Vierunddreißigstes Kapitel



Vor dem Zigarrenladen stand an diesem Sonntagvormittag der hölzerne Indianer. Über den Dächern läuteten die Glocken aller Kirchen, die Töne stießen dort oben zusammen und ließen Geräusch herabregnen, da die Wolken sich verströmt hatten. Und vor dem Zigarrenladen stand der hölzerne Tscherokese mit Wassertropfen im geschnitzten Haarschopf – er merkte nichts von katholischen oder Baptistenglocken, wußte nichts vom stetigen Näherkommen sonnenheller Zymbeln, dem laut pochenden Heidenherz der Zirkuskapelle. Die hallenden Trommeln, der Altweiberschrei der Zirkusorgel, das Schattenspiel von Kreaturen, die noch viel eigentümlicher waren als er selbst, das alles berührte nicht den wilden Adlerblick seines starren Gesichts. Doch die Trommeln ließen die Kirchen erbeben und lockten ganze Jungenbanden hervor, die für jegliche Abwechslung dankbar waren, ob mild oder wild. Und als die Kirchenglocken mit ihrem metallenen Regen aufhörten, wurden aus den von Kirchenbänken steifen Gemeinden heitere Zuschauermengen, als die Zirkusparade blechschmetternd, buntsamten, löwenstolz, mammutschwer, fahnenflatternd vorüberzog.

Der Schatten des hölzernen Indianertomahawks lag genau auf dem eisernen Rost, der vor dem Zigarrenladen im Bürgersteig eingelassen war. Über dieses Gitter schritten Jahr für Jahr mit metallenem Trampeln die Leute und ließen Tonnen von Kaugummipapier, goldene Zigarrenbauchbinden, Streichhölzer, Zigarettenkippen und Kupferpennies fallen, die für immer in der Tiefe verschwanden.

Nun drängten sich hundert Füße auf dem klirrenden Rost, als die Zirkusparade, wie Tiger und Vulkane brüllend, farbenprächtig vorüberstelzte.

Unter dem eisernen Rost zitterten zwei Gestalten.


Oben öffneten sich wie bei einem großen, eigentümlichen Pfau die Augen der Mißgeburt, starrten nach links und rechts, suchten Hausdächer und Kirchturmspitzen ab, lasen die Firmenschilder des Zahnarztes und des Optikers, überprüften die Schaufenster im Warenhaus. Der Trommelwirbel ließ Fensterscheiben klirren und die Schaufensterpuppen dahinter furchtsam erbeben. Der Umzug war eine Menge heißer, unglaublich leuchtender, wilder Augen, begierig, ber die Begierde sorgsam verhüllend.

Was sie am meisten begehrten, war im Dunkeln verborgen.

Jim und Will unter dem Gitter des Zigarrenladens im Bürgersteig. Knie an Knie kauerten sie da, eng aneinandergedrückt, die Köpfe erhoben, die Augen wachsam. So saugten sie an den eigenen Atemzügen wie an eisernen Lutschstangen. Oben flatterten die Kleider der Frauen in einer kühlen Brise. Oben kippten Männer in den Himmel hinein. Die Kapelle schleuderte mit dem Gellen der Zymbeln kleine Kinder gegen die Knie ihrer Mütter.

"Da!" rief Jim. "Der Umzug! Jetzt ist er genau vor dem Zigarrenladen! Was machen wir eigentlich hier? Gehen wir!"

"Nein!" rief Will heiser und umklammerte Jims Knie.


"Natürlich halten sie hier an, wo alle Leute herumstehen.

Die kommen nie im Leben auf die Idee, uns hier zu suchen. Halt den Mund!"

Bummbumm-tamtarrara...


Das Eisengitter oben klirrte vom Schritt eines Mannes.


In der Schuhsohle hatte er abgetretene Nägel.

Dad! Will hätte fast laut aufgeschrien.


Er richtete sich auf, sank wieder zurück, biß sich auf die Lippen.

Jim sah, wie der Mann oben sich nach links und nach rechts wandte und etwas suchte, was nur einen Meter entfernt war.

Ich brauche nur die Hand auszustrecken, dachte Will.


Aber Dad eilte weiter, blaß und nervös.


Und Will spürte, wie ihm der Mut sank. Inwendig wurde er eiskalt, weißes Gelee zitterte.

Peng!


Die Jungen fuhren zusammen.


Ein ausgelaugtes Stück Kaugummi war auf einen Haufen alten Papiers neben Jims Fuß gefallen.

Oben kauerte ein fünfjähriger Junge auf dem Eisenrost und blickte traurig seinem verlorenen Kaugummi nach. Hau ab, dachte Will.

Der Junge kniete da, die Hände auf den Rost gedrückt.


Geh weiter, dachte Will.


Ihm überkam der verrückte Wunsch, den Kaugummi zu nehmen und ihn durch das eiserne Gitter hindurch dem Kleinen wieder in den Mund zu stecken.

Eine mächtige Trommel erdröhnte – dann Schweigen.


Jim und Will sahen einander an.


Jetzt hat der Zug angehalten, dachten beide gleichzeitig.

Der kleine Junge versuchte eine Hand durch das Gitter zu schieben.

Oben auf der Straße blickte Mr. Dark, der Illustrierte Mann, zurück über seinen Strom von Unholden, Käfigen, über sonnengelbe Tubas und blecherne Hörner. Er nickte.

Der Zug löste sich auf.


Die Mißgeburten huschten auf den Bürgersteig zu beiden Seiten, mischten sich in die Menge, verteilten Handzettel und sahen sich mit raschen, kristallklaren Augen um. Der Schatten des Kleinen fiel kühlend auf Wills Wange. Die Parade ist vorbei, dachte er. Jetzt fängt die Suche an.

"Sieh mal, Ma!" rief der kleine Junge. "Da unten..."



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