Zweiunddreißigstes Kapitel



Im Morgengrauen rollte ein schweres Donnergrollen funkensprühend über die steinigen Himmel. Sanft fiel der Regen auf die Kuppeln der Stadt, sprudelte aus den Traufen und flüsterte mit seltsamen unterseeischen Sprachen unter den Fenstern, hinter denen Jim und Will unruhig träumten. Sie glitten aus einem Traum in den anderen, doch alle waren aus demselben dunklen, stockigen Tuch geschneidert.

Im rauschenden Trommelwirbel ereignete sich noch etwas.

Draußen auf der durchweichten Zirkuswiese erwachten plötzlich die Karussells zum Leben. Aus der Zirkusorgel dampfte Musik.

Vielleicht hörte es nur ein Mensch in der Stadt und erriet, daß das Karussell wieder lief.

Die Tür zu Miss Foleys Haus öffnete sich und fiel wieder ins Schloß. Ihre Schritte eilten die Straße entlang.

Dann fiel prasselnd der Regen auf ein Land, das im irren Tanz der Blitze einmal auftauchte, dann wieder für immer untertauchte.

Bei Jim und Will klopfte der Regen gegen die Frühstücksfenster. Es wurde ruhig geredet, dann geschrien, dann wieder ruhig geredet.

Um neun Uhr fünfzehn schlurfte Jim hinaus ins Sonntagswetter. Er trug Regenmantel, Kapuze und Stiefel.

Er stand da und blickte zum Dach hinauf, wo die riesige Schneckenspur weggewaschen war. Dann starrte er so lange Wills Tür an, bis sie sich tatsächlich öffnete.

Will tauchte auf. Hinter ihm erklang die Stimme seines Vaters: "Soll ich mitkommen?" Will schüttelte entschlossen den Kopf.

Feierlich marschierten die beiden Jungen zum Polizeirevier. Die Himmel wuschen sie, und sie würden reden. Dann zu Miss Foley, wo sie sich noch einmal entschuldigen wollten. Aber im Augenblick schlenderten sie nur so dahin, die Hände in den Hosentaschen, und dachten an die erschreckenden Rätsel, die der gestrige Tag ihnen aufgegeben hatte. Jim unterbrach schließlich das Schweigen.

"Gestern abend, nachdem wir das Dach gewaschen hatten und ich endlich einschlief, da träumte ich von einer Beerdigung. Die Leute kamen die Hauptstraße entlang wie zu einem Besuch."

"Oder vielleicht – zu einer Parade?"


"Genau! Tausend Leute, alle in schwarzen Mänteln, schwarzen Hüten, schwarzen Schuhen, und ein Sarg, mindestens fünfzehn Meter lang."

"Schauderhaft!"


"Wirklich! Gibt es etwas, das fünfzehn Meter lang ist und das man begraben muß, dachte ich, und dann lief ich im Traum hin und schaute nach. – Lach nicht!"

"Mir kommt das gar nicht komisch vor, Jim."


"In dem langen Sarg lag ein großes verrunzeltes Ding wie eine Pflaume oder eine riesige Weintraube, die in der Sonne gelegen hat. Wie eine gewaltige Haut oder der sterbende Kopf eines Riesen."

"Der Ballon!"


"He!" Jim blieb stehen. "Du mußt auch geträumt haben! Aber – Ballons können doch nicht sterben, oder?"

Will schwieg.


"Und man veranstaltet für sie doch keine Beerdigung, oder?"

"Jim, ich..."


"Der verflixte Ballon hat dagelegen wie ein Pferd, aus dem jemand die Luft abgelassen hat..,"

"Jim, letzte Nacht..."


"Schwarze Federn wehten, die Musiker trommelten mit großen schwarzen Knochen auf großen gedämpften, schwarzsamtenen Trommeln – Junge, Junge! Und zu allem muß ich dann heute früh aufstehen und Mom alles sagen. Nun, alles nicht, aber immer noch genug, daß sie ein bißchen geschrien hat und dann noch'n bißchen.

Frauen können wirklich schreien, wie? Sie hat mich ihren kriminell veranlagten Sohn genannt, aber – wir haben doch nichts Böses getan, oder?"

"Jemand ist beinahe auf dem Karussell gefahren."


Jim ging im Regen weiter. "Ich glaube, davon hab ich jetzt genug."

"Du glaubst? Nach allem, was gewesen ist? Mein Gott, nun will ich dir was sagen! Die Hexe, Jim, und der Ballon. Letzte Nacht, ich war ganz allein..."

Aber er hatte keine Zeit, ihm alles zu erzählen.


Keine Zeit, ihm zu berichten, wie er den Ballon durchlöchert hatte, bis er davonwirbelte, um einsam irgendwo auf dem Land zu sterben und im Sinken die alte Frau mit in die Tiefe zu reißen.

Keine Zeit, denn wie sie so durch den Regen gingen, hörten sie ein traurig klingendes Geräusch.

Sie kamen an einem unbebauten Grundstück vorbei, auf dem weit von der Straße entfernt eine gewaltige Eiche stand. Darunter lagen regennasse Schatten, und genau daher kam das Geräusch.

"Jim", sagte Will. "Da weint jemand."


"Nein." Jim ging weiter.


"Dort ist ein kleines Mädchen."


"Nein." Jim wollte nicht hinsehen. "Was sollte ein Mädchen bei dem Regen unter dem Baum machen? Komm weiter!"

"Jim! Du hörst das doch auch!"


"Nein. Ich höre nichts. Gar nichts!"


Aber dann wurde das Weinen lauter. Es wehte herüber über totes Gras, flatterte wie ein trauriger Vogel durch den Regen, und Jim mußte sich umwenden, denn Will marschierte schon quer über den Schutt des verlassenen Grundstücks.

"Jim – die Stimme – die kenn ich doch."

"Will, geh nicht hin!"

Und Jim regte sich nicht. Aber Will stolperte weiter, bis er unter den Schatten des tropfenden Baumes trat, wo der Himmel niederregnete und sich in Herbstlaub verlor, wo er schließlich in schimmernden Striemen an Zweigen und Stamm herunterrieselte. Dort kauerte ein kleines Mädchen, das Gesicht in ihren Händen, und sie weinte, als sei die Stadt vom Erdboden verschwunden, mitsamt allen Menschen, und als hätte sie sich im furchtbaren Wald verirrt.

Endlich schob sich auch Jim heran, blieb am Rand der Schatten stehen und fragte: "Wer ist es denn?"

"Das weiß ich nicht." Doch Will spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Etwas in ihm ahnte es.

"Das ist doch nicht etwa Jenny Holdridge, wie?"


"Nein."

"Jane Franklin?"


"Nein." Seine Zunge war wie betäubt, sie bewegte sich mühsam zwischen gefühllosen Lippen. "Nein..."

Das kleine Mädchen weinte, fühlte die Nähe der beiden Jungen, blickte aber nicht auf.

"Ich... ich... helft mir doch... keiner... keiner will mir helfen. Mir... mir... ich mag das nicht..."

Als sie dann ihre Kräfte sammelte, sich etwas beruhigt hatte und das Gesicht hob, waren ihre Augen vom Weinen ganz verschwollen. Sie erschrak, als sie die beiden sah, dann war sie verwundert.

"Jim! Will! Gott – ihr seid das!"


Sie packte Jims Hand. Er zuckte schreiend zurück.


"Nein! Ich kenn dich nicht, laß los!"


"Will, hilf mir, Jim, geh doch nicht weg, verlaß mich nicht!" keuchte sie jämmerlich. Neue Tränen quollen ihr aus den Augen.

"Nein, nein, laß das!" schrie Jim und riß sich los. Er fiel hin, sprang wieder auf die Beine, eine Faust wie zum Schlag erhoben. Zitternd hielt er inne, und die Hand sank ihm herab. "Ach, Will! Will, verschwinden wir von hier. O Gott, was tut mir das leid."

Das kleine Mädchen, zurückgestoßen in den Schatten des Baums, starrte die beiden aus weit aufgerissenen Augen an, stöhnte, verschränkte eng die Arme und begann, sich selbst tröstend wie ein Baby zu schaukeln.

Bald fing sie vielleicht zu singen an und stand dann allein da unter dem dunklen Baum; sie konnte nicht mehr aufhören, und keiner konnte in ihr Lied einstimmen.

"Jemand muß mir helfen... jemand muß ihr helfen...", murmelte sie in einem Ton, als trauerte sie um jemanden.

"Jemand muß ihr helfen... aber keiner tut's... keiner hat ihr geholfen... ihr wenigstens, wenn schon nicht mir... schrecklich..."

"Sie erkennt uns", sagte Will verzagt, halb zu ihr niedergebeugt, halb zu Jim umgewandt. "Ich kann sie doch nicht allein lassen."

"Lügen!" sagte Jim wütend. "Lügen! Sie kennt uns gar nicht! Hab sie noch nie gesehen."

"Sie ist fort, bringt sie zurück, sie ist fort, bringt sie zurück", murmelte das Mädchen mit geschlossenen Augen.

"Wen sollen wir suchen?" Will stützte sich auf ein Knie, wagte es, ihre Hand zu berühren. Sie packte ihn, aber im gleichen Augenblick sah sie ihren Fehler ein, denn er versuchte sich loszureißen. Sie ließ ihn und weinte wieder, während Jim wartete, draußen im toten Gras, ihn rief, zum Gehen aufforderte. Er tat es ungern, aber sie mußten gehen.

"Ach, sie ist verloren!" schluchzte das kleine Mädchen.


"Sie ist dorthin gelaufen und nicht wiedergekommen.

Sucht sie, bitte, bitte..."

Zitternd berührte Will ihre Wange. "Na, na", sagte er leise, "wird schon wieder gut werden. Ich hole Hilfe."

Sie schlug die Augen auf. "Ich bin's, Will Halloway. Ehrenwort, wir kommen wieder. Zehn Minuten. Aber nicht weggehen!" Sie schüttelte den Kopf. "Du... Sie warten hier unter dem Baum auf uns?" Sie nickte schweigend. Er stand auf. Schon diese kleine Bewegung jagte ihr Angst ein, sie zuckte zurück. Er blieb ruhig stehen, sah sie an und sagte: "Ich weiß, wer Sie sind." Er sah, wie sich die vertrauten Augen in dem verstörten Gesicht weit öffneten. Er sah das lange, regennasse schwarze Haar, die bleichen Wangen. "Ich weiß, wer Sie sind. Aber ich muß es nachprüfen."

"Wer wird's mir schon glauben?" wimmerte sie.


"Ich", sagte Will.


Sie lehnte sich an den Baumstamm, die Hände im Schoß gefaltet, sehr klein, sehr weiß, sehr verloren.

"Kann ich jetzt gehen?" fragte er.


Sie nickte.


Da ging er weg.


Am Rand des leeren Grundstücks stampfte Jim mit dem Fuß auf, ungläubig, beinahe hysterisch vor Wut und Empörung.

"Das kann nicht sein!"


"Es ist aber so", sagte Will. "Die Augen. Daran kann man sie erkennen. Genau wie's bei Mr. Cooger und dem bösen Jungen war. Es gibt nur eine Möglichkeit, sich Gewißheit zu verschaffen. Komm!"

Er führte Jim quer durch die Stadt, bis sie vor Miss Foleys Haus standen und im fahlen Licht des Morgens zu den unbeleuchteten Fenstern emporblickten. Dann gingen sie die Stufen der Veranda hinauf und läuteten – zweimal, dreimal.

Schweigen.


Ganz langsam, leise wimmernd, schwang die Tür in den Angeln auf.

"Miss Foley?" rief Jim leise.


Irgendwo im Haus rannen die Schatten von Regentropfen über ferne Fensterscheiben.

"Miss Foley..."


Sie standen vor dem Glasperlenvorhang im Flur und lauschten dem Trommeln des Regens auf dem Dach.

"Miss Foley!" Lauter.


Aber nur die Mäuse in den Wänden, geborgen in ihren kuscheligen Nestern, machten leise, kratzende Geräusche wie ein Griffel auf einer Schiefertafel.

"Sie ist einkaufen gegangen", sagte Jim.


"Nein", antwortete Will. "Wir wissen doch, wo sie ist."

"Miss Foley, ich weiß, daß Sie hier sind!" schrie Jim plötzlich zornig und rannte die Treppe hinauf. "Los, kommen Sie raus, zeigen Sie sich!"

Will wartete, während Jim suchte und dann langsam wieder herunterkam. Als er auf der untersten Stufe stand, hörten sie beide die Töne durch die offene Haustür hereinwehen, vermischt mit dem Geruch nach frischem Regen und altem Gras.

Es war die Zirkusorgel, die drüben zwischen den Hügeln den Trauermarsch rückwärts spielte.

Jim öffnete die Tür weiter und stand mitten in der Musik, wie man im Regen steht.

"Das Karussell. Sie haben es gerichtet."


Will nickte. "Sie muß die Musik gehört haben und schon früh hingegangen sein. Dann ging etwas schief.

Vielleicht war das Karussell nicht richtig repariert.

Vielleicht gibt's immer wieder solche Unfälle. Wie der Blitzableiterverkäufer, den sie ganz umgekrempelt und verrückt gemacht haben. Vielleicht mag der Zirkus solche Unfälle, hat seinen Spaß dran. Oder vielleicht haben sie ihr auch absichtlich etwas angetan. Vielleicht wollten sie mehr über uns wissen, unsere Namen, wo wir wohnen; vielleicht wollte man sie zwingen, zusammen mit ihnen etwas gegen uns zu unternehmen. Wer weiß das schon? Vielleicht ist sie mißtrauisch geworden, oder sie hat's mit der Angst gekriegt. Dann haben sie ihr einfach mehr gegeben, als sie wollte oder verlangte."

"Ich verstehe nicht..."


Aber wie er in der Tür stand, im kalten Regen, da konnte er sich Miss Foley vorstellen, wie sie sich vor dem Spiegelkabinett fürchtete, wie sie erst vor kurzem allein auf dem Zirkusplatz war, wie sie vielleicht schrie, als man ihr das antat, immer und immer und immer wieder im Kreise herum, zu viele Jahre, mehr Jahre, als sie jemals loswerden wollte, bis sie verloren und nackt und klein war und sich selbst nicht wiedererkannte; bis dann schließlich all die Jahre dahin waren und das Karussell wie das Rad beim Roulett ausrollte. Bis alles verloren war und sie nichts gewonnen hatte, keinen Ort, an dem sie Zuflucht finden, keinen Menschen, dem sie das Seltsame sagen konnte. Nichts, nichts konnte sie mehr machen – nur weinen, allein unter einem Baum, allein im Herbstregen...

Das überlegte Will. Jim überlegte es auch: "Ach, die arme, arme..."

"Wir müssen ihr helfen, Jim. Wer wird ihr denn sonst glauben? Wenn sie zu jemandem sagt: ›Ich bin Miss Foley!‹, dann sagen sie doch alle: ›Hau ab! Miss Foley ist aus der Stadt verschwunden, weg mit dir, kleines Mädchen!‹ Jim, ich wette, sie hat an diesem Morgen schon an ein Dutzend Türen geklopft, um Hilfe gebettelt, die Leute mit ihrem Heulen und ihrem Geschrei erschreckt, bis sie es dann aufgab, weglief und sich unter diesem Baum versteckte. Vielleicht wird sie sogar schon von der Polizei gesucht – aber was nutzt das? Sie ist nur ein übergeschnapptes kleines Mädchen, das heult. Man wird sie irgendwo einsperren, und dann wird sie verrückt.

Diese Zirkusleute, die wissen schon, wie man jemandem was antut, daß er nicht zurückschlagen kann! Die schütteln dich durch und verändern dich, bis dich keiner wiedererkennt, dann lassen sie dich laufen. Geh ruhig, rede, die Leute haben ja doch zu viel Angst und hören dir gar nicht erst zu. Nur wir hören zu, Jim, nur du und ich. Im Augenblick ist mir, als hätte ich gerade eine rohe, glitschige Schnecke verschluckt."

Sie warfen einen letzten Blick in die Schatten des Regens am Fenster des Salons, in dem eine Lehrerin ihnen so oft Kekse und heiße Schokolade serviert hatte. Jetzt winkten nur die Regenschleier zurück, die sich riesengroß durch die Stadt bewegten. Dann traten sie hinaus, schlossen die Tür und rannten zurück zu dem leeren Bauplatz.

"Wir müssen sie verstecken, bis wir ihr helfen können..."

"Helfen?" keuchte Jim. "Wir können ja nicht einmal uns selbst helfen!"

"Es muß irgendeine Waffe geben. Vielleicht genau vor unserer Nase, und wir sind nur zu blind..."

Sie blieben stehen.


Das Pochen ihrer Herzen wurde von einem lauteren Herzklopfen übertönt. Blechtrompeten jaulten. Posaunen schmetterten. Eine Herde von Tubas brüllte wie Elefanten, die irgend etwas aufgereizt hatte.

"Der Zirkus!" keuchte Jim. "Daran haben wir nicht gedacht! Er kann mitten in die Stadt kommen! Ein Umzug, eine Parade! Oder vielleicht die Beerdigung, die ich geträumt habe – für den Ballon"

"Das ist keine Beerdigung, und es sieht auch nur nach einem Umzug aus. In Wirklichkeit suchen sie nach uns, Jim, oder nach Miss Foley; vielleicht wollen sie sie wiederhaben. Sie können durch jede beliebige Straße ziehen, trommeln, blasen und trompeten und dabei spionieren! Jim, wir müssen sie holen, bevor..."

Er brach ab. Sie rannten einen Fußweg hinter den Häusern entlang, hielten plötzlich inne, sprangen hinter ein paar Büsche und versteckten sich.

Am anderen Ende des Weges tauchten Zirkuskapelle, Tierwagen, Clowns, Unholde und alle anderen auf – lärmend zwischen ihnen und der freien Baustelle mit der großen Eiche.

Es dauerte wohl fünf Minuten, bis der Umzug vorüber war.

Auch der Regen schien sich zu verziehen, die Wolken zogen mit. Es hörte auf zu regnen. Das Trommeln verklang. Die Jungen rannten den Weg entlang, überquerten die Straße und blieben an dem leeren Bauplatz stehen.

Unter dem Baum war kein kleines Mädchen.


Sie gingen um den Baum herum, blickten hinauf ins Geäst und wagten es nicht, einen Namen zu rufen.

Dann packte sie die Angst. Sie rannten los, sich irgendwo in der Stadt zu verstecken.

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