Neuntes Kapitel



Niemand auf der ganzen Welt hatte einen Namen, der so glatt über die Zunge ging.

"Jim Nightshade. Ich!"


Jim war groß, wenn er stand, lang, wenn er im Bett lag. Die Muskeln umspielten seine Knochen, die Knochen steckten locker in den Muskeln. Die Bücher lagen geschlossen neben seiner rechten Hand.

Er wartete. Seine Augen waren Zwielichtdunkel, mit Schatten darunter. Die stammten, so sagte seine Mutter, noch von einer Krankheit, an der er mit drei Jahren beinahe gestorben wäre. Er erinnerte sich immer noch daran. Sein Haar hatte das dunkle Braun herbstlicher Kastanien, und die Adern an Stirn und Schläfen, am Hals und an den Gelenken sahen alle blau aus. Er war dunkel marmoriert, dieser Jim Nightshade – ein Junge, der mit zunehmendem Alter immer weniger redete und immer seltener lachte.

Bei Jim war es so, daß er stets die Welt vor Augen hatte und nie den Blick abwenden konnte. Wenn man sein ganzes Leben lang niemals wegsieht, dann hat man mit dreizehn schon soviel gesehen wie andere mit zwanzig.

Will Halloway war jung und blickte immer darüber hinweg oder daran vorbei. Er hatte mit dreizehn erst sechs Jahre Schauen hinter sich gebracht.

Jim kannte jeden Zentimeter seines Schattens so genau, daß er ihn aus Dachpappe ausschneiden und als sein Banner an einem Mast hissen konnte.

Will bemerkte manchmal überrascht, daß sein Schatten ihm folgte, doch das war schon alles.

"Jim? Noch wach?"

"Ja, Mom."


Eine Tür öffnete und schloß sich. Dann fühlte er ihr Gewicht auf der Bettkante.

"Jim, deine Hände sind wieder wie Eis. Du solltest das Fenster nicht so weit aufmachen. Wirst dich noch erkälten."

"Sicher, Mom."


"Sag das nicht immer so. Wie das ist, weißt du erst, wenn du auch drei Kinder verloren hast."

"Ich werd nie welche haben."


"Das sagst du nur so."


"Ich weiß es. Ich weiß immer alles."


Sie wartete einen Augenblick. "Was weißt du?"


"Hat keinen Sinn, noch mehr Menschen in die Welt zu setzen. Sie sterben doch."

Seine Stimme klang sehr ruhig und fast traurig. "So ist es."

"Das ist nicht alles. Du bist da, Jim. Wenn du nicht wärst, hätte ich längst aufgegeben."

"Mom." Langes Schweigen. "Mom – kannst du dir Dads Gesicht vorstellen? Bin ich wie er?"

"An dem Tag, wo du weggehst, wird er für immer weggehen."

"Wer geht weg?"


"Jim, auch wenn du so daliegst, rennst du. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich im Schlaf so viel bewegt. Versprich mir eines, Jim. Wenn du einmal weggehst und wiederkommst, dann bring mir eine Menge Enkelkinder mit. Laß sie wild aufwachsen. Ich möchte sie eines Tages verwöhnen."

"Ich werde niemals etwas besitzen, was mir weh tun kann."

"Willst du nur Steine um dich sammeln, Jim? Nein, eines Tages wird's dich auch treffen."

"Nein, gewiß nicht."


Er blickte sie an. Ihr hatte man schon vor langer Zeit weh getan. Die Spuren der Schläge waren immer noch um die Augen herum zu sehen.

"Du lebst, also wird man auch dir weh tun", sagte sie im Dunkeln. "Aber sag's mir, wenn's so weit ist. Sag mir Lebewohl. Sonst lasse ich dich vielleicht nicht gehen. Wäre das nicht schrecklich – wenn ich dich ganz einfach festhalte?"

Sie stand plötzlich auf und schloß das Fenster.


"Warum haben Jungen nur ihr Fenster immer so weit offen?"

"Heißes Blut."


"Heißes Blut." Sie stand ganz still und allein da.

"Davon kommen all unsere Sorgen. Frag mich nicht, warum!"

Die Tür fiel ins Schloß.


Sobald Jim allein war, öffnete er wieder das Fenster und beugte sich weit hinaus in die vollkommen klare Sternennacht... Gewitter, bist du da? dachte er.

Ja.


Er spürte es. Im Westen. Ein Mordsding. Es raste daher.

Der Blitzableiter warf einen Schatten unten auf die Einfahrt.

Jim sog die kühle Nachtluft ein und atmete mit ungeheurer Erleichterung die Hitze aus.

Warum steige ich nicht da hinauf, reiße den Blitzableiter vom Dach und werfe ihn weg, überlegte er.

Mal sehen, was dann geschieht.

Ja. Sehen, was dann geschieht.

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