Achtunddreißigstes Kapitel



So lag die Bibliothek am Sonntagabend da, um viertel nach sieben, halb acht, viertel vor acht, durchweht von den gewaltigen Strömen des Schweigens, bewacht von der regungslosen Garde der Bücher, die wie Runensteine der Ewigkeit auf ihren Regalen verharrten. Diese ragten so hoch auf, daß auf sie unsichtbar das ganze Jahr der Schnee fiel.

Draußen ging der Atem der Stadt zum Zirkus und zurück.

Hunderte von Menschen kamen an der Stelle vorbei, wo Jim und Will unter den Büschen neben der Bibliothek lagen, sich aufrichteten und dann wieder ihre Nasen an die feuchte Erde preßten.

"Ha-tschi!"

Sie erstickten das Niesen im Gras. Auf der anderen Straßenseite kam einer vorbei, vielleicht ein Junge, vielleicht ein Zwerg, vielleicht ein Junge mit Zwergenverstand. Alles konnte es sein, vorbeigetrieben wie die rascheldürren Blätter auf den Bürgersteigen.

Doch dann ging er weiter, was es auch war; Jim setzte sich auf, Will lag immer noch mit dem Gesicht im guten, sicheren Schmutz.

"Los, was ist denn?"


"Die Bibliothek", murmelte Will. "Jetzt fürcht ich mich auch schon davor!" All die Bücher, dachte er, zusammengedrängt in engen Reihen, Hunderte von Jahren alt, die Lederhaut abblätternd, aneinandergelehnt wie zehn Millionen Aasgeier. Wenn man an den dunklen Stapeln vorbeigeht, dann beobachten einen die goldenen Augen der ungezählten Titel. Ein alter Zirkus, eine alte Bibliothek, sein alter Vater – alles alt...

"Ich weiß, Dad ist da drin, aber ist es auch wirklich Dad? Ich meine, wenn sie nun gekommen sind, ihn verwandelt haben, ihn böse gemacht haben, ihm etwas versprochen haben, was sie ihm nicht geben können, woran er aber glaubt. Wir beide gehn da hinein, und irgendwann in fünfzig Jahren macht jemand ein Buch auf, und wir beide fallen heraus, purzeln wie zwei ausgetrocknete Motten auf den Fußboden, Jim. Jemand preßt uns wie eine Pflanze zwischen den Seiten, und keiner weiß, wo wir geblieben sind..."

Jim wurde es zu viel. Er mußte etwas unternehmen, sich aufmuntern. Bevor Will etwas tun konnte, klopfte Jim an die Tür. Dann hämmerten sie beide dagegen und hatten nichts anderes im Sinn, als aus der Nacht in die wärmere, nach Büchern riechende Nacht da drin zu fliehen. Wenn sie sich die Art der Dunkelheit aussuchen konnten, dann war das die bessere: der heimliche Büchergeruch, und Dad stand mit seinem geisterfarbenen Haar auf der Schwelle. Auf Zehenspitzen schlichen sie durch die verlassenen Gänge. Will verspürte den Drang, laut zu pfeifen, wie er es oft tat, wenn er bei Sonnenuntergang am Friedhof vorbeikam. Dad fragte, warum sie sich verspätet hätten. Und sie versuchten sich an all die Orte zu erinnern, an denen sie sich tagsüber versteckt hatten.

Sie waren in alten Garagen untergeschlüpft, in alten Scheunen, sie hatten sich in den höchsten Bäumen versteckt, die sie erklimmen konnten, und als die Langeweile schlimmer wurde als ihre Angst, waren sie wieder heruntergeklettert, zum Polizeichef gegangen und bei einem freundlichen Gespräch zwanzig Minuten lang im Revier sicher gewesen. Dann kam Will auf die Idee, die Kirchen zu besuchen. Sie stiegen in alle Kirchtürme der Stadt, verscheuchten die Tauben von den Simsen und fühlten sich zumindest sicher, auch wenn keiner wirklich sagen konnte, ob sie in den Kirchen und insbesondere hoch oben bei den Glocken tatsächlich sicher waren. Aber auch da packte sie die Langeweile, das Ewiggleiche ermüdete sie. Sie waren schon nahe daran, sich den Zirkusleuten zu stellen, damit sie wenigstens etwas zu tun hatten, da ging glücklicherweise die Sonne unter.

Von Sonnenuntergang bis jetzt war es herrlich gewesen.

Sie hatten sich an die Bibliothek angeschlichen, als sei sie ihre alte Festung, die inzwischen von Arabern erobert worden war.

"Und nun sind wir hier", schloß Jim flüsternd. Dann hielt er inne. "Warum flüstere ich eigentlich? Die Bibliothek ist doch längst geschlossen! Teufel!"

Er lachte, dann brach er ab.


Er glaubte nämlich, irgendwo in den unterirdischen Kammern leise Schritte vernommen zu haben.

Doch es war nur sein Lachen, das auf leisen Pantherpfoten durch die hohen Regale zu ihm zurückkam.

Als sie dann weiterredeten, flüsterten sie wieder. Tiefer Wald, dunkle Höhlen, dämmrige Kirchen, halbdunkle Bibliotheken – alles dasselbe, sie dämpfen einen, wirken bedrückend, lassen nur Flüstern und halblaute Rufe zu, aus Angst, geisterhafte Zwillinge der eigenen Stimme könnten auferstehen und durch die Gänge huschen, die man längst wieder verlassen hat.

Sie kamen in den kleinen Leseraum und gingen um den Tisch herum, auf dem Charles Halloway all die Bücher ausgelegt hatte. Viele Stunden hatte er hier lesend verbracht. Nun blickten sie sich zum ersten Mal ins Gesicht. Jeder entdeckte beim anderen dieselbe fahle Blässe, und sie sagten nichts dazu.

"Noch einmal von vorn", sagte Dad und zog Stühle herbei. "Bitte."

Die beiden Jungen nahmen sich Zeit. Abwechselnd erzählten sie von dem Blitzableiterverkäufer, der vorbeikam und ein Gewitter voraussagte, dem Zug, der lange nach Mitternacht ankam, die ganz plötzlich belebte Wiese, die Zelte im Mondlicht, die unberührte und doch klagende Zirkusorgel. Dann, wie das helle Licht des Mittags auf den ganz normalen breiten Weg zwischen den Zelten und Buden strahlte, auf dem sich Hunderte von braven Christenmenschen bewegten und keine Löwen, denen sie zum Fraß vorgeworfen werden sollten.

Nur der Irrgarten mit den vielen Spiegeln war da, in dem sich die Zeit rückwärts und vorwärts verlor, nur das Karussell mit dem Schild AUSSER BETRIEB, die tote Mittagsstunde, Mr. Cooger und der Junge mit den Augen, die alle Eingeweide der Welt gesehen hatten, die wie Sünden von ihren Fleischerhaken hingen, rot und giftig, der Junge mit den Augen eines erwachsenen Mannes, der seit Ewigkeiten lebte und schon zu viel gesehen hatte, der vielleicht sterben wollte, es aber nicht konnte...

Die Jungen mußten Atem holen.


Miss Foley, dann wieder der Zirkus, das wildgewordene Karussell, die uralte Cooger-Mumie, die Mondlicht einatmete, silbernen Staub ausatmete, tot, dann auferstanden auf einem Stuhl, der sein Skelett mit grünen Blitzen entzündete, ein trockenes Gewitter ohne Regen und Donner; der Umzug, der Zigarrenladen und sein Keller, das Versteck – und nun waren sie hier, hatten alles berichtet, waren fertig.

Eine ganze Weile saß Wills Vater schweigend da und starrte die Mitte des Tisches an, ohne etwas zu sehen.

Dann bewegten sich seine Lippen.

"Jim. Will. Ich glaube euch", sagte er.


Die Jungen sanken auf ihre Stühle zurück.


"Alles?"


"Alles."


Will wischte sich über die Augen. "Junge", sagte er.

"Ich fang gleich zu plärren an!"

"Dafür haben wir keine Zeit!" erklärte Jim.


"Keine Zeit." Wills Vater stand auf, stopfte Tabak in seine Pfeife, suchte in den Taschen nach Streichhölzern und förderte eine verbeulte Mundharmonika, ein Taschenmesser, ein nichtfunktionierendes Feuerzeug und einen Notizblock zutage, auf dem er immer große Gedanken notieren wollte, aber nie dazu kam. Diese Waffen für einen Pygmäenkrieg, der schon verloren sein konnte, noch ehe er recht begann, reihte er auf dem Tisch auf. Langsam schüttelte er den Kopf, entdeckte endlich eine zerknautschte Streichholzschachtel, zündete seine Pfeife an und begann auf und ab zu gehen. Dabei dachte er laut.

"Sieht so aus, als ob wir uns ausführlich über einen gewissen Zirkus unterhalten müßten. Wo kommt er her, wo will er hin, was hat er vor? Wir haben geglaubt, er sei noch niemals in der Stadt gewesen. Aber – bei Gott – seht euch das mal an!"

Er deutete auf eine vergilbte Zeitungsanzeige, die das Datum 12. Oktober 1888 trug. Mit dem Fingernagel unterstrich er eine Zeile:

J. C. COOGER UND G. M. DARK PRÄSENTIEREN DAS PANDÄMONIUM-THEATER! KOMBINIERTE SCHAU, MUSEUM DES UNNATÜRLICHEN – INTERNATIONAL!

"J. C. und G. M.", sagte Jim. "Dieselben Initialen wie auf den Handzetteln, die an diesem Wochenende überall herumliegen. Aber – es können doch nicht dieselben Leute sein..."

"Nein?" Wills Vater rieb sich den Ellbogen. "Meine Gänsehaut erzählt mir etwas ganz anderes."

Er legte die alte Zeitung beiseite.


"1860. 1846. Dieselbe Anzeige. Dieselben Anfangsbuchstaben. Dark und Cooger. Cooger und Dark.

– Sie kamen und gingen, aber nur alle zwanzig, dreißig oder vierzig Jahre einmal. Die Leute haben es deshalb stets vergessen. Wo waren sie all die anderen Jahre?

Unterwegs. Und mehr noch! Immer im Oktober: Oktober 1846, Oktober 1860, Oktober 1888, Oktober 1910 und in diesem Oktober." Seine Stimme war kaum noch zu verstehen. "Nehmet euch vor den Männern des Herbstes in acht..."

"Was?"

"Eine Zeile aus einem alten religiösen Buch. Ich glaube, von Pastor Newgate Phillips. Hab's als Junge gelesen. Wie ging das nur?"

Er strengte sein Gedächtnis an. Er leckte sich über die Lippen. Dann fiel es ihm wieder ein.

"Für manche kommt der Herbst frühzeitig und bleibt lange im Leben, wenn der Oktober dem September folgt und der November den Oktober berührt, und statt Dezember und Christi Geburt gibt es keinen Stern von Bethlehem, kein Jubilieren, sondern es kommt wiederum der September und der alte Oktober und so fort, all die Jahre hindurch, ohne Winter, Frühling oder belebenden Sommer. Für diese Wesen ist der Herbst die ewig gleiche, normale Jahreszeit und das einzige Wetter, sie kennen nichts anderes. Woher kommen sie? Aus dem Staub. Wohin gehen sie? Ins Grab. Regt sich Blut in ihren Adern? Nein, nur der Nachtwind. Was tickt in ihren Köpfen? Der Wurm. Was spricht aus ihrem Munde?

Verlockung. Was blickt aus ihrem Auge? Die Schlange.

Was lauscht mit ihren Ohren? Der Abgrund zwischen den Sternen. Sie suchen in den Stürmen nach menschlichen Seelen, essen das Fleisch der Erkenntnis, füllen die Gräber mit Sündern. So treiben sie es immer weiter. In Schwärmen kriechen sie wie Käfer, schleichen, sickern, bewegen sich, lassen die Monde düster scheinen und hüllen alle klar fließenden Bäche in Nebel. Die Spinnwebe hört sie, zittert – zerreißt. Das sind die Männer des Herbstes. Nehmet euch vor ihnen in acht..."

Nach einer langen Pause stießen die beiden Jungen gleichzeitig die Luft aus.

"Die Männer des Herbstes", sagte Jim. "Ja, klar, das sind sie!"

"Dann..." Will schluckte. "Dann sind wir – Menschen des Sommers?"

"Nicht ganz." Charles Halloway schüttelte den Kopf.

"Ach, ihr seid dem Sommer näher als ich. Wenn ich wirklich je ein echter Sommermensch war, so ist das lange her. Die meisten von uns sind halb-und-halb. Der Augustmittag in uns wehrt die Novemberfröste ab. Wir leben nur von dem bißchen Unabhängigkeit, das wir uns bewahrt haben. Doch es gibt Zeiten, da sind wir alle Männer des Herbstes."

"Du nicht, Dad!"


"Sie doch nicht, Mr. Halloway!"


Er drehte sich rasch um und sah die beiden bleichen Gesichter, die ihn bewundernd ansahen. Die Jungen hatten die Hände auf die Knie gestützt, als wollten sie aufspringen.

"Man sagt nur so. Nur die Ruhe, Jungs! Ich bin nur hinter den Tatsachen her. Will, kennst du deinen Dad denn wirklich? Du solltest mich kennen, wie ich dich kenne, wenn es heißt, wir gegen sie!"

"Na ja", hauchte Jim. "Aber wer sind Sie dann?"


"Teufel, wir wissen doch, wer er ist!" protestierte Will.


"So? Wirklich?" fragte sein Vater. "Laßt mal sehen. Charles William Halloway. Nichts Ungewöhnliches dran, außer daß ich vierundfünfzig bin, und das ist immer ungewöhnlich für den, der drinsteckt. Geboren in Sweet Water, aufgewachsen in Chicago, in New York am Leben geblieben, Detroit überstanden, überall herumgekommen, schließlich hier gelandet, nachdem ich all die Jahre in den Bibliotheken des ganzes Landes zubrachte, weil ich allein sein wollte, weil ich in den Büchern nachschlagen wollte, was ich unterwegs gesehen hatte. Dann mitten im Davonlaufen – ich nannte es Reisen – im neununddreißigsten Lebensjahr, kam deine Mutter und machte mich mit einem Blick seßhaft. Also bin ich seitdem hier geblieben. Fühle mich nachts in der Bibliothek immer noch am wohlsten, wenn ich nicht draußen im Regen der anderen Menschen stehe. Ist das meine letzte Station? Gut möglich. Warum bin ich überhaupt hier? Im Augenblick, wie es scheint, um euch zu helfen."

Er hielt inne und sah die beiden Jungen mit ihren prächtigen, offenen Gesichtern an.

"Ja", sagte er. "Das Spiel ist schon fast aus. Um euch zu helfen."

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