Einundfünfzigstes Kapitel



Sie liefen erst im Uringestank der Schatten, dann im sauberen eisigen Geruch des Mondlichts dahin.

Die Zirkusorgel schnaufte, prustete, trillerte.


Die Musik, überlegte Will. Läuft sie nun vorwärts oder rückwärts?

"Wo geht's weiter?" flüsterte Dad.


"Hier durch!" Will streckte die Hand aus.


Hundert Schritte weiter, am Fuß eines aufragenden Zelts, sprühten blaue Funken hoch und sanken wieder herab, dann wurde es dunkel wie zuvor.

Mr. Elektriko, dachte Will. Sie wollen ihn wegschaffen. Zum Karussell bringen, ihn ermorden oder heilen! Und wenn sie ihn retten – mein Gott –, dann stehen er mit seinem Zorn und der Illustrierte Mann gegen Dad und mich! Und Jim? Ja, wo steckte Jim nur? Heute hier, morgen dort – und heute nacht? Auf wessen Seite würde er nachher wohl stehen? Auf unserer! Jim, guter alter Freund! Natürlich auf unserer Seite. Doch Will zitterte. Dauern Freundschaften denn wirklich ewig? Kann man sie in der Ewigkeit als schöne runde Summe mit einbringen?

Will sah nach links.


Dort stand der Zwerg, halb eingehüllt von der Zeltklappe, regungslos.

"Sieh mal, Dad!" rief Will leise. "Und dort drüben – das Skelett!" Noch ein Stück weiter stand der Lange, der Mann aus Marmorknochen und ägyptischem Papyrus als Haut. Er stand da wie ein abgestorbener Baum.

"Die Mißgeburten – warum tun sie uns nichts?"


"Angst."


"Angst – vor uns?"


Wills Vater duckte sich und spähte vorsichtig um einen leeren Käfig.

"Sie sind ohnehin schwer mitgenommen. Sie haben gesehen, was mit der Hexe passiert ist. Nur so ist das zu erklären."

Sie verharrten da wie Pfähle, wie Zeltpfosten, die man in den Rasen geschlagen hat, verborgen im Schatten, abwartend. Worauf warteten sie? Will schluckte hart.

Vielleicht wollten sie sich gar nicht verstecken, vielleicht standen sie nur sprungbereit und warteten auf den Kampf, der kommen mußte. Im richtigen Augenblick würde Mr. Dark einen Befehl rufen – dann brauchten sie nur von allen Seiten anzugreifen. Aber es war nicht der rechte Augenblick. Mr. Dark hatte anderes zu tun. Wenn er damit fertig war, dann würde er den Befehl geben.

Und? Und deshalb müssen wir dafür sorgen, daß er nicht mehr schreien kann, dachte Will.

Wills Schuhe glitten übers Gras.


Wills Vater schlich weiter.


Die Mißgeburten starrten sie, wenn sie vorüberkamen, aus glasigen Augen an.

Der Ton der Zirkusorgel veränderte sich. Ihre Musik klang traurig, süß durch die Zeltreihen, um eine Biegung im Fluß der Nacht.

Sie läuft vorwärts, dachte Will. Richtig. Vorhin, da lief sie rückwärts. Aber nun hat sie angehalten und neu begonnen, und jetzt läuft die Musik vorwärts. Was hat Mr. Dark vor?

"Jim!" platzte Will heraus.


"Psst!" warnte sein Vater.


Doch der Name war ihm unbewußt über die Lippen gekommen, weil er hörte, wie die Zirkusorgel die vor ihnen liegenden goldenen Jahre summte und Jim erspürte, irgendwo, isoliert, allein, angezogen von angenehmen Kräften, beschwingt von den Tönen des Sonnenaufgangs. Weil er den Gedanken spürte: Wie könnte es sein, wenn man sechzehn, siebzehn, achtzehn Jahre alt ist, neunzehn gar – oder – fast unglaublich! – zwanzig. In den Orgelpfeifen aus Messing pfiff der Wind der Zeit ein fröhliches Sommerlied voller Versprechungen, und selbst Will rannte nun auf die Musik zu, die vor ihm aufwuchs wie ein Pfirsichbaum voller sommerreifer, süßer Früchte...

Nein, dachte er.


Er zwang seine Füße, sich im Takt seiner Ängste zu bewegen, nach seiner eigenen Pfeife zu tanzen, zu einer gesummten Melodie, die in seiner Kehle steckte und die Lungen nicht verließ, die in seinem Schädel dröhnte und die Zirkusorgel übertönte.

"Da", sagte Dad leise.


Vor sich sahen sie zwischen den Zelten einen grotesken Zug vorübermarschieren. Wie ein schwarzer Sultan in seiner Sänfte wurde eine halb vertraute Gestalt von höchst unterschiedlichen Formen und Schatten der Dunkelheit auf den Schultern vorbeigetragen.

Dad stieß einen Schrei aus, da hielt der Zug kurz inne und setzte sich dann rasch in Bewegung.

"Mr. Elektriko!" sagte Will.


Sie bringen ihn zum Karussell!


Der Zug verschwand.


Ein Zelt lag zwischen ihnen.


"Hier herum!" Will rannte los und zog seinen Vater hinter sich her.

Süß spielte die Zirkusorgel. Sie zog Jim an, zwang ihn...

Und wenn der Zug mit Mr. Elektriko ankommt?


Dann würde die Musik rückwärts ablaufen, das Karussell würde sich rückwärts in Bewegung setzen, um seine Haut abzustreifen, seine Jahre ihm zurückzugeben!

Will stolperte und fiel hin. Sein Vater zog ihn hoch.

Und dann...

Ein menschliches Bellen, Jiffen, Heulen, Winseln erhob sich, als seien alle hingefallen. Eine große Menschenmenge stimmte mit langgezogenem Stöhnen, Ächzen, Keuchen, Seufzen aus verkrüppelten Kehlen in den Chor ein.

"Jim! Sie haben Jim erwischt!"


"Nein", murmelte Charles Halloway in seltsamem Ton.


"Vielleicht hat Jim – vielleicht haben wir – sie erwischt."

Sie gingen um das letzte Zelt herum.


Wind blies ihnen den Staub ins Gesicht.


Will schlug die Hände vors Gesicht, hielt sich die Nase zu. Der Staub war uraltes Gewürz, verbrannte Ahornblätter, ein prickelndes Blau, das langsam zu Boden schwebte. Der Staub legte sich wie ein eigener Schatten über die Zelte.

Charles Halloway nieste. Gestalten fuhren hoch und rannten von einem umgestürzten Gegenstand weg, der auf halbem Wege zwischen einem Zelt und dem Karussell verlassen auf dem Boden lag.

Es war der elektrische Stuhl, umgestürzt, die Gurte lose an Beinen und Armlehne baumelnd. Von der Lehne hing ein metallener Kopfhalter.

"Aber wo ist Mr. Elektriko?" fragte Will. "Ich meine – Mr. Cooger!"

"Das muß er gewesen sein."


"Was soll er gewesen sein?"


Doch die Antwort lag vor ihnen, sie senkte sich in quirlenden Luftwirbeln auf den Weg – das verbrannte Gewürz, der herbstliche Brandgeruch, der ihnen an der Zeltecke entgegenschlug.

Umbringen oder heilen, dachte Charles Halloway. Er stellte sich die Hast der letzten paar Sekunden vor, wie sie den uralten, staubigen Knochenhaufen in seinem nicht mehr angeschlossenen elektrischen Stuhl über das trockene Gras zerrten. Vielleicht nur einer von vielen Versuchen, das Leben zu schützen, zu retten, zu bewahren – in einem Gebilde, das nichts anderes mehr war als Friedhofsmüll, Rostflocken, ersterbende Glut, die kein Wind mehr anzufachen vermochte. Und doch mußten sie es versuchen. Wie oft waren sie in den letzten vierundzwanzig Stunden auf diese Weise losgerannt, um entsetzt wieder aufzugeben, weil schon die geringste Erschütterung, die leiseste Brise den uralten Cooger in Staub und Moder zu verwandeln drohte? Dann war es schon besser, ihn auf dem elektrischen Stuhl sitzen zu lassen, als bleibendes Schaustück, als nie endende Vorstellung für eine gaffende Masse, um es später wieder zu versuchen – jetzt zum Beispiel, wo die Lichter aus und die Leute gegangen waren, wo alles dunkel lag, bedroht war von einer Kugel, einem Lachen – jetzt brauchte man Cooger, wie er früher war, groß, rothaarig, bebend vor gewaltiger Zerstörungswut. Doch irgendwann, vor zwanzig, vor zehn Sekunden, bröckelte der letzte Leim ab, fiel der letzte Bolzen, der das Leben zusammenhielt; die mumienhafte Puppe, das groteske Standbild, löste sich in Staubwölkchen und welkes Novemberlaub auf, ein Hauch der Sterblichkeit im Wind. Mr. Cooger hatte die letzte Sense dahingerafft und in eine Milliarde Pergamentflocken, in ungezählte Stäubchen über das Gras verstreut. Nichts weiter als eine kleine Staubwolke in einem Speicher uralten Korns – aus, fort.

"O nein, nein, nein, nein!" murmelte jemand.

Charles Halloway berührte Wills Arm.


Will hörte sofort auf mit seinem "O nein, nein, nein".


In den letzten Augenblicken mußte er dasselbe denken wie sein Vater – an eine weggezerrte Leiche, an verstreutes Knochenmehl, an den Dünger, der auf das Gras der Hügel fiel...

Nichts war mehr übrig als der leere Stuhl und die letzten Staubpartikel, die letzten schimmernden Flocken eines eigenartigen Schmutzes an den Schnallen und Bändern. Die Mißgeburten, die den Staubhaufen herangeschleppt hatten, flohen nun in die Schatten.

Wir haben sie in die Flucht gejagt, dachte Will. Aber irgend etwas muß sie dazu gebracht haben, daß sie ihn fallen ließen.

Nein. Nicht irgend etwas – irgendwer.


Will sah sich um.


Das Karussell drehte sich leer und verlassen durch seine eigenen Zeitdimensionen vorwärts.

Aber zwischen dem umgestürzten Stuhl und dem Karussell stand jemand ganz allein – eins von den Ungeheuern? Nein...

"Jim!"


Dad stieß ihn mit dem Ellbogen an. Will hielt den Mund.

Jim, dachte er.


Und wo steckte jetzt Mr. Dark?


Irgendwo. Schließlich hatte er doch das Karussell in Gang gesetzt, oder etwa nicht? Doch! Um sie anzulocken, um Jim anzulocken. Weshalb denn sonst?

Dafür war jetzt keine Zeit, denn...

Jim wandte sich von dem umgestürzten Stuhl ab und ging langsam hinüber, wo er noch eine Freifahrt guthatte.

Er ging dahin, weil er wußte, immer schon gewußt hatte, daß er dorthin gehen mußte. Wie eine Wetterfahne im Sturm hatte er sich hierhin und dorthin gedreht, bei klarem Himmel und lauer Luft gezögert, um dann zuletzt, fast wie ein Schlafwandler, auf die summende und klingende Verlockung der Musik zuzumarschieren. Er konnte den Blick nicht abwenden.

Ein Schritt. Noch ein Schritt. Jim kam dem Karussell immer näher.

"Los, Will, hol ihn!" sagte Dad.


Will machte sich auf.


Jim hob die rechte Hand.


Die Messingpfosten huschten vorbei, in die Zukunft hinein. Sie dehnten das Fleisch wie Sirup, streckten die Knochen wie ein Sahnebonbon. Das sonnenfarbene Metall brannte auf Jims Wangen, glitzerte in seinen Augen.

Jim wollte zupacken. Die Messingpfosten stießen gegen seine Fingernägel und spielten eine eigene kleine Melodie.

"Jim!"


Die Messingpfosten blitzten vorbei wie ein Sonnenaufgang mitten in der Nacht.

Die Musik hob sich wie eine klare Wasserfontäne sprudelnd zum Himmel.

Eiiiiiiiiii...


Jim öffnete die Lippen und fiel in den Ton ein.


Eiiiiiiiiii...


"Jim!" schrie Will in vollem Lauf.


Jims Hand klatschte gegen einen Messingpfosten. Der Pfosten war schon vorbei.

Er packte einen zweiten Pfosten. Diesmal blieb seine Hand daran kleben.

Das Gelenk folgte den Fingern, der Arm dem Gelenk, Schulter und Körper folgten dem Arm. Jim wurde schlafwandelnd vom Boden hochgerissen.

"Jim!"


Will griff zu und spürte, wie ihm Jims Fuß entrissen wurde.

Jim schwang in weitem Kreis durch die winselnde


Nacht. Will rannte hinterher.


"Jim, laß los! Jim, laß mich doch nicht hier zurück!"


Von der Fliehkraft gepackt, hielt Jim sich mit einer Hand an dem Messingpfosten fest, flog herum und streckte wie in einem instinktiven letzten Einfall die freie Hand in den Wind, als kleinen Teil seiner selbst, der sich noch an ihre Freundschaft erinnerte.

"Jim – spring!"


Will griff nach dieser Hand, verfehlte sie, stolperte, fiel beinahe hin. Das erste Rennen war verloren. Einen Kreis mußte Jim allein beschreiben. Will wartete auf das nächste Vorbeistürmen der Pferde, das Vorbeifliegen des Jungen, der immer weniger Junge war...

"Jim! Jim!"


Jim wachte auf! Halb war er schon herum. In seinem Gesicht drückte sich jetzt Juli aus, jetzt Dezember. Er umklammerte den Pfosten und schrie seine Verzweiflung hinaus. Er wollte und er wollte auch nicht. Er wünschte es sich, er verwarf den Wunsch, wünschte es sich wieder, noch sehnlicher, während er im stickig-heißen Strom des Windes, begleitet vom blitzenden Metall, dahinflog, gezogen von den Juli-und Augustpferden, deren Hufe die Luft wie fallendes Obst trommelten. Seine Augen blitzten. Er biß sich auf die Zunge, sein Zwiespalt entlud sich in einem Zischen.

"Jim! Spring! Dad! Halt die Maschine an!"


Charles sah sich nach dem Schaltkasten um, fünfzehn, zwanzig Schritte entfernt.

"Jim!" Will hatte Seitenstechen. "Ich brauch dich! Komm zurück!"

Drüben auf der anderen Seite des wirbelnden Karussells kämpfte Jim gegen die eigenen Hände, den Pfosten, die sturmgepeitschte Fahrt durchs Nichts, die herabsinkende Nacht, die wirbelnden Sterne an. Er ließ den Pfosten los. Er packte ihn wieder. Dabei streckte er immer noch seine freie Hand aus und bettelte um Wills letztes Quentchen Kraft.

"Jim!"


Jim kam näher. Da unten auf dem nachtschwarzen Bahnhof, aus dem sein Zug für immer hinausfuhr in einen Wirbel von Konfetti, da sah er Will stehen. Will, Willy, William Halloway, den Jungen, seinen jungen Freund, der ihm am Ende dieser Reise noch jünger erscheinen würde, nicht nur jünger – auch fremd! Eine vage Erinnerung an eine längst vergangene Zeit, ein längst versunkenes Jahr. Aber nun lief dieser Junge, dieser junge Freund, der jüngere Freund, mit dem Zug, er reckte den Arm hoch – wollte er mitkommen? Oder war es eine Aufforderung zum Aussteigen? Was war es?

"Jim! Kennst du mich noch?"


Will setzte mit letzter Kraft zum Sprung an. Ihre Finger berührten sich. Ihre Hände berührten sich.

Jims Gesicht starrte weiß und kalt auf ihn herab.


Will trottete im Kreis um die sausende Maschine herum.

Wo war Dad? Warum schaltete er das Ding nicht aus?


Jims Hand fühlte sich warm, vertraut und gut an. Sie umklammerte seine Hand. Er stieß dabei einen Schrei aus.

"Jim! Bitte!"


Doch die Reise ging immer weiter und weiter. Jim flog dahin, Will wurde gewaltsam mitgezerrt.

"Bitte!"


Will zerrte. Jim zerrte. Julihitze schoß in Wills Hand, die Jim festhielt. Wie ein gefangenes Tier, liebevoll festgehalten von Jim, flog diese Hand, fuhr diese Hand weiter, wurde älter und älter. So würde diese weitgereiste Hand ihm fremd werden und Dinge erfahren, die er selbst, wenn er im Bett lag, nur erahnen konnte. Ein vierzehnjähriger Junge mit einer fünfzehn Jahre alten Hand! Ja, Jim hielt sie fest umklammert und wollte sie nicht loslassen. Und Jims Gesicht – war es von der Reise schon älter geworden? War er schon fünfzehn, ging er schon auf die Sechzehn zu?

Will zog. Jim zog in die andere Richtung.


Will fiel auf das Karussell.


Beide fuhren nun durch die Nacht.


Der ganze Will begleitete nun seinen Freund Jim.


"Jim! Dad!"


Wie leicht wäre es jetzt, nur stillezuhalten, weiterzufahren mit Jim, immer im Kreise. Wenn er Jim schon nicht herabzerren konnte, ihn dann einfach auf dem Karussell lassen und ihn begleiten – zwei liebe Freunde, Reisegefährten! Sein Blut wallte, blendete ihn, sauste in seinen Ohren, schoß ihm elektrisierend in die Lenden.

Jim schrie.


Will schrie.


Sie glitten ein halbes Jahr weit durch die treibhauswarme Dunkelheit, dann packte Will den Arm seines Freundes fester und wagte den Absprung von der Aussicht so vieler herrlicher Jahre des Größerwerdens. Er warf sich hinaus, hinab, wollte Jim mit sich ziehen. Aber Jim konnte den Pfosten nicht loslassen, die Fahrt nicht aufgeben.

"Will!"


Jim schrie auf, in der Mitte zwischen Maschine und Freund, mit je einer Hand an dieser und jenem festgeklammert.

Es war, als würde Stoff oder Fleisch zerrissen.


Jims Augen wurden so ausdruckslos wie bei einer Statue.

Das Karussell drehte sich weiter.


Jim schrie, stürzte, wirbelte haltlos durch die Luft.


Will versuchte seinen Sturz zu mildern, doch Jim prallte sich überschlagend auf den Boden. Dort blieb er still liegen.

Da fand Charles Halloway den Schalter des Karussells.


Die leere Maschine wurde langsamer. Die Pferde fielen vom Galopp durch eine ferne Mittsommernacht in Trab, in Schritt.

Charles Halloway und sein Sohn knieten nebeneinander vor Jim, tasteten nach seinem Puls, legten ihr Ohr an seine Brust. Jims Blick aus den weißstarrenden Augen war auf die Sterne gerichtet.

"O Gott!" schrie Will. "Ist er tot?"



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