Zweites Kapitel
Nichts auf der ganzen Welt kommt Büchern gleich, die von Wasserkuren, tausendfachem Tod oder weißglühenden Lavaströmen handeln, die sich über Burgmauern auf komische Figuren und Marktschreier ergießen.
Sagte Jim Nightshade, und etwas anderes las er nicht. Seine Bücher handelten davon, wie man eine Bank überfällt, wie man Katapulte baut oder schwarze Fledermauskostüme für den Mummenschanz macht.
Jim konnte reden.
Und Will, der konnte zuhören.
Sie hatten den Blitzableiter auf Jims Dachfirst genagelt; Will war stolz, Jim schämte sich dieses Zeichens von Feigheit, wie er sagte. Es war jedenfalls spät geworden und höchste Zeit für ihren wöchentlichen Gang zur Bibliothek.
Wie alle Jungen gingen sie nie irgendwohin, sondern sie machten ein Ziel aus und schossen dann darauf los, was-haste-was-kannste. Keiner von beiden gewann.
Keiner wollte gewinnen. Sie wollten nur als Freunde immer weiter und weiter rennen, Seite an Seite, Schatten an Schatten. Ihre Hände klatschten gleichzeitig gegen die Tür der Bibliothek, gleichzeitig durchrissen sie Zielbänder beim Wettlauf, ihre Tennisschuhe zogen parallele Spuren über den Rasen, durch Büsche, Bäume hinauf. Keiner verlor, und gemeinsam gewannen sie und sparten sich ihre Freundschaft für andere Zeiten und andere Verluste auf.
So war es auch an diesem Abend; der Wind – erst warm, dann kühler – wehte sie am Abend um acht Uhr in die Stadt. Sie spürten Schwingen, Federn an Fingern und Ellbogen, dann blies sie plötzlich eine neue Luftströmung, ein neuer, klarer Herbstwind, geradewegs auf die Bibliothek zu.
Die Treppe hinauf, drei, sechs, neun, zwölf Stufen! Bums! Ihre Hände klatschten an die Tür.
Will und Jim lachten einander an. Alles war herrlich – der windgepeitschte Oktoberabend draußen und drin die Bibliothek, die mit grünbeschirmten Lampen und Papyrusstaub auf sie wartete.
Jim lauschte. "Was ist das denn?"
"Was? Der Wind?"
"Wie Musik..." Jim blinzelte zum fernen Horizont.
"Hör keine Musik."
Jim schüttelte den Kopf. "Ist schon wieder weg. War vielleicht gar nichts. Komm!"
Sie stießen die Tür auf und traten ein.
Dann blieben sie stehen.
Die Tiefen der Bibliothek lagen wartend vor ihnen.
Draußen in der Welt ereignete sich nicht viel. Doch hier, an diesem sonderbaren Abend, in einem aus Papier und Lederrücken aufgemauerten Land, da war alles möglich. Alles geschah hier. Hör nur! Zehntausend Menschen schrien mit so hoher, schriller Stimme, daß nur Hunde die Ohren spitzten. Millionen schleppten Kanonen, schärften Guillotinen; Chinesen marschierten bis in alle Ewigkeit in Viererreihen. Unsichtbar, lautlos – doch Jim und Will besaßen die Gabe des Gehörs, des Geruchs und Geschmacks. Die Bibliothek war eine Fabrik für Gewürze aus fernen Ländern. Hier schlummerten fremdartige Wüsteneien. Ganz vorn stand der Tisch, an dem die freundliche alte Miss Watriss die entliehenen Bücher eintrug, doch dahinter lagen Tibet, die Antarktis, der Kongo. Dort wandelte Miss Wills, die andere Bibliothekarin, durch die Äußere Mongolei und trug schweigend Brocken von Peking und Yokohama und Celebes auf dem Arm. Weit unten hinter der dritten Regalreihe raschelte im Düstern der Besen eines alternden Mannes und fegte die zu Boden gerieselten Gewürze zusammen.
Will riß die Augen auf.
Es war immer wieder eine neue Überraschung für ihn – der alte Mann, seine Arbeit, sein Name.
Das ist Charles William Halloway, dachte Will; nicht mein Großvater, nicht ein alter, entfernter Onkel, wie manche glaubten, sondern mein Vater.
Erschrak Vater beim Anblick seines Sohnes, der sich in diese unergründliche Tiefe wagte? Dad machte immer ein betroffenes Gesicht, wenn Will plötzlich vor ihm stand, als hätten sie sich ein Leben lang nicht gesehen, als sei der eine inzwischen alt geworden und der andere jung geblieben. Stand diese Tatsache zwischen ihnen?
Der alte Mann lächelte.
Vorsichtig näherten sie sich einander.
"Du, Will? Bist seit heute morgen einen ganzen Zoll gewachsen." Charles Halloway sah an seinem Sohn vorbei. "Jim? Schon wieder dunklere Augen, blassere Wangen. Wie eine Kerze, die von beiden Seiten her verbrennt, wie?"
"Hölle", sagte Jim.
"Findest du unter ›A‹ wie Alighieri."
"Von Allegorie halt ich nicht viel", sagte Jim.
Dad lachte. "Wie dumm von mir! Ich meine natürlich Dante. Sieh dir das an. Bilder von Dore. Zeigen alles, was es in der Hölle zu sehen gibt. Seelen, die bis an den Hals im Schlamm versinken. Einer hängt verkehrt herum, einem haben sie das Innerste nach außen gekehrt."
"Sackzement", sagte Jim und betrachtete die Seite von oben und von unten. Dann blätterte er weiter. "Keine Bilder von Dinosauriern?"
Dad schüttelte den Kopf.
"Drüben in der nächsten Reihe." Er schlenderte hinüber und griff ins Regal. "Da haben wir's: Pterodaktylus, der Todesfalke! Oder wie wär's mit Trommeln des Untergangs, die Sage von den Donnerechsen? Nichts für dich, Jim?"
"Brauch ich nicht."
Dad blinzelte Will zu. Will blinzelte zurück. Da standen sie nun, ein Junge mit maisfarbenem Haar, ein Mann mit mondweißem Haar, der Junge mit einem Gesicht wie ein Sommerapfel – der Alte mit dem eines Winterapfels. Dad, Dad, dachte Will, er sieht aus wie – wie ich in einem zersplitterten Spiegel!
Plötzlich mußte Will an die Nächte denken, wenn er um zwei Uhr auf die Toilette mußte und über die Häuser der Stadt hinwegblickte zu dem einsamen Licht im obersten Fenster der Bibliothek und wußte, Dad war wieder einmal länger dageblieben und las mutterseelenallein im grünen Lampendschungel. Der Anblick dieses Lichtscheins stimmte Will traurig. Es stimmte Will traurig und komisch, dieses Licht zu sehen und zu wissen, daß dieser alte Mann – er veränderte schnell das Wort – in all diesem Schatten war.
"Will", sagte der alte Mann, der Hausmeister, der zufällig sein Vater war. "Will, und du?"
"Wie?" Will schüttelte sich.
"Weiße Hüte oder schwarze Hüte?"
"Hüte?" fragte Will.
Sie gingen weiter. Dad strich mit dem Finger über die Buchrücken und erklärte: "Jim trägt große schwarze Hüte und liest die entsprechenden Bücher. Bald wird er hier von Fu Mandschu zu Machiavelli aufsteigen – weicher Filzhut, dunkel. Oder auch zu Dr. Faustus – extragroßer schwarzer Zauberhut. Für dich, Will, sind die weißen Hüte da. Ghandi. Daneben steht der heilige Thomas. Und dann, auf der nächsten Stufe – vielleicht Buddha."
"Mir egal", sagte Will. "Ich nehme die Geheimnisvolle Insel."
"Was soll das ganze Gerede über weiße und schwarze Hüte?" fragte Jim grollend.
Dad reichte Will seinen Jules Verne. "Nun, ich hab mich schon vor langer Zeit für die Farbe meines Hutes entschieden."
"Und welchen hast du genommen?" fragte Jim.
Dad war überrascht. Dann lachte er verlegen.
"Wenn du so direkt fragst, machst du mich unsicher. Will, sag Mom, ich bin bald zu Hause. Und dann hinaus mit euch beiden!
Miss Watriss!" rief er halblaut der Bibliothekarin hinter dem Tisch zu. "Da kommen Dinosaurier und geheimnisvolle Inseln!"
Die Tür krachte zu.
Draußen segelten Sterne am klaren Nachthimmel.
"Hölle." Jim hob die Nase, schnupperte nach Norden, nach Süden. "Wo bleibt das Gewitter? Der verdammte Verkäufer hat's doch versprochen. Ich muß das einfach sehen, wenn der Blitz meine Dachrinne entlangsaust."
Will ließ sich die Kleidung, die Haut, das Haar vom Wind zausen. Dann sagte er leise: "Kommt noch. Gegen Morgen."
"Wer sagt das?"
"Die Gänsehaut an meinen Armen."
"Na, großartig!"
Der Wind blies Jim davon.
Wie ein Zwillingsfalke folgte ihm Will.