Achtundvierzigstes Kapitel



Ein Schuß!

Die Hexe schnappte nach Luft.


Jim im Wachsmuseum schnappte nach Luft.


Im Schlaf schnappte Will nach Luft.


Sein Vater auch.


Und Mr. Dark.


Alle Mißgeburten hielten die Luft an.


Und die Zuschauermenge.


Die Hexe schrie gellend auf.


Jim stieß zwischen den Wachspuppen die Luft aus seinen Lungen.

Auf der Bühne schrie Will sich selbst wach.


Der Illustrierte Mann gab einen wütenden Laut von sich und hob beschwörend die Hände, um alles ungeschehen zu machen.

Aber die Hexe stürzte. Sie fiel von der Tribüne. Sie fiel in den Staub.

Charles Halloway hielt die rauchende Flinte in der gesunden Hand und atmete langsam die aufgestaute Luft aus. Er spürte jedes Quentchen davon, wie es ihm über die Lippen kam. Dabei blickte er immer noch über Kimme und Korn nach der Stelle, an der eben noch die Hexe gestanden hatte.

Mr. Dark stand an der Kante der Bühne und starrte auf die schreiende Menge hinab – und auf den Grund ihrer Erregung.

"Sie ist ohnmächtig..."


"Nein, sie ist nur ausgerutscht."


"Sie ist – erschossen!"


Endlich trat Charles Halloway neben den Illustrierten Mann und sah ebenfalls hinab. Seine Miene drückte vielerlei aus: Überraschung, Bestürzung, gleichzeitig aber auch eine Spur von eigenartiger Erleichterung und Befriedigung.

Die Frau wurde aufgehoben und auf die Bretter gelegt.


Ihr Mund stand offen, auf ihrer Miene lag fast ein Ausdruck des Erkennens.

Er wußte, daß sie tot war. Im nächsten Augenblick würde es auch die Menschenmenge erfassen. Er sah zu, wie der Illustrierte Mann sie berührte, nach Leben fühlte.

Dann hob Mr. Dark ihre beiden Hände hoch, wie bei einer Puppe, die an Fäden hängt, um sie wiederzubeleben. Doch der Leib machte nicht mit.

Da reichte er einen Arm der Hexe dem Zwerg, den anderen dem Skelett. Während die Leute zurückwichen, schüttelten sie die schlaffe Gestalt in einer gespenstischen Karikatur von Wiederbelebungs-Versuchen.

"Tot."

"Aber – da ist doch keine Wunde."


"Vielleicht der Schock?"

Schock, überlegte Charles Halloway. Mein Gott, ist sie daran gestorben? Oder an der Kugel? Ist ihr vielleicht die echte Kugel in die Kehle geraten, als ich schoß? Ist sie – an meinem Lächeln erstickt? Herr im Himmel!

"Alles in Ordnung. Die Vorstellung ist beendet. Nur ohnmächtig", sagte Mr. Dark. "Alles gespielt. Es gehört zu ihrer Rolle", erklärte er und sah die Frau dabei nicht an, nicht die Menge, sondern nur Will, der blinzelnd dastand und von einem Alptraum in den anderen sank.

Sein Vater blieb neben ihm, und Mr. Dark rief: "Geht alle nach Hause! Die Vorstellung ist beendet! Licht aus!"

Die Lichter des Zirkus flackerten.


Die Menge wurde von der verlöschenden Beleuchtung aufgescheucht. Sie drehte sich wie ein gewaltiges Karussell und strömte, als die Lichter matter wurden, den wenigen noch verbliebenen Lichtkreisen zu, als wollte sie sich dort noch einmal aufwärmen, bevor sie draußen den rauhen Winden zu trotzen hatte. Dann ging ein Licht nach dem anderen aus.

"Licht!" rief Mr. Dark.


"Spring!" sagte Wills Vater.


Will sprang. Er lief mit seinem Vater weg. Der trug noch immer die Flinte, die das tödliche Lächeln auf die Staubhexe abgefeuert hatte.

"Ist Jim dort drin?"


Sie standen vor dem Spiegelkabinett. Hinter ihnen, auf der erhöhten Bühne, schrie Mr. Dark: "Licht! Geht nach Hause! Alles vorbei! Aus!"

"Ist Jim eigentlich drin?" überlegte Will. "Ja, ja! Er ist da drin."

Im Wachsmuseum hatte Jim sich noch nicht geregt, nicht einmal geblinzelt.

"Jim!" Die Stimme drang durch die Spiegelgänge zu ihm.

Jim bewegte sich. Jim blinzelte. Ein Hinterausgang stand offen. Jim stolperte darauf zu.

"Ich hol dich, Jim!"


"Nein, Dad!"


Will hielt seinen Vater fest. Der stand schon an der ersten Biegung des Irrgartens. Der Schmerz schoß ihm wieder in die verletzte Hand, raste Nervenbahnen entlang und explodierte wie ein Feuerball in der Nähe seines Herzens. "Dad, geh nicht hinein!" Will hielt die gesunde Hand seines Vaters fest.

Hinter ihnen war die Bühne leer. Mr. Dark rannte – wohin? Irgendwohin. Unterdessen brach die Nacht herein, die Lichter löschten aus, aus, aus, die Nacht saugte sie ein, wurde dichter, winselte, pfiff, zischte, und die Menschenmenge wurde wie Laub, wenn sich ein gewaltiger Baum schüttelt, vom Mittelgang weggeweht, und Wills Vater stand da, vor den Gezeiten aus Glas, den Wogen, vor dem Fehdehandschuh, den das Entsetzen ihm hingeworfen hatte; er wußte, daß er hindurchschwimmen mußte, sich hindurchkämpfen und gegen die Austrocknung, gegen die Selbstauflösung ankämpfen, die hier seiner harrte. Er hatte genug gesehen und wußte Bescheid. Schließ die Augen, und du bist verloren. Laß sie offen, und du wirst so viel Verzweiflung, eine so unmenschliche Last des Leidens erleben, daß du dich vielleicht nicht einmal bis zur vierten Biegung schleppen kannst.

Doch Charles Halloway schüttelte Wills Hand ab. "Jim ist hier. Warte, Jim! Ich komme!"

Und Charles Halloway tat den nächsten Schritt in den Irrgarten.

Vor ihm verschwammen Scheiben von silbrigem Licht, tiefe Schatten, poliert, gespült, überwaschen mit den eigenen Spiegelbildern und denen anderer Seelen, die im Vorübergehen ihre Pein ins Glas eingebrannt hatten, die mit ihrem Narzißmus das kalte Eis geätzt hatten, die Ecken und Flächen von ihrer Angst anlaufen ließen.

"Jim!"


Er rannte. Will rannte. Dann blieben sie beide stehen.


Die Lichter hier drin verglommen, eins nach dem anderen, sie wurden matt, wechselten die Farbe, schimmerten jetzt blau, dann lila gleich dem Widerschein eines Sommergewitters, wechselten zu einem zuckenden Flackern wie von tausend uralten Kerzen im Wind.

Zwischen ihm und Jim, der auf seine Rettung wartete, baute sich eine Armee von einer Million Männer auf, mit verzerrten Lippen, bereiftem Haar, dünnem weißem Bart.

Die da, die alle – das bin ich, dachte er.


Dad, dachte Will dicht hinter ihm, fürchte dich nicht.


Das bist nur du. Die alle – sie sind nur mein Vater!

Doch ihm gefiel nicht, wie sie aussahen. Sie erschienen so alt, so furchtbar alt, und wurden immer älter, je weiter sie vordrangen. Sie gestikulierten wild, als Wills Vater abwehrend die Hände hob, die Enthüllung fernzuhalten, sich gegen dieses irre, bis zum Wahnsinn wiederholte Trugbild zu verteidigen.

Dad dachte er. Du bist es doch.


Aber es war mehr als das.


Und alle Lichter verlöschten.


Die beiden drängten sich dicht aneinander und standen reglos, voller Furcht, in der dumpfig-drohenden Stille.

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