Vierundvierzigstes Kapitel



Irgendwo in der Nähe lag Charles Halloways Hand in einem weißglühenden Schmelzofen. Sie bestand nur noch aus schieren Nerven und Schmerzen. Er schlug die Augen auf. Im gleichen Augenblick vernahm er einen tiefen Atemzug. Die Tür fiel zu, und eine Frauenstimme sang unten auf dem Flur:

"Alter Mann, alter Mann, alter Mann..."


Wo eigentlich seine linke Hand sein mußte, befand sich nur ein geschwollener, blutiger Pudding, in dem es so schmerzhaft pochte und zog, daß sein ganzes Leben, seine ganze Aufmerksamkeit, sein ganzer Wille sich auf die Hand konzentrierten. Er versuchte sich aufzusetzen, aber der Schmerz warf ihn wieder zu Boden.

"Alter Mann..."


Ich bin nicht alt! Vierundfünfzig ist doch kein Alter, dachte er wütend.

Und da kam sie schon über den ausgetretenen Steinboden herangeschlichen. Ihre Spinnenfinger glitten über Buchrücken mit Brailleschrift, ihre Nase sog die Schatten ein.

Charles Halloway duckte sich und kroch davon, riß sich zusammen und kroch weiter, auf den nächsten Bücherstapel zu. Mit den Zähnen zerbiß er die Schmerzen. Er mußte fort aus ihrer Reichweite, mußte eine Stelle erreichen, von wo aus er Bücher als Wurfgeschosse gegen die nächtlichen Eindringlinge gebrauchen konnte...

"Alter Mann, ich hör dein Atmen..."


Sie trieb auf seiner Welle näher. Von jedem zischenden Atemzug seiner Schmerzen wurde ihr Körper angezogen.

"Alter Mann, ich spür deine Schmerzen..."


Wenn er nur die Hand mitsamt den Schmerzen zum Fenster hinauswerfen könnte! Dort draußen auf der Straße würde sie dann liegen und schlagen wie ein Herz, würde die Hexe weglocken mit ihrem schrecklichen inneren Feuer. Er stellte sich vor, wie er draußen auf der Straße kauerte und wie ihre Krallen nach seiner Gurgel griffen, ein verlassenes Stück Delirium.

Aber nein, seine Hand blieb, wo sie war. Sie glühte, vergiftete die Luft und beschleunigte den Schritt der seltsamen Zigeunerhexe. Ihr bösartiges Zischen kam immer näher.

"Sei verdammt!" schrie er. "Nun mach schon! Hier bin ich!"

Die Hexe fuhr rasch herum wie eine schwarze Kleiderpuppe auf Gummirollen und war schon über ihm.

Er schaute sie nicht einmal an. Schwere Gewichte von Leid. Erschöpfung und Verzweiflung nahmen ihn voll in Anspruch. Er brachte sich nur dazu, das Innere seiner Lider zu betrachten, wo sich ständig wandelnde, vielfältige Formen des Entsetzens zuckten und hüpften.

"Sehr einfach." Das Flüstern beugte sich zu ihm nieder. "Halt das Herz an."

Warum nicht, dachte er undeutlich.


"Langsam", murmelte sie.


Ja, dachte er.


"Langsam, ganz langsam."


Sein Herz, das eben noch so laut gepocht hatte, fiel einer seltsamen Krankheit anheim, es wurde unruhig, dann ruhig, immer ruhiger.

"Viel langsamer noch, viel langsamer...", raunte sie ihm zu.

Ich bin müde, ja, hörst du das, Herz, dachte er.


Sein Herz hörte es. Wie eine geballte Faust begann es sich zu entspannen, ein Finger nach dem anderen.

"Hör ganz auf, vergiß alles, für immer", wisperte sie.


Nun, warum eigentlich nicht?


"Langsamer, am langsamsten."


Sein Herz stolperte.


Und dann öffnete Charles Halloway ohne besonderen Grund noch einmal die Augen, vielleicht nur, um seine Schmerzen endgültig loszuwerden oder um noch einen allerletzten Blick in die Runde zu werfen. Er sah die Hexe.

Er sah ihre Finger, wie sie die Luft bearbeiteten, sein Gesicht, seinen Leib, das Herz in seiner Brust, die Seele in dem Herzen. Ihr fauliger Atem erfüllte ihn, und unendlich gespannt beobachtete er, wie ihr das Gift von den Lippen träufelte. Er betrachtete die Fältchen ihrer zugenähten Augen, den Monsterhals, die mumifizierten Ohren, das ausgetrocknete Flußbett der gefurchten Stirn. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er einen anderen so genau betrachtet. Sie war ein Rätsel, ein Puzzle, und wenn er es zusammenfügte, dann konnte er das größte Geheimnis des Lebens erkennen. In ihr lag die Lösung, und schon im nächsten Augenblick mußte alles glasklar werden – nein, im übernächsten Augenblick, gleich...

Schau dir diese Skorpionfinger an! Hör nur, wie sie singt, wie sie die Luft leise erzittern läßt, das Ticken, das Ticken...

"Langsam!" flüsterte sie. "Langsam!" Und gehorsam wurde sein Herz an den Zügel genommen. Tick-tick machten ihre Finger.

Charles Halloway schnaubte und kicherte leise.


Er hörte es. Warum? Wie kann ich – kichern – in einem solchen Augenblick?

Die Hexe zuckte einen Viertelzoll zurück, als habe sie eine seltsame, verborgene elektrische Fassung mit nassem Knöchel berührt und einen Schlag bekommen.

Charles Halloway bemerkte ihr Zucken und bemerkte es doch nicht, spürte ihr Zurückweichen, konnte aber keinen Nutzen daraus ziehen, denn sofort ergriff sie wieder die Initiative, beugte sich noch weiter vor, berührte ihn nicht, aber gestikulierte lautlos über seiner Brust, als wollte sie das Pendel einer antiken Uhr mit ihrer Zauberkraft zum Stillstand bringen.

"Langsam!" rief sie.


Er dachte nichts, aber aus seinem Innern drang ein idiotisches Lächeln an die Oberfläche und setzte sich unter seiner Nase fest.

"Ganz langsam!"


Ihr Fieber, ihre Erregung, die sich in Wut verwandelte, war ihm wie ein Spielzeug. Ein Teil seiner Aufmerksamkeit, die bisher geschlummert hatte, tastete jede Pore ihres maskenhaften Gesichts ab.

Unwiderstehlich wurde ihm das Wichtigste klar: Nichts war mehr wichtig. Am Ende erschien ihm dieses Leben als eine einzige gigantische Farce. Man konnte nur auf der einen Seite des Korridors zurücktreten und seine sinnlose Länge, seine unnötige Größe bestaunen, ein Berg von so lächerlichen Ausmaßen, daß man wie ein Zwerg im Schatten steht und sich über den Pomp des Lebens lustig macht. Mit dem Tod vor Augen dachte er nun dumpf, aber hellsichtig über eine Milliarde Nichtigkeiten nach, über Ankunft und Abfahrt, über idiotische Exkursionen, die er als Junge, als junger Mann, als Mann und als alter Esel unternommen hatte. Er hatte alle Arten von Schwächen, Tricks und Spielsachen seines Egoismus angesammelt, und das alles schwand nun zwischen den Korridoren alberner Bücher dahin. Und nichts von allem war grotesker als dieses Ding da, die Hexe, die Zigeunerin, die im Staub lesen konnte – spaßig, nichts weiter! Sie kitzelt die Luft! Albern! Weiß sie denn nicht, was sie tut?

Er öffnete den Mund.


Ganz von selbst, ein Kind, geboren von ahnungslosen Eltern, brach schallendes Gelächter aus ihm hervor.

Die Hexe taumelte zurück.


Charles Halloway sah nichts. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, den Spaß wie Sand durch seine Finger rieseln zu lassen, der Fröhlichkeit, die sich aus seiner Kehle Bahn brach, nachzulauschen, mit geschlossenen Augen zu spüren, wie das Lachen gleich einem Schrapnell in alle Richtungen zerplatzte.

"Du!" schrie er und meinte niemanden, sich, sie, alle, die anderen – alles. "Wie komisch! Du!"

"Nein!" protestierte die Hexe.


"Hör auf zu kitzeln!" keuchte er.


"Nein!" keuchte sie verzweifelt. "Nicht! Schlafen! Schlaf! Langsam! Ganz langsam!"

"Nein, ist das komisch!" Er lachte lauthals. "Ha-ha! Nein, hör auf damit!"

"Ja, hör auf, Herz!" kreischte sie. "Bleib stehen, Blut!"


Ihr eigenes Herz mußte beben wie eine Trommel, ihre Hände zitterten. Mitten in der Bewegung hielt sie inne und spürte, wie dumm ihr Gestikulieren war.

"O mein Gott!" Er lachte Tränen. "Laß endlich meine Rippen in Ruhe. Oh – ha-ha! Schlag weiter, mein Herz!"

"Das Herz – jaaaaa!"


"Gott im Himmel!" Er riß die Augen auf, schnappte nach Luft, und dann wurde ihm alles klar, wie reingewaschen mit Wasser und Seife. "Spielzeug! In eurem Rücken stecken noch die Schlüssel. Wer hat euch denn aufgezogen?"

Noch ein brüllendes Gelächter schlug der Frau entgegen, verbrannte ihr die Finger, versengte ihr das Gesicht – so schien es jedenfalls; denn sie schreckte zurück wie vor einem feurigen Ofen, wickelte die gerösteten Hände in ägyptische Lumpen, raffte sich auf, stolperte zurück, hielt inne und machte sich dann langsam, Zoll für Zoll, Schritt für Schritt, auf den Rückzug. Sie stieß an Bücherregale, tastete haltsuchend über Buchrücken und riß sie zu Boden. Ihre Stirn krachte gegen uralte Geschichten, eitle Theorien, aufgespeicherte Zeit, versprochene, aber vertane Jahre. Gejagt und gepeitscht von seinem Gelächter, das vielfaches Echo zurückwarf und die marmornen Gewölbe ausfüllte, wirbelte sie schließlich herum, zerkratzte mit ihren Klauen die wildgewordene Luft und floh die Treppe hinab.

Sekunden später schob sie sich gerade noch durch das Tor nach draußen. Es krachte hinter ihr ins Schloß.

Ihr Sturz, das krachende Tor, das alles brachte ihn so zum Lachen, daß er sich kaum noch halten konnte.

"O Gott! Bitte, laß das aufhören, bitte!" betete er.


Allmählich ließ ihn der Heiterkeitsausbruch los.


Aus dem brüllenden Gelächter wurde endlich ehrliches Lachen, leises, fröhliches Lachen, leises Kichern, dann wich es sanft von ihm, und er bekam wieder Luft. Er schüttelte heiter und bekümmert den Kopf und spürte den angenehmen Schmerz in seinen Rippen, in seiner Kehle, aber aus der Hand war er verschwunden. Er lehnte sich gegen den Bücherstapel, legte den Kopf an ein gutes, vertrautes Buch, und salzig rannen ihm die Tränen gelöster Heiterkeit über die Backen. Plötzlich spürte er, daß sie fort war.

Warum, fragte er sich. Was habe ich denn getan?


Mit einem letzten lauten Lachen erhob er sich langsam.


Was war geschehen? O Gott, ich muß wieder klar denken! Zuerst zum Drugstore, ein halbes Dutzend Aspirintabletten gegen die verletzte Hand, um eine Stunde Ruhe zu bekommen – dann nachdenken.

Nachdenken! In den letzten fünf Minuten hast du einen Sieg errungen – oder etwa nicht? Wie schmeckt denn der Sieg? Denk nach! Versuch dich zu erinnern!

Er lächelte seine linke Hand an, die wie ein komisches totes Tier in der angewinkelten rechten Armbeuge ruhte, dann eilte er durch nächtliche Korridore und hinaus in die Stadt...

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