Einundvierzigstes Kapitel



Ein Schatten regte sich zwischen anderen Schatten.

Charles Halloway spürte, wie sein Mut sank.


Der Schatten und der Mann, den er begleitete, brauchten lange, ehe sie auf der Schwelle des kleinen Raumes standen. Der Schatten schien sich bewußt zögernd zu bewegen, um Charles Halloway eine Gänsehaut über den Rücken laufen zu lassen und seinen Willen zu brechen. Und als der Schatten endlich ankam, da brachte er nicht einen Mann mit sich, nicht hundert Leute, sondern tausend, denen er gegenübertreten mußte.

"Ich heiße Dark", sagte die Stimme.


Charles Halloway stieß zwei Fäuste voll Luft aus.


"Bekannter unter der Bezeichnung ›Illustrierter Mann‹", sagte die Stimme. "Wo sind die Jungen?"

"Jungen?" Wills Vater drehte sich um und betrachtete den hochgewachsenen Mann im Türrahmen.

Der Illustrierte Mann sog die gelben Pollen ein, die von den uralten Büchern aufstiegen. Plötzlich wurde sich Wills Vater bewußt, daß sie deutlich sichtbar ausgebreitet dalagen. Er sprang auf, hielt inne und klappte sie dann so beiläufig wie nur möglich zu.

Der Illustrierte Mann tat, als merkte er es nicht.


"Die Jungen sind nicht zu Hause. Die beiden Häuser sind leer. Schade, sie versäumen ihre Freifahrten."

"Wenn ich nur wüßte, wo sie sind." Charles Halloway machte sich daran, die Bücher zu den Regalen zurückzubringen. "Teufel, wenn sie wüßten, daß Sie mit den Freikarten hier sind, dann würden sie vor Freude jubeln."

"So? Wirklich?" Mr. Dark ließ sein Lächeln dahinschmelzen wie ein weißrosa Lutschbonbon, auf das ihm der Appetit vergangen war. Leise sagte er: "Ich könnte Sie umbringen."

Charles Halloway nickte und bewegte sich langsamer.


"Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?" bellte der Illustrierte Mann.

"Ja." Charles Halloway wog die Bücher in seiner Hand, als könnte er so seinen Entschluß abwägen. "Aber Sie werden es jetzt nicht tun. Dafür sind Sie zu schlau. Weil Sie schlau sind, ist es Ihnen gelungen, den Zirkus über eine lange Zeit zu bringen."

"Sie haben also ein paar Zeitungen gelesen und bilden sich ein, nun alles über uns zu wissen?"

"Nein, nicht alles. Nur genug, daß mir angst wird."


"Dann soll Ihnen noch mehr angst werden", wisperte die Menge lichtscheuer Illustrationen unter dem dunklen Anzug mit dünnen Lippen. "Draußen hab ich einen meiner Freunde, der kann Sie so herrichten, daß es aussieht, als seien Sie an einem gewöhnlichen Herzschlag gestorben."

Das Blut pochte in Charles Halloways Herz, in seinen Schläfen, und der Pulsschlag verdoppelte sich.

Die Hexe, dachte er.


Seine Lippen hatten das Wort wohl geformt.


"Die Hexe." Mr. Dark nickte.


Charles Halloway stellte die Bücher bis auf eins in die Regale zurück.

"Was haben Sie denn da?" Mr. Dark blinzelte. "Eine Bibel? Wie liebenswert, wie kindisch und wie erfrischend altmodisch!"

"Haben Sie jemals drin gelesen, Mr. Dark?"


"Gelesen! Jede Seite, jeder Absatz, jedes einzelne Wort ist mir an den Kopf geworfen worden, Sir!" Mr. Dark zündete sich gemächlich eine Zigarette an und blies den Rauch erst gegen das Schild RAUCHEN VERBOTEN und dann Wills Vater ins Gesicht. "Bilden Sie sich wirklich ein, dieses Buch könnte mir etwas anhaben? Halten Sie Naivität wirklich für Ihre beste Waffe? Da!"

Bevor Charles Halloway etwas tun konnte, trat Mr. Dark blitzschnell vor und nahm ihm die Bibel aus der Hand. Er hielt sie in beiden Händen fest.

"Gar nicht überrascht? Sehen Sie, ich berühre sie, halte sie, lese sogar darin!"

Mr. Dark blies den Rauch zwischen die Seiten und blätterte.

"Haben Sie erwartet, daß ich mich nun vor Ihren Augen in tausend zuckende Stückchen auflöse? Das sind leider nur Ammenmärchen. Das Leben – und damit könnte ich vielerlei faszinierende Dinge meinen – geht weiter, macht sich selbständig, zuckt wie wild, und ich bin unter vielen vielleicht einer der Wildesten. Ihr Herr Luther und seine literarische Darstellung von ziemlich langweiligen poetischen Überlieferungen ist mir kaum soviel Zeit und Mühe wert."

Damit schleuderte Mr. Dark die Bibel in einen Papierkorb und verschwendete keinen Blick mehr darauf.

"Ich höre Ihr Herz wie wild klopfen", sagte Mr. Dark.


"Meine Ohren sind nicht so hellhörig wie die der Hexe, aber manches vernehmen sie doch. Sie sehen mir über die Schulter. Die Jungen verstecken sich also irgendwo da in den Büchergefilden? Gut. Ich möchte sie nicht entkommen lassen. Ihr Gefasel würde ihnen zwar keiner glauben, es wäre sogar eine gute Reklame für meinen Zirkus, wenn die Leute bibbern und nachts nicht schlafen können. Dann kommen sie, uns in Augenschein zu nehmen, fahren sich nervös mit der Zunge über die Lippen und überlegen, ob sie etwas in unsere besonderen Versicherungen investieren sollen. Sie haben auch herumgeschnüffelt, und nicht nur aus reiner Neugier. Wie alt sind Sie?"

Charles Halloway preßte die Lippen aufeinander.


"Fünfzig?" schnurrte Mr. Dark. "Einundfünfzig? Zweiundfünfzig? Möchten Sie gern jünger sein?"

"Nein!"


"Deshalb brauchen Sie doch nicht zu schreien. Immer höflich, wenn ich bitten darf." Summend ging Mr. Dark durch den Raum und fuhr mit der Hand über die Bücherrücken, als wären es Jahre, die er zählte. "Wirklich, es ist schon angenehm, jung zu sein. Wieder vierzig, wär das nicht nett? Vierzig ist um zehn Jahre netter als fünfzig und dreißig um zwanzig Jahre, das macht unglaublich viel aus."

"Ich höre Ihnen nicht zu!" Charles Halloway schloß die Augen.

Mr. Dark legte den Kopf schief, zog an seiner Zigarette und betrachtete ihn. "Seltsam, daß Sie die Augen zumachen, wenn Sie nicht zuhören wollen. Wäre besser, wenn Sie die Hände an die Ohren drücken..."

Wills Vater preßte die Hände gegen die Ohren, aber die Stimme drang trotzdem durch.

"Ich will Ihnen mal was sagen." Mr. Darks Stimme klang beiläufig, und er beschrieb mit der Zigarette einen Kreis in der Luft. "Wenn Sie mir innerhalb von fünfzehn Sekunden helfen, schenke ich Ihnen Ihren vierzigsten Geburtstag. Zehn Sekunden, und Sie können den fünfunddreißigsten feiern. Ein herrliches Alter! Im Vergleich ist es geradezu eine Wohltat. Ich zähle nach meiner Uhr, und bei Gott, wenn Sie sich beeilen und gescheit sind, schneide ich vielleicht sogar dreißig Jahre von Ihrer Lebenszeit ab! Die Gelegenheit, wie auf den Plakaten steht. Denken Sie mal darüber nach! Noch einmal von vorn beginnen, alles herrlich und neu und wunderbar, alles können Sie noch einmal tun und denken und genießen. Ihre letzte Chance! Los geht's. Eins. Zwei. Drei. Vier..."

Charles Halloway wandte sich ab, halb geduckt lehnte er sich an die Regale und knirschte mit den Zähnen, um das Zählen nicht hören zu müssen.

"Sie verlieren immer mehr, alter Freund", sagte Mr. Dark. "Fünf. Verlust. Sechs. Großer Verlust. Sieben. Jetzt wird's wirklich brenzlig. Acht. Da geht's hin. Neun. Zehn. Herr im Himmel, Sie Narr! Elf. Halloway! Zwölf. Fast vorbei. Dreizehn. Aus! Vierzehn! Verloren! Fünfzehn! Aus, für immer dahin!"

Mr. Dark ließ den Arm mit der Uhr sinken.


Charles Halloway hatte sich keuchend abgewandt und das Gesicht im Duft alter Bücher vergraben. Er spürte vertraut und beruhigend das alte Leder. Es schmeckte nach dem Staub von Friedhöfen und nach gepreßten Blumen.

Mr. Dark stand schon in der Tür. Er war im Begriff zu gehen.

"Bleiben Sie, wo Sie sind!" befahl er. "Lauschen Sie Ihrem Herzen. Ich schicke Ihnen jemanden, der's in Ordnung bringt. Aber erst muß ich die Jungen finden."

Die Meute nie schlafender Kreaturen, reitend auf starkem Fleisch, schwang sich leise hinaus in die Dunkelheit. Mr. Dark trug sie überall an sich. In seinem heiseren Ruf klangen ihre Schreie, ihr Wimmern, ihre vagen, doch unüberhörbaren Rufe gespannter Erwartung mit.

"Na, ihr Jungen? Seid ihr da? Wo ihr auch steckt – meldet euch!"

Charles Halloway sprang einen Schritt vor, dann spürte er, wie sich der Raum rings um ihn drehte, während die weiche, leise, fast angenehme Stimme von Mr. Dark durch die Dunkelheit klang. Charles Halloway taumelte gegen einen Stuhl und dachte: Mein Herz! Er sank auf die Knie und sagte: "Höre, mein Herz! Es explodiert! Gott, es reißt sich aus meiner Brust los!" Und er konnte nicht folgen.

Der Illustrierte Mann schlich auf Katzenpfoten durch das dunkle Labyrinth wartender Bücher.

"Jungens? Hört ihr mich..."


Schweigen.


"Hallo... Jungens..."



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