erst jetzt wurde dem Blitzableiterverkäufer bewußt, daß er den Atem angehalten hatte.

Vor langer, langer Zeit, in der marmornen Pracht von Rom und Florenz, da hatte er solche Frauen gesehen, gebannt in Stein und nicht in Eis. Vor langer Zeit wanderte er einmal durch den Louvre und fand solche Frauen, in sommerlichem Licht gebadet, in Farben verewigt. Vor langer Zeit, er war damals noch ein Junge, hatte er sich einmal in einem Kino durch die kühlen Gänge hinter der Leinwand gezwängt und den Blick gehoben. Turmhoch über sich hatte er auf der Leinwand das Antlitz einer Frau erblickt, wie er noch nie eines gesehen hatte, riesig und schön, milchweiß und mondklar, und er war erstarrt hinter der Bühne stehengeblieben, im Schatten der Lippen, der vogelgleich flatternden Wimpern, übergossen von der schneeigen Todesblässe der Wangen.

Aus vergangenen Jahren flossen Bilder zusammen und fanden ihre Verkörperung da in diesem Eisblock.

Welche Farbe hatte ihr Haar?

Es schimmerte weißblond, aber es konnte jede Farbe annehmen, wenn es vom Eise befreit war.

Wie groß war sie?

Gut möglich, daß die Lichtbrechung des Eises sie größer oder kleiner erscheinen ließ, je nachdem, ob man vor dem Fenster des leeren Ladens einen Schritt nach dieser oder jener Seite machte. Samtweich pochten die Nachtfalter ans Glas.

Nicht wichtig.

Der Blitzableiterverkäufer erbebte. Er wußte etwas ganz Ungewöhnliches: Wenn sich ihre Lider durch ein Wunder in dem Saphir öffnen sollten und sie ihn ansah, dann kannte er die Farbe ihrer Augen.

Er kannte die Farbe ihrer Augen.

Wenn nun jemand den leerstehenden Laden betrat... Wenn jemand die Hand ausstreckte, würde die Wärme das Eis schmelzen?

Der Blitzableiterverkäufer blieb eine Weile regungslos stehen, dann schloß er rasch die Augen.

Er stieß die aufgestaute Luft aus.

Sie schmeckte warm wie der Sommer auf seinen Lippen.

Seine Hand berührte die Tür. Sie ließ sich öffnen. Arktischkalte Luft umwehte ihn. Er trat ein.

Die Tür fiel zu.

Helle Nachtfalter tappten gleich Schneeflocken ans Fenster.

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