Vierundzwanzigstes Kapitel



Nachtfalter prallten gegen den Schirm der Bogenlampe, die sich hoch oben verlassen über die Straßenkreuzung erhob. Darunter, in einer einsamen Tankstelle mitten in der Wildnis, tickte es auch. In der Telefonzelle von der Größe eines Sarges standen eng aneinandergepreßt zwei bleiche Jungen und sprachen mit Leuten, die irgendwo in der Ferne waren, jenseits der nächtlichen Hügel. Bei jedem Flügelschlag einer Fledermaus, bei jedem Wolkenschatten klammerten sie sich aneinander fest.

Will hängte das Telefon ein. Polizei und Ambulanz waren unterwegs.

Zuerst, als sie nebeneinander durch die Nacht rannten und stolperten, da hatten sie sich zugerufen, zugeraunt, zugeflüstert: nach Hause gehen, alles vergessen, schlafen – nein! Mit einem Güterzug nach Westen flüchten – nein!

Es hatte keinen Sinn, denn wenn Mr. Cooger überlebte, was sie ihm angetan hatten, dieser alte, uralte Mann, dann würde er sie quer über den ganzen Erdball verfolgen, bis er sie fand und in der Luft zerriß. So landeten sie schließlich streitend und zitternd in der Telefonzelle. Nun sahen sie den Streifenwagen mit heulender Sirene vorbeisausen, die Ambulanz dicht dahinter. All die Männer schauten zu den beiden Jungen heraus, die mit schnatternden Zähnen im unsicheren Mondlicht dastanden.

Drei Minuten später gingen sie den Hauptweg auf der Festwiese entlang. Jim führte sie. Er plapperte unentwegt.

"Er lebt noch. Er muß noch leben. Wir wollten das doch nicht! Es tut uns so leid!" Er starrte die schwarzen Zelte an. "Hören Sie? Es tut uns wirklich leid!"

"Immer mit der Ruhe, mein Junge", sagte der Polizeibeamte. "Gehen wir weiter."

Die beiden Polizisten in Mitternachtsblau, die beiden Krankenträger in geisterhaftem Weiß und die beiden Jungen kamen am Riesenrad vorbei und standen dann gleich am Karussell.

Jim stöhnte.


Die Pferde waren mitten im Sprung erstarrt.


Sternenlicht spiegelte sich in den Messingstangen. Das war alles.

"Er ist weg..."


"Er war aber hier, das können wir beschwören!" sagte Jim.

"Hundertfünfzig oder zweihundert Jahre alt, und daran sollte er sterben."

"Jim", sagte Will.


Die vier Männer wurden unruhig.


"Sie müssen ihn in ein Zelt gebracht haben." Will wollte weg, aber einer der Polizisten nahm ihn beim Ellbogen.

"Hast du gesagt, hundertfünfzig Jahre alt?" fragte er Jim. "Warum nicht gleich dreihundert?"

"Vielleicht auch dreihundert! O Gott!" Jim drehte sich um und schrie: "Mr. Cooger! Wir haben Hilfe mitgebracht."

Lichter blitzten im Geisterzelt auf. Die riesigen Transparente davor schienen sich zu bewegen, als die Scheinwerfer sie in grelles Licht tauchten. Die Polizeibeamten blickten hoch. MR. SKELETON, DIE STAUBHEXE, DER ZERMALMER, VESUVIO DER LAVASCHLÜRFER. Jedes Wort stand auf einer eigenen Fahne, und sie bewegten sich alle leicht im Wind.

Jim blieb am raschelnden Eingang zur Geisterschau stehen.

"Mr. Cooger?" flehte er. "Sind Sie da?"


Aus der Zeltöffnung entströmte warme Luft, die nach Löwen roch.

"Was?" fragte ein Polizist.


Die Zeltklappen bewegten sich wie Lippen. Jim las die Worte ab.

"Sie haben ›Ja‹ gesagt, ›kommt herein!‹"


Jim trat ein, die anderen folgten ihm.


Im Innern des Zeltes blinzelten sie in das Zickzack von Zeltstangenschatten hinauf zu den hohen Geisterpodesten mit all den durch die Welt streunenden Fremden.

Verkrüppelt an Geist und Körper, warteten sie hier.

An einem wackeligen Kartentisch ganz in der Nähe saßen vier Männer und spielten mit limonengrünen, sonnenfarbenen Karten, auf die Mondungeheuer und geflügelte Sonnenwesen gedruckt waren. Hier das schiefe Skelett, das man wie eine Orgel spielen konnte; da der Blimp, der jeden Abend durchlöchert und am Morgen wieder aufgepumpt wurde; hier der Knirps, als "die Warze" bekannt, den man spottbillig als Postpaket versenden konnte; und gleich daneben ein noch kleineres Wesen, ein Irrtum der Zellen und der Zeit, ein so kleiner, verhutzelter Zwerg, daß man sein Gesicht hinter den Karten in seinen arthritischen, verkrümmten, knorrigen Fingern nicht sehen konnte.

Der Zwerg! Will zuckte zusammen. Diese Hände... Sie waren ihm bekannt, so bekannt. Wo? Wer? Was? Aber seine Augen schweiften weiter.

Dort stand Monsieur Guillotine, in engen schwarzen Hosen, langen Strümpfen, eine schwarze Kapuze über dem Kopf, die Arme vor der Brust verschränkt, stocksteif neben seinem Apparat zum Kopfabschlagen. Das Fallbeil hing hoch oben in der Zeltkuppel, ein hungriges Messer, das meteorgleich glitzerte und blitzte und danach gierte, den Raum zu durchtrennen. Unten lag eine Puppe, den Kopf im Block, und erwartete den raschen Tod.

Da stand der Zermalmer mit Stricken und Ketten, in Stahl und Eisen, der Knochenbrecher, Eisenfresser, Hufeisenverbieger.

Und dort der Lavaschlürfer, Vesuvio mit der verkohlten Zunge und den verbrühten Zähnen. Er wirbelte Dutzende von Feuerbällen in die Luft und spuckte einen Feuerstrahl aus, der gestreifte Schatten durch das hohe Zelt tanzen ließ.

In den Nischen ringsum standen noch weitere dreißig Mißgeburten und sahen das Feuer davonfliegen, bis der Feuerschlucker sich umwandte, die Eindringlinge bemerkte und sein Reich zusammenstürzen ließ. Die Sonnen ertranken in einem Wassertrog.

Dampf wallte auf. Alles gefror zu einem Tableau.


Dort, auf dem größten Podest, stand Mr. Dark, der Illustrierte Mann, eine Tätowiernadel wie den Pfeil eines Blasrohrs in seiner Hand. Die Nadel schwebte über dem rosenbedeckten Arm.

Die Bilder zuckten auf seinem nackten Fleisch. Er stand mit bloßem Oberkörper da und war gerade damit beschäftigt, auf seine linke Handfläche ein neues Bild einzustechen. Jetzt, wo das insektengleiche Summen in seiner Hand erstorben war, fuhr er herum. Aber Will starrte an ihm vorbei und schrie:

"Dort steht er! Dort ist Mr. Cooger!"


Die Polizisten und die Krankenträger kamen rasch näher.

Hinter Mr. Dark stand der elektrische Stuhl.


In diesem Stuhl hing ein verfallener Mann. Der Mann, den sie zuletzt, seufzend und in einem Haufen loser Knochen zusammengesunken, wächsern-bleich auf dem Karussell gesehen hatten. Nun saß er aufrecht da, angegurtet an dieses Gerät, in dem die Kraft der Blitze war.

"Das ist er. Er war – er lag im Sterben!"


Der Blimp erhob sich!


Das Skelett drehte sich um, groß und hager.


Die Warze hüpfte mit einem Flohsprung ins Sägemehl herab.

Der Zwerg ließ seine Karten fallen. Seine idiotischen Augen huschten ängstlich hin und her, im Kreise herum.

Ich kenne ihn doch, dachte Will. O Gott, was haben sie ihm nur angetan!

Der Blitzableiterverkäufer!


Ja, er war es. Zusammengequetscht, zerdrückt von einer furchtbaren Kraft zu einer kläglichen Faustvoll Mensch...

Der Blitzableiterverkäufer.


Aber nun ereigneten sich zwei Dinge gleichzeitig, mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit.

Monsieur Guillotine räusperte sich.


Und das Fallbeil hoch droben am Zelthimmel sauste wie ein blutrünstiger Falke herab. Ssst-sst-bums!

Der Kopf der Puppe fiel abgeschlagen in den Korb.


Im Fallen sah er wie Wills Kopf aus, sein Gesicht tot, zerstört.

Er wollte hinlaufen, er wollte nicht hinlaufen, den Kopf hochheben, nachsehen, ob er tatsächlich seine Züge trug.

Aber wie konnte er so etwas jemals wagen? Nie, nicht in einer Million Jahren brachte es jemand fertig, diesen entsetzlichen Korb zu leeren.

Das zweite Ding ereignete sich.


Ein Mechaniker, der hinter einem aufrecht stehenden Sarg mit gläserner Vorderseite arbeitete, ließ einen Draht schnappen. In der Maschinerie unter dem Schild MLLE. TAROT, DIE STAUBHEXE, klickte es. Die Frau aus Wachs hinter der Glasscheibe nickte und zeigte mit ihrer spitzen Nase auf die beiden Jungen, als sie die Männer daran vorbeiführten. Ihre kalte, wächserne Hand fegte den Staub des Schicksals auf einem Sims im Glassarg zusammen. Ihre Augen sahen nichts. Sie waren mit dunklen Spinnenfäden der Schwarzen Witwe zugenäht.

Es war ein hübsches Gespenst aus Wachs. Feixend sahen die Polizisten sie an und gingen daran vorbei. Dann nickten sie auch Monsieur Guillotine beifällig lächelnd zu. Sie machten nun einen entspannten Eindruck. Es schien ihnen nichts auszumachen, daß sie so spät noch in eine Welt probender Akrobaten und windiger Magier gerufen wurden.

"Gentlemen!" Mr. Dark und seine Bildergalerie traten an die Vorderkante der hölzernen Bühne, ein Dschungel unter jedem Arm, eine ägyptische Viper auf jedem Bizeps. "Willkommen! Sie kommen gerade rechtzeitig!

Wir proben alle unsere neuen Kunststücke!" Mr. Dark winkte. Fremdartige Ungeheuer fletschten auf seiner Brust ihre Fangzähne, ein Zyklop, der den Nabel als einziges Auge benutzte, wand sich bei jedem Schritt auf dem Bauch des Mannes.

Herr im Himmel, dachte Will, bringt er die alle mit, oder zerren ihn die gemalten Ungeheuer vorwärts?

Von den gesprungenen Holzpodesten und vom Sägemehl der Arena her spürte Will die kalten Blicke der ihm zugewandten Mißgeburten. Der Illustrierte Mann schien ihnen ebensoviel Freude zu machen wie den Polizisten und den Krankenträgern. Bei jeder Bewegung beherrschten die Ungeheuer die Szene, erfüllten sie den Raum bis hinauf in die Zeltkuppel mit lautlosen Schreien, die Aufmerksamkeit heischten.

Ein Teil der Wesen aus Nadelpunkten meldete sich nun zu Wort. Mr. Dark öffnete über seinem gemalten Dschungel, den zuckenden Ungeheuern auf der schweißnassen Haut, den Mund. Orgeltöne drangen aus seiner Brust. Die blaugrünen Wesen, die ihn bevölkerten, erbebten, die wirklichen Mißgestalten im Sägemehl erbebten, der Fußboden im Zelt erbebte, und auch Jim und Will erzitterten bis ins innerste Mark und kamen sich noch elender vor als all die Mißgeburten.

"Meine Herren, meine Jungen! Wir haben gerade unsere neue Schau vollendet und zusammengestellt! Sie werden sie als erste zu sehen bekommen!" rief Mr. Dark.

Der eine Polizeibeamte hakte den Daumen lässig hinter die Pistolentasche, blinzelte zu dem Wirrwarr von wilden Tieren und Sagengestalten empor und sagte: "Der Junge da meint..."

"Meint?" Der Illustrierte Mann ließ ein bellendes Lachen hören. Die Mißgeburten zuckten erschrocken zusammen und beruhigten sich wieder, als erneut die ruhige, gelassene Stimme ihres Herrn und Meisters ertönte. Er streichelte seine Monster und schien damit gleichzeitig auch die Mißgeburten zu besänftigen. "So, meint er? Aber was hat er denn gesehen? Kleine Jungen bekommen bei solchen Vorstellungen doch immer Angst, oder nicht? Sie rennen davon wie die Kaninchen, wenn ein Ungeheuer auftaucht. Auch heute abend. Ganz besonders heute abend."

Die Polizeibeamten sahen an ihm vorbei und betrachteten das aufrecht sitzende Wesen aus Pappmache auf dem elektrischen Stuhl.

"Wer ist das?"


"Er?"


Will sah in Mr. Darks verhangenen Augen ein Feuer aufblitzen, aber dann beherrschte er sich rasch wieder.

"Unser neuer Trick. Mr. Elektriko!"

"Nein! Seht euch den alten Mann an! Seht nur!" schrie Will. Die Polizisten drehten sich bei seinem Geschrei fragend um.

"Seht ihr denn nicht, daß er tot ist?" sagte Will. "Nur die Gurte halten ihn aufrecht!"

Die Krankenwärter blinzelten empor zu der großen weißen, winterlichen Flocke auf dem schwarzen Gestell.

Mein Gott, dachte Will, und dabei haben wir uns das alles so einfach vorgestellt! Der alte Mann, Mr. Cooger, lag im Sterben, also haben wir die Ambulanz gerufen, um ihn zu retten, damit er uns – vielleicht – verzeiht. Dann tut uns der Zirkus vielleicht nichts und läßt uns wieder laufen. Aber – was kommt nun? Er ist tot! Zu spät! Sie alle hassen uns!

Will stand zwischen den anderen und spürte, wie ihn ein kalter Hauch von der ausgegrabenen Mumie her anwehte, aus dem kalten Mund, aus den starren, hinter gefrorenen Lidern eingesperrten Augen. In den gefrorenen Nasenlöchern bewegte sich kein Härchen. Mr. Coogers Rippen unter dem losen Hemd rührten sich nicht, sie waren wie Stein, und seine Zähne unter den lehmfahlen Lippen waren ausgetrocknet und eiskalt.

Wenn man ihn um die Mittagszeit hinausstellte, dann dampfte er sicher.

Die Krankenwärter tauschten einen Blick. Sie nickten.

Die Polizisten traten daraufhin einen Schritt vor.

"Gentlemen!"


Mr. Dark hob seine Hand mit der Tarantel zu einem messingfunkelnden Schaltbrett.

"Mr. Elektrikos Körper wird nun gleich von hunderttausend Volt durchströmt!"

"Nein! Nein, das dürft ihr nicht erlauben!" schrie Will.


Die Polizisten machten noch einen Schritt vor. Die Krankenträger wollten etwas sagen. Mr. Dark warf Jim einen raschen fragenden Blick zu.

Jim schrie: "Nein! Ist schon in Ordnung!"


"Jim!"


"Doch, Will, alles ist okay."


"Zurück!" Der spinnenbedeckte Arm näherte sich einem Schalter, die Hand legte ihn um. "Dieser Mann ist in Trance! Das gehört zu meinem neuen Trick: Ich habe ihn hypnotisiert! Er könnte Verletzungen erleiden, wenn ihr ihn aufweckt!"

Die Krankenwärter machten den Mund wieder zu. Die Polizisten rührten sich nicht mehr.

"Hunderttausend Volt! Und doch bleibt er am Leben und ist nachher ebenso gesund an Körper und Geist wie zuvor!"

"Nein!"


Ein Polizist packte Will.


Der Illustrierte Mann ruckte nun an dem Schalter. All die Unwesen zuckten und tanzten aufgeregt auf ihm herum.

Die Zeltbeleuchtung ging aus.


Polizisten, Krankenwärter, Jungen, sie alle überlief eine Gänsehaut.

Doch im plötzlich mitternächtlichen Dunkel wurde der elektrische Stuhl zu einem Feuerofen, und der alte Mann flammte wie ein bläulicher Herbstbaum.

Die Polizisten fuhren zurück, die Krankenwärter beugten sich vor, und die Mißgeburten taten es ebenfalls.

In ihren Augen spiegelte sich das blaue Feuer.

Der Illustrierte Man ließ die Hand nicht vom Schalter und starrte den alten, alten Mann an.

Ja, der alte Mann war mausetot, aber die Elektrizität zuckte über ihn hin, sie waberte um seine kalten Muschelohren und strömte ihm in die Nasenlöcher, die so tief waren wie ein ausgetrockneter Brunnen. Blaue Flammenzungen leckten um seine Klauenfinger und die mageren Heuschreckenknie.

Der Illustrierte Mann öffnete die Lippen und schrie vielleicht etwas, aber niemand hörte ihn vor lauter Zischen und Fauchen des elektrischen Stroms, der um den Gefangenen und den Stuhl herumkroch und zuckte.

Erwache zum Leben, rief das Summen. Erwache zum Leben, riefen die zuckenden Farben, das Licht. Erwache zum Leben, schrien Mr. Darks Lippen. Ihn hörte niemand außer Jim, der ihm die Worte von den Lippen ablas. Sie klangen laut wie Donner in seinem Kopf, genau wie bei Will. Erwache zum Leben! Mit schierer Willenskraft wollte er den alten Mann zum Leben erwecken. Steh auf, rühr dich, laß die Säfte wieder steigen, den Geist zurückkehren, schmilz die wächserne Seele...

"Er ist tot!" Doch auch Will hörte niemand, sosehr er auch gegen das Tosen der Blitze anschrie.

Lebendig! Mr. Darks Lippen zuckten. Lebendig.


Erwache zum Leben. Er schob den Schalter ganz vor.

Irgendwo kreischten protestierend Dynamos, knirschten, schrillten, stöhnten auf in wilder Energie. Das Licht wurde flaschengrün. Tot, tot, dachte Will. Aber du sollst leben, schrien Maschinen, Flammen und Feuer, schrien die Mäuler der Ungeheuer auf der bemalten Haut.

Das Haar des alten Mannes stellte sich prickelnd auf.


Funken bluteten von seinen Fingernägeln, tropften träge auf die Planken. Grünlich sickerte das Licht durch die geschlossenen Augenlider.

Der Illustrierte Mann beugte sich über das alte, alte, tote, tote Ding, rief erregt unverständliche Worte. Seine Untiere ertranken in Schweißbächen, seine Rechte stieß immer wieder fordernd in die Luft: Lebe! Lebe!

Und der alte Mann erwachte zum Leben.


Will schrie sich heiser.


Und keiner hörte ihn.


Jetzt – ganz langsam, wie vom Donner angerührt, von der neuen Dämmerung des elektrischen Feuers, öffnete sich ganz langsam ein totes Augenlid.

Die Mißgeburten staunten.


Weit, weit weg schrie nun auch Jim, denn Will hielt seinen Ellbogen umkrampft und spürte den Schrei durch die Knochen zittern, als sich die Lippen des Alten öffneten und schreckliche Blitze zischend im Zickzack zwischen den Lippen und den weißen Zähnen hin und her huschten.

Der Illustrierte Mann drosselte den Strom zu einem Wimmern. Dann drehte er sich um, fiel auf die Knie und streckte die Hand aus.

Weit oben auf dem Podium bewegte sich kaum merklich etwas unter dem Hemd des alten Mannes, wie wenn ein welkes Blatt im Herbstwind raschelt.

Die Mißgeburten atmeten auf.


Der alte, alte Mann seufzte.


Ja, dachte Will, sie atmen für ihn, sie helfen ihm, erfüllen ihn mit Leben.

Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen – und doch wirkte alles wie eingelernt. Was konnte er sagen oder tun?

"Die Lungen... so...", flüsterte jemand.


Die Staubhexe in ihrem Glaskasten?


Die Lippen des Alten zuckten.


"... Herzschlag... eins... zwei... so... so..."


Wieder die Staubhexe? Will fürchtete sich, hinzusehen.


Eine Ader tickte wie eine kleine Uhr am Hals des Mannes.

Ganz, ganz langsam glitt das rechte Auge des alten Mannes auf, wurde weit, blickte starr wie die Linse einer kaputten Kamera. Es war, als blicke man durch ein Loch ohne Grund und Boden hinaus in den endlosen Raum. Er wurde wärmer.

Den Jungen unten wurde kälter.


Nun war das alte, schauerlich-weise Auge so groß und so tief und so lebendig, das einzige Lebendige in dem porzellanstarren Gesicht, daß tief auf dem Grunde des Auges irgendwo der böse Neffe die Polizisten, Krankenwärter und mißgestalteten Kreaturen anblickte.

Und Will.

Will sah sich, er sah Jim, zwei winzige Bilder, widergespiegelt in diesem einzigen Auge. Wenn der alte Mann blinzelte, dann mußte er das Bild mit seinen Lidern zerschmettern!

Endlich drehte sich der Illustrierte Mensch auf den Knien um und beruhigte alle mit seinem Lächeln.

"Gentlemen! Jungen! Hier habt ihr wirklich einen Menschen, der mit den Blitzen lebt."

Der zweite Polizist lachte. Dabei glitt sein Daumen von der Pistolentasche.

Will schob sich nach rechts.


Das offene, starre Auge verfolgte ihn, schien ihn mit seiner Leere ansaugen zu wollen.

Will drückte sich nach links.


Wieder folgte ihm der starre, unheimliche Blick des alten Mannes, während sich die kalten Lippen öffneten, um einen leisen Seufzer, einen Laut zu formen. Tief aus dem Körper des alten Mannes stieg wie aus einem steinernen Brunnen die Stimme hoch, bis sie endlich die Lippen erreichte.

"... willkommmmmmm..."


Das Wort versank wieder im Brunnen.


"... will... kom... mmm..."


Die beiden Polizisten stießen einander feixend an.


"Nein!" rief Will plötzlich. "Das war nicht gespielt! Er war tot! Und er wird wieder sterben, wenn Sie den Strom ausschalten." Will schlug sich die Hand vor den Mund.

O Herr, dachte er, was mache ich da? Ich will doch, daß er am Leben bleibt, damit er uns verzeihen kann, uns leben läßt. Aber mehr noch wünsche ich mir, daß er tot wäre, daß sie alle tot wären. Sie machen mir solche Angst, daß ich Schmetterlinge im Magen habe, so groß wie Fledermäuse.

"Tut mir leid...", flüsterte er.


"Macht nichts!" rief Mr. Dark.


Die Mißgeburten wurden unruhig und sahen einander an. Was war von der kalten Statue auf dem zischelnden Stuhl noch zu erwarten? Das einzige Auge des alten, alten Mannes verklebte sich wieder. Der Mund verfiel, eine gelbe Schlammblase in einem Schwefelbad.

Der Illustrierte Mann drückte den Schalter mit wildem Grinsen ein Stück vor. Er schob dem alten Mann ein stählernes Schwert in die behandschuhte Rechte.

Elektrizität summte im Stoppelbart der alten Wangen.

Das tiefe Auge öffnete sich so rasch wieder wie die Wunde von einem Einschuß. Hungrig suchte es nach Will, fand ihn, verschlang sein Bild. Die Lippen formten Worte.

"I... sss... ich... gesehen... Jungen... ins... Zelt... schleichen..."

Der ausgetrocknete Blasebalg füllte sich wieder. Wie aus einem feinen Nadelloch entwich in kleinen Blasen die feuchte Luft.

"Wir... üben... spielen... einennn... Trick... ich tattt... wie ein... Toterrr..."

Wieder eine Pause. Er trank Sauerstoff wie Wasser, Elektrizität wie Wein.

"... ließ... mich... fallennn... wie totttt... Jungen... schreien... rennenn... rennen..."

Der alte Mann stieß Silbe für Silbe hervor.


"Ha!" Pause. "Ha!" Pause. "Ha!"


Elektrizität säumte die pfeifenden Lippen.


Der Illustrierte Mann hüstelte leise. "Diese Vorführung ermüdet Mr. Elektriko sehr..."

"Ja, natürlich." Einer der Polizisten setzte sich in Bewegung. "Tut mir leid." Er tippte sich an die Mütze.

"Prima Vorstellung."

"Wirklich prima", sagte einer der Krankenträger.


Will sah sich rasch um, weil er wissen wollte, was der Mann für ein Gesicht dabei machte, doch Jim stand ihm im Wege.

"Hier, Jungens! Ein Dutzend Freikarten!" Mr. Dark hielt sie ihnen hin. "Da!"

"Na?" fragte einer der Polizisten.


Zögernd griff Will nach den flammenfarbenen Karten, hielt aber inne, als Mr. Dark fragte: "Wie heißt ihr denn?"

Die Beamten blinzelten einander zu.


"Sagt es ihm, Jungens."


Schweigen. Die Mißgeburten warteten gespannt.


"Simon", sagte Jim. "Simon Smith."


Mr. Darks Hand mit den Freikarten krümmte sich.


"Oliver", sagte Will. "Oliver Brown."


Der Illustrierte Mann holte tief Luft. Auch die Mißgeburten holten tief Luft. Das Luftholen schien Mr. Elektriko zu stören. Sein Schwert zuckte. Von seiner Spitze sprangen Funken auf Wills Schulter über, dann wurde Jim mit blauen Flammen übergossen. Blitze schossen zwischen ihnen hin und her.

Die Polizisten lachten.


Das weitoffene Augen des alten Mannes funkelte.


"Ich schlage... euch... Esel und... Trottel... ich schlage... euch... zum bleichen... Ritterrrr..."

Mr. Elektriko war am Ende. Das Schwert berührte sie.


"Ein kurzes... trauriges... Leben... euch... beiden..."


Dann klappte sein Mund zu, das eine Auge schloß sich.

Er hielt den kellertiefen Atem an und ließ die Fünkchen sein Blut durchschwärmen wie Bläschen den Champagner.

"Die Freikarten", murmelte Mr. Dark. "Alles umsonst. Kommt, wann ihr wollt. Kommt wieder. Kommt wieder."

Jim und Will griffen nach den Karten. Dann rannten sie beide aus dem Zelt. Die Polizisten winkten nach allen Seiten und folgten ihnen gemächlich.

Hinter ihnen kamen wie Geister die Krankenträger. Sie lächelten nicht. Sie fanden die beiden Jungen eng aneinandergedrückt im Polizeiwagen.

Sie sahen aus, als wollten sie auf dem schnellsten Wege nach Hause.

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