Siebenunddreißigstes Kapitel



Die Turmuhr schlug sieben.

Das Echo wanderte durch die dunklen Flure der Bibliothek.

Irgendwo im Dunkeln fiel raschelnd, trocken, ein herbstliches Blatt.

Doch es war nur die Seite eines Buches, die umgeblättert wurde.

In einer der halbdunklen Grüfte beugte sich Charles Halloway im Schein einer Lampe mit grasgrünem Schirm über die Bücher. Die Lippen vorgeschoben, Augen verengt, schlug er mit zitternden Fingern die Seiten um, schob ein Buch beiseite, holte ein anderes. Ab und zu lief er ans Fenster und warf einen aufmerksamen Blick hinaus in den Herbstabend. Dann beugte er sich wieder über die Seiten, blätterte, schob hier ein Lesezeichen ein, kritzelte sich da ein Zitat auf ein Blatt Papier, flüsterte vor sich hin. Seine Stimme klang als Echo aus den Tiefen der Bibliothek zurück.

"Sieh da!"


"... da... da...!" sagten die nächtlichen Hallen.


"Das Bild!"


"Bild...", antworteten die Flure.


"Und das da!"


"Das da..." Staub senkte sich.


Es war der längste aller Tage seines Lebens, soweit er sich zurückerinnern konnte. Er hatte sich unter seltsame und weniger seltsame Leute gemischt, hatte nach der weitläufigen Parade nach den Suchern gesucht. Er hatte der Versuchung widerstanden, Jims Mutter und Wills Mutter mehr zu sagen, als sie an einem vergnügten Sonntag zu wissen brauchten. Inzwischen war ihm der Zwerg über den Weg gelaufen, er hatte dem Spitzkopf und dem Feuerfresser zugenickt, sich von schattendunklen Seitenwegen ferngehalten und sein Entsetzen unterdrückt, als er wieder am Zigarrenladen vorbeikam und das dunkle Loch unter dem eisernen Gitter leer fand. Er wußte, daß sich die Jungen irgendwo verborgen hielten. Vielleicht ganz in der Nähe oder – gebe Gott – weit weg.

Dann ließ er sich von der Menge auf die Festwiese schieben, betrat aber die Zelte nicht, ging nicht an die Karussells heran, beobachtete, sah die Sonne untergehen und gelangte gerade im ungewissen Schein des Dämmerlichts an das kalte Glasmeer des Spiegelkabinetts. Vom Ufer aus sah er genug, um einen Schritt zurück zu tun und nicht zu ertrinken. Naß und kalt bis auf die Knochen, ließ er sich von der wärmenden Menschenmenge beschützen, ehe die Nacht in der Stadt ihn erfaßte. Von der Woge der anderen ließ er sich in die Stadt zurücktragen, in die Bibliothek, zu den so wichtig gewordenen Büchern. Er legte sie auf dem Tisch wie eine große Uhr aus, wie jemand, der einen neuen Zeitbegriff erlernen will. Immer wieder schritt er um die große Uhr herum und blinzelte auf die vergilbten Seiten, als seien sie tote, ans Holz geheftete Mottenflügel.

Da lag ein Bild des Fürsten der Dunkelheit. Daneben einige phantastische Skizzen der Versuchungen des heiligen Antonius. Ein paar Radierungen aus Bizarres von Giovanbatista Bracelli; seltsame Spielzeuge waren da abgebildet, menschenähnliche Roboter, die alchimistische Riten vollführten. Fünf Minuten vor zwölf lag da ein Exemplar von Dr. Faustus, um zwei Uhr die Okkulte Ikonographie; um sechs, genau unter Mr. Halloways suchenden Fingern, eine Geschichte der Zirkusse, Schaugruppen, Marionettentheater, belebt mit Quacksalbern, Fahrensleuten, stelzengehenden Zauberern und ihren absurden Geschöpfen. Dann: Handbuch der Reiche der Lüfte (Dinge, die durch die Geschichte schweben); um neun Uhr: Von Dämonen besessen, darunter Ägyptische Zaubertränke, wieder darunter Qualen der Verdammten. Zuunterst wurde Zauber der Spiegel plattgedrückt. Die Bücheruhr vervollständigten Lokomotiven und Züge, Mysterium des Schlafs, Zwischen Mitternacht und Morgen, Hexensabbath, Pakte mit Dämonen. Alle Bücher waren so ausgelegt, daß er die Titel lesen konnte.

Doch die Uhr hatte keine Zeiger.


Er wußte nicht, welche Stunde der Nacht es für ihn geschlagen hatte, für die Jungen, für die nichtsahnende Stadt.

Wonach konnte er sich schon richten?


Ankunft um drei Uhr morgens, ein seltsamer Irrgarten von Spiegeln, ein Umzug am Sonntag, ein hochgewachsener Mann mit einer Menge stahlblauer Bilder, die in seine schwitzende Haut tätowiert waren, ein paar Blutstropfen, die in ein Kellerloch gefallen waren, zwei verängstigte Jungen, die aus den Tiefen der Erde emporstarrten – und er, allein in einem Mausoleum der Stille. Er versuchte das Puzzle zusammenzusetzen.

Was hatten die Jungen nur an sich, daß er ihnen jedes Wort glaubte, das sie durch den Rost geflüstert hatten?

Allein die Angst war schon Beweis genug, und er hatte in seinem Leben genug Angst zu sehen bekommen, um sie zu kennen, so wie man einen Metzgerladen im Sommerzwielicht am Geruch erkennt.

Was hatte das Schweigen des Illustrierten Mannes an sich, daß er Tausende wilder, gemeiner, verletzender Worte zu hören glaubte?

Was war an dem alten Mann, den er am Nachmittag durch den Zelteingang gesehen hatte? Er saß auf einem Stuhl mit einem Schild MR. ELEKTRIKO, und Starkstrom waberte und kroch wie eine Masse grüner Reptilien über sein Fleisch.

Alles. Zusammengenommen. Und nun diese Bücher hier. Das da. Er legte die Hand auf Physiognomien – die Geheimnisse des individuellen Charakters, wie man sie aus Gesichtern ablesen kann.

Hatten nun Jim und Will, wie sie mit reinen, engelgleichen Gesichtern, halb unschuldig noch, durch das Gitter starrten, den nackten Terror vorbeimarschieren sehen? Bedeuteten die beiden Jungen das Ideal für Mann, Weib und Kind, ausgezeichnet durch Haltung, Farbe, inneres Gleichgewicht, sommerliches Gemüt?

Und das Gegenteil – Halloway blätterte um –, die schlurfenden Mißgeburten, das Illustrierte Wunder – trugen sie das unaustilgbare Kainszeichen des Reizbaren, Grausamen, Verschlagenen auf der Stirn, sprachen ihre Lippen Lug und Trug?

Waren es die Zähne des Brutalen, Instabilen, Vorwitzigen, Eingebildeten? Des mörderischen wilden Tieres?

Nein. Er klappte das Buch zu. Nach den Gesichtern zu urteilen, waren die Mißgeburten nicht schlimmer als viele Leute, die er in seiner langen Laufbahn spät am Abend hatte aus der Bibliothek gehen sehen.

Nur eines war klar.


Zwei Zeilen bei Shakespeare drückten es aus. Er hätte sie mitten in seine Uhr von Büchern schreiben können als Ausdruck seiner Besorgnis:

Ein Jucken spür' ich, ganz verstohlen, Das Böse kommt auf leisen Sohlen.

Unbestimmt, und doch so ungeheuerlich.


Er wollte nicht damit leben.


Aber er wußte, daß er sich für den Rest seines Lebens damit würde abfinden müssen, wenn er nicht in dieser Nacht damit fertig wurde.

Er schaute aus dem Fenster und dachte: Jim, Will, werdet ihr kommen? Werdet ihr es schaffen?

Vor lauter Warten wurde seine Haut so bleich wie seine Knochen.

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