7 Tod im Wald

AC. 308, Vorfrühling

Flint haßte Pferde – er behauptete, er wäre dagegen allergisch und würde sie nicht einmal reiten, wenn es um sein Leben ginge – nun, dann vielleicht. Auf jeden Fall klopfte er seinem grauen Maultier Windsbraut den Hals und betrachtete voller Freude die silbernen Espen und dicken Eichen von Qualinesti.

Nach zwanzig Jahren Kommen und Gehen zwischen Solace und dem Sonnenturm war ihm der Pfad nach Qualinost schon beinahe vertraut – was außer den geschulten Führern, die von der Stimme der Sonne beauftragt wurden, Besucher hin- und zurückzubringen, nur wenige Elfen von sich behaupten konnten. Natürlich nahm er gelegentlich die eine oder andere falsche Abzweigung, aber ein Hügelzwerg, der nicht anhand der Zeichen des Waldes seinen Weg finden konnte, war ein schwaches Bild von einem Zwerg, fand er.

Um jedoch die Wahrheit zu sagen, war er sich im Moment nicht ganz klar darüber, wo er sich befand. Er richtete sich auf und bemerkte den schweren Erdgeruch des Waldes. Ein Eichhörnchen keckerte ihn von einer Eiche her an und warf einen Klumpen grüner Blätter auf ihn herunter. Der Zwerg griff mit seinen dicken Fingern zu, schnappte sich das Bündel und warf es zu dem Tier zurück. »Heb dir das auf für dein Nest!« schrie er. »Wenn ich mich nämlich nicht irre, bist du zur Zeit mit Familienpflichten beschäftigt.« Ein weiteres Eichhörnchen erschien auf dem Zweig daneben, und das erste warf dreisterweise noch ein letztes Mal nach dem berittenen Zwerg und schoß dann dem zweiten hinterher.

Flint holte tief Luft. Es war Frühling – Zeit, nach Qualinost aufzubrechen. Als er sich zum ersten Mal, in jenem Herbst nach seinem ersten Aufenthalt in der Elfenstadt, auf den Rückweg nach Solace gemacht hatte, war er in dem Moment in ein Schneegestöber geraten, in dem er die ersten hohen Vallenholzbäume erreichte, die das Dorf Solace in ihren Ästen trugen. Sein Elfenführer war schnell wieder verschwunden, und Flint hatte allein zu seinem kleinen Haus am Boden stapfen müssen. Sein Heim war kalt und leer bis auf eine einzelne Maus, die in der Ecke kauerte.

Das war ein einsamer Winter gewesen, damals vor zwanzig Jahren, trotz des warmen Kamins und der Gesellschaft im Wirtshaus »Zur Letzten Bleibe«. Im nächsten Frühjahr hatte er gemerkt, wie seine Gedanken zu den Wäldern von Qualinost schweiften. Er fragte sich, wie es Tanis wohl ging.

Es verging nicht einmal eine Woche, bis Flint einen Fremden im Wirtshaus »Zur Letzten Bleibe« traf, der sich als Qualinesti mit einer Nachricht der Stimme entpuppte: Flint würde willkommen sein, falls er wiederkommen wollte. Und das tat er. Sein nächster Aufenthalt in Qualinost dauerte über ein Jahr, bis er sich wieder nach menschlicher Gesellschaft sehnte. Mit der Zeit hatte es sich dann so eingespielt, daß er von den ersten Frühlingstagen bis zum allerletzten Herbsttag in Qualinost lebte. Mittlerweile fragte er sich, warum er überhaupt noch in sein freudloses, kleines Haus in Solace zurückkehrte.

Die Stimme der Sonne schickte inzwischen nicht mehr jedes Frühjahr nach dem Zwerg, denn Solostaran wußte, daß Flints Liebe zu Qualinost ihn gen Süden ziehen würde, bis der Zwerg eines Frühlingsmorgens über die Westbrücke der Stadt marschiert käme. Flint mit seiner Höhenangst überquerte die Brücke nie ohne ganze Tiraden von Flüchen, bei denen selbst ein Matrose aus Kargod rot geworden wäre.

Sein Einzug amüsierte die Elfen immer wieder.

Jetzt aber hatte er noch einen mehrstündigen Ritt vor sich. Er stieß die schwer beladene Windsbraut mit den Absätzen in die Flanken, weil er hoffte, sie würde wenigstens einmal ohne Widerspruch losrennen.

Natürlich bockte sie.

Han-Telio Teften hatte eine gute Handelsreise gehabt. Er pfiff vor sich hin und segnete – nicht zum ersten Mal – die Stimme der Sonne, dessen großzügigere Einstellung gegenüber Beziehungen mit Nichtelfen es in den letzten Jahren einfacher gemacht hatte, vom Handel zu leben.

Die braunen Augen des jungen Elfen glänzten, als er zum fünfzigsten Mal auf dieser Reise seine schlanke Hand in die leinenen Satteltaschen steckte, wobei er jedesmal unbewußt den Knoten fester zog, der die Tasche fast geschlossen hielt. Der Pfad wurde breiter, und er ritt mit seinem Pferd auf eine kleine Lichtung, wo er einen kleinen Lederbeutel hervorzog und den Inhalt auf seine Handfläche schüttete. Drei weiße Opale glänzten durchscheinend auf seiner gebräunten, vom Wetter gezeichneten Hand.

»Wunderschön«, flüsterte er. »Und der Schlüssel zu meinem Glück.«

Zur Linken raschelte es im Gebüsch, und mißtrauisch hob er den Kopf. In Qualinesti waren seit Jahren keine Räuber mehr aufgetaucht, aber in den letzten Monaten waren einige Reisende spurlos verschwunden. Nachdem er minutenlang gewartet hatte, ohne daß etwas geschah, bewunderte Han-Telio lieber wieder die Opale und malte sich die herrlichen Dinge aus, die sie ihm einbringen würden.

»Als erstes ein Haus«, überlegte er. »Und Möbel natürlich. Und ein Stück Land für meine Ginevra, wo sie ihre Duftkräuter anbauen kann.«

Dann war da natürlich noch Ginevra selbst, die dunkeläugige Elfin, die versprochen hatte, ihn zu heiraten, sobald er seinen Teil der Hochzeitskosten tragen konnte. Ihr praktisch orientiertes Versprechen hatte ihn dazu angespornt, Monate auf der Straße zu verbringen, um zarten Elfenschmuck, Seidenkleider, Quarzskulpturen und natürlich die beliebten Kräuterheilmittel zu verkaufen. Und jetzt hatte er endlich genug verdient.

Er sah das Wesen nicht gleich. Es war der Geruch, der ihm als erstes auffiel – ein Geruch nach verrottendem Unrat. Der Gestank und das plötzliche Zittern seines Pferdes weckten seine Aufmerksamkeit.

Han-Telio sah auf und merkte, wie seine Glieder bleiern wurden. Keine zwanzig Schritte vor ihm wartete auf dem Pfad ein riesiges, echsenähnliches Wesen. Seine Haut war schlammfarben, von der gleichen Schattierung wie der Pfad hinter ihm. Aus den Augenbrauen der Echse wuchsen armlange Hörner nach hinten. An beiden Vorderfüßen saßen fünf Zehen mit Klauen von der Länge einer Hand. Sein Mund stand leicht offen, so daß bei jedem Ausatmen eine neue Wolke übelriechenden Atems auf den Händler zutrieb. Das Wesen, das einem Drachen ohne Flügel glich, hatte einen verhornten Körper, der viermal so lang war wie ein Elf hoch, und einen nur wenig kürzeren, dünnen, peitschenartigen Schwanz.

»Ein Tylor!« sagte der Händler. Diese Monster waren selbst in den trockenen Regionen, die sie bevorzugten, selten. Noch nie hatte man einen in den Wäldern von Qualinesti gesehen. Und obwohl der Händler sich auf seinen Reisen weit vom Heimatland der Elfen entfernt hatte, hatte er noch nie einen Tylor zu Gesicht bekommen.

Aber er wußte, daß sie stark waren und magische Kräfte besaßen, falls reine Gewalt nicht ausreichte. Ein Tylor bedeutete den sicheren Tod.

Han-Telios Pferd stand stocksteif vor Angst, mit aufgerissenen Augen und geblähten Nüstern, wie angewurzelt da. Han-Telio riß an den Zügeln, doch das Tier beachtete seine Kommandos und Tritte nicht. Im Wald war kein Laut zu hören bis auf das Knirschen der Eichenäste über ihm.

»Dein Pferd wird sich nicht rühren, Elf.«

Han-Telio blickte sich verzweifelt in der Hoffnung um, daß Rettung – am besten jemand, der besser bewaffnet war als ein Händler – zu Hilfe käme, um sich mit ihm in den Kampf zu stürzen. Der Tylor hatte mit tiefer, krächzender Stimme gesprochen, als ob der Wind über Sandsteinschuppen wehte. Über Schuppen… Han-Telio merkte, wie ihn die Angst abermals überwältigte. Er sah die Echse an.

»Richtig, Elf. Ich kann sprechen.«

Der Tylor konnte Gemeinsprache.

Jetzt begann Han-Telio endlich zu handeln. Er steckte die Opale in eine Tasche seiner geteilten Tunika und versuchte dann mit zitternden Händen, seine Satteltaschen weiter aufzuziehen, um das Kurzschwert herauszuholen, das er dort aufbewahrte. Sein Gegner trat inzwischen zwei Schritte auf ihn zu. Sein gefährlicher, scharfkantiger Schwanz zuckte.

Doch der Knoten in der Schnur, die die Satteltaschen verschloß, widerstand seinen Bemühungen und war nicht zu öffnen. Der Tylor kam noch einen Schritt näher; der Gestank wurde immer schlimmer. Han-Telio kannte ihn.

Es war der Gestank von verfaultem Fleisch.

»Wo willst du denn hin, Elf? Es sieht nicht so aus, als wenn dein Pferd dich noch weiter tragen will.«

Han-Telio wußte nicht, weshalb er antwortete. »Zu Ginevra«, erwiderte er, während er mit der einen Hand an den Zügeln riß, mit der anderen an den Satteltaschen. Er atmete stoßweise. »Ich muß nach Hause zu Ginevra.«

Schließlich zerriß der Händler mit der Kraft der Verzweiflung die Schnur und zog sein Kurzschwert.

Als Han-Telio wieder aufblickte, stand der Tylor nur noch wenige Schritte entfernt. Er wiegte seinen Kopf, um sein Opfer zu hypnotisieren. Der Händler sah mit fasziniertem Entsetzen zu, wie das Tier erst an einem Strauch, dann an einem Quarzfelsen vorbeikam und sich dabei erst grün, dann rosarot verfärbte, um schließlich wieder die Schlammfarbe des graubraunen Pfades anzunehmen. Tarnung, dachte der Elf überflüssigerweise.

»Ein kleiner Zahnstocher wie dieses Kurzschwert wird dir gegen meinesgleichen wenig helfen, Elf!« brüllte das Monster, dessen gepanzertes Gesicht nur noch zwei Armlängen entfernt war. Dann erfüllte der Tylor die Lichtung mit einem Schrei, der Han-Telio das Mark in den Knochen gefrieren ließ.

Das Pferd des Händlers bäumte sich außer sich vor Schrecken endlich auf und wandte sich zur Flucht. Doch der Tylor sprang vor und erwischte das Pferd mit seinen Pranken am Hals, während Han-Telio schreiend absprang. Der Händler schrie noch einmal, als der Schwanz des Tylors mit kobragleicher Schnelligkeit zuschlug.

Der Elfenkörper, der auf dem felsigen Boden des Wegs aufschlug, war praktisch in zwei Teile geteilt.

Drei Opale rollten ein Stück davon und blieben in einer Blutpfütze liegen.

Das Brüllen kam aus einiger Entfernung, als Flint hilflos an den Zügeln seines Maultiers zerrte und vergeblich versuchte, das Tier dazu zu bringen, die Reise nach Qualinost fortzusetzen. Einen Augenblick stand er wie angewurzelt da, seine hellwachen, blauen Augen direkt vor den blöden, braunen von Windsbraut. Dann wehte ein dünner Schrei durch den Wald, und Flints Hand fuhr zu seiner Streitaxt, als er sich auf dem Pfad drehte, um festzustellen, aus welcher Richtung die Geräusche kamen. Windsbraut scharrte hinter ihm nervös in der Erde.

Der Schrei ertönte noch einmal, diesmal lauter, endete jedoch abrupt. Er kam direkt von vorne.

»Bei Reorx’ Donnerschlag!« rief der Zwerg aus, während er sich auf Windsbrauts Rücken schwang. »Beweg dich, du verdammtes Maultier, sonst verfüttere ich dich an einen Minotaurus und sehe zu, wie er dich verputzt!«

Windsbraut reagierte plötzlich und galoppierte den Pfad hinunter, so schnell die Riesenhufe sie trugen. Flint zog beim Reiten das Kurzschwert. Zehn Minuten später – eine Ewigkeit für den besorgten Zwerg – kam Windsbraut schnaufend zum Stehen. An einer Stelle, an der sich eindeutig ein Kampf zugetragen hatte.

Der Zwerg stieg zunächst nicht ab, sondern saß da und versuchte abzuschätzen, ob das Wesen, daß dieses Gemetzel angerichtet hatte, noch in der Nähe lauerte. Die harten Eichenstämme zeigten Kerben von gewaltigen Schlägen. Schlanke Espen lagen zu Dutzenden zersplittert zu beiden Seiten des Pfades. Die festgetretene Erde unter seinen Füßen wies eindeutig einen Blutfleck auf, der bereits braun wurde. Ein Rosenquarzfelsen weiter oben war blutverschmiert. Das Blut trocknete bereits am Rand des dichten Unterholzes. Windsbraut war unruhig, als wolle sie davonrennen. Flint beruhigte das Maultier und rutschte leise aus dem Sattel.

Der Wald um sie herum war still bis auf die typischen Waldgeräusche, so als wäre alles auf Krynn ganz normal. In der feuchten Erde rechts von Flint blühten winzige Blutwurzelblümchen, doch dahinter konnte er höchstens zehn Fuß weit in das Unterholz blicken, weil alles voll junger Blätter war. Mit der Streitaxt in der rechten Hand und dem Kurzschwert in der linken wartete er. Ein leichter Wind, der nach altem Schnee, frischer Erde und salzigem Blut roch, bewegte ein paar schwarze und graue Haare an Flints Bart.

Nichts geschah.

Er entspannte sich nur ein wenig und ergriff die Zügel des Maultiers mit derselben Hand, die das Kurzschwert hielt. So lief der dicke Zwerg vorsichtig um die Lichtung und blieb zwischendurch stehen, um die Abdrücke der Klauen und der peitschenartigen Hiebe zu untersuchen, die den Wald verwüstet hatten.

»Eindeutig ein Wesen mit einem langen Schwanz«, überlegte Flint, der keinen Augenblick seine Streitaxt losließ und ununterbrochen mit scharfen Augen das Unterholz absuchte. »Wie eine Echse. Aber im Wald?«

Er merkte, wie seine Augen abschweiften, als er langsam im Kreis ging. Die Eiche, der Felsen, noch eine Eiche und ein Dutzend Espen verschwammen einfach.

»Eine Waldechse, das ist doch Unsinn«, fand er, als sein Blick an einer knubbeligen Eiche in etwa zwanzig Fuß Entfernung hängenblieb.

An einem Stück Holz, das auf halber Höhe aus dem Baumstamm ragte, klebte wieder Blut. Der Stamm darüber…

… sah ihn an.

Und die Augen verrieten Intelligenz.

Flint fühlte, wie die rasiermesserscharfen Zähne des Tylors an seinem Kopf vorbeischnappten, während der Zwerg über die Lichtung ins Unterholz stürzte. Er warf sich auf die nasse Erde und hörte mehr, als daß er es sah, wie Windsbraut vorbeipreschte. Als er sich aufrichtete, war sein Bart voller Lehm. Hastig blickte er sich nach dem Monster um. Bei Reorx’ Schmiede, was war das bloß? dachte er.

Das Wesen, das kurzfristig zwischen einer Eiche und einer Fichte hängengeblieben war, brach den Nadelbaum um und raste über die Lichtung.

Es kam genau auf Flint zu, der mit einer Geschwindigkeit davonrannte, die seine langsameren Zwergenverwandten schlichtweg erstaunt hätte. Nach etwa fünfzig Schritten hatte er Windsbraut eingeholt, die aufgrund ihrer Größe nicht so schnell durch die Bäume schlüpfen konnte wie Flint. Da das Maultier jedoch stärker war als der Zwerg, schienen die beiden Rassen etwa gleichauf zu liegen. Der blutrünstige Tylor hinter ihnen stieß die Bäume um und brüllte. Zwerg und Maultier brachen durch das Unterholz, bis Flint überhaupt keine Ahnung mehr hatte, wo sie waren.

»Reorx!« keuchte er, als er auf eine neue Lichtung rannte, das Maultier einen halben Schritt hinter sich. In der Mitte der Lichtung stand eine gewaltige, abgestorbene Eiche – so groß, daß man sechs oder sieben Mann gebraucht hätte, um sie mit den Armen zu umfassen. Auf einer Seite lag ein Schatten – nein, eine Vertiefung im Stamm.

Nein, eine Öffnung. Der Baum war hohl.

Als der Tylor hinter Flint aus dem Wald brach, schoß der Zwerg in die Öffnung im Baum. Das Maultier folgte ihm dicht auf den Fersen.

»Windsbraut!« protestierte der Zwerg, als sich das stinkende, schweißüberströmte Maultier mit ihm in das dunkle Innere der Eiche zwängte. Flint drehte sich zu dem Loch im Stamm um, weil er eigentlich vorhatte, das Maultier wieder rauszuschieben.

Aber die Öffnung war verschwunden. Der Tylor draußen brüllte und schrie vor Wut und donnerte immer wieder gegen den Baum. Dann begann er, magische Worte zu singen.

Flint fand sich in absoluter Finsternis wieder. Seine kurzen Arme hatte er um den Hals seines zitternden Maultiers geschlungen.

»Donnerwetter«, stammelte er. »Was jetzt?«

Er tastete sich an Windsbrauts Rücken zum Gepäck vor und zog Feuerstein und Stahl heraus. Kurz danach fand Flint beim Herumtasten einen Stock auf dem nadelübersäten Boden des Baums, den er anzündete. Der Stamm zitterte unterdessen vom Klang des magischen Gesangs und der Gewalt der Schläge des Tylors. Windsbraut drängte sich noch näher an den Zwerg, der sie ungnädig zur Seite schubste.

»Da rüber, Dummchen«, zischte er. Der Zwerg hielt das brennende Holzstück hoch und untersuchte den Boden des Stammes. Da war eine dünne Erdschicht, in die er seinen kurzen Finger bohrte – und dahinter Holz.

Das allein war wenig überraschend in einem hohlen Baum, doch seine Finger fühlten auch, daß etwas in das Holz eingeritzt war.

Nachdem er Windsbraut erneut beiseite geschoben hatte, fegte Flint die Erde weg, bis das Eingeritzte zu sehen war.

»Bei Reorx’ Hammer!« flüsterte er. »Eine Rune!« Er beugte sich weiter vor, ohne auf die Fackel zu achten, von der plötzlich ein Funke in die trockenen Piniennadeln flog. Die Nadeln flammten auf der Stelle hell auf und schlossen einen Kreis um den Holzboden des Stammes. Das Maultier stand bebend in dem Flammenzylinder, ohne auf Flints Versuche zu achten, es aus dem Feuer zu zerren.

Flint erfuhr nie genau, was als nächstes geschehen war. Einen Augenblick zog er noch am Halfter eines störrischen Maultiers, im nächsten Augenblick stand er in einer geräumigen Eichenkammer, und zwar offenbar tiefer als dort, wo er gerade noch gewesen war.

Die Kammer war völlig still bis auf das Keuchen eines hysterischen Packtiers und eines kaum gelasseneren Zwergs. Er hielt seine behelfsmäßige Fackel in die Höhe. In der halbkugelförmigen Kammer hätte ein ganzes Regiment bequem Platz gefunden.

»Bei den Göttern, wir sind im Herzen der Eiche!« erläuterte er dem Maultier, das wenig beeindruckt war. Der Zwerg bückte sich und stocherte mit seinem Kurzschwert am Boden herum. »Dieser Baum lebt noch.« Er richtete sich wieder auf, um sich umzusehen.

Feuerschein flackerte an den kupferbraunen Wänden aus lebendem Holz, tauchte die Knoten und Auswüchse in Schatten, beleuchtete aber die glatteren, abgerundeten Teile des Bauminneren. Mehrere Gänge schienen wie enorme, hohle Wurzeln in die Kammer zu münden.

Zur Linken schnaubte und wieherte Windsbraut, die endlich langsam ihre Angst zu verlieren schien. Das Maultier schaute sich um. Ein Ausdruck träger Neugier erwachte in seinen Augen. Dann entdeckte das Tier genau in der Mitte des Eichenraums etwas, das wie ein riesiger Wassertrog aussah, und als echtes Maultier folgte es sogleich seinem ersten Impuls. Es trottete zu dem Holztrog und schnüffelte mit bebenden Nüstern am Rand.

Das Becken war etwa fünf Fuß breit und enthielt klares Wasser. Auf der Oberfläche trieb eine Lilie – eine goldene Lilie mit den Blättern einer normalen Wasserblume, aber einer Blüte aus reinem Gold. Flint streckte die Hand aus und berührte die Blüte ehrfürchtig mit einem Finger. Etwas so Schönes konnte nicht gefährlich sein, dachte er.

»Herbei, herbei, das Portal ist frei, der Stern ist Silber, die Sonne ist Gold, wirf die Münze zum Ziel, dann greif zu und berühre das Gold.«

Flint wich zurück und sah sich mißtrauisch im Raum um, als würde er erwarten, daß eine schöne Elfenfrau mit glockenheller Stimme aus einer der wurzelartigen Höhlen trat. »Was sollte ich machen?« flüsterte er und drehte sich, als erwartete er die Antwort von ihr, zu Windsbraut um, die ihn stumpfsinnig anschaute. »Oh, daß ich ausgerechnet mit so was in einem Zauberbaum stecken muß«, sagte der Zwerg angewidert. »Also, es hieß, man soll eine Münze werfen, und das Portal ist frei. Ein Portal ist eine Tür«, erklärte er Windsbraut. »Und mir scheint, daß ich hier keine richtige Tür sehe, also wird uns vielleicht die Blume helfen. Wie meine Mutter sagen würde: ›Der Spatz in der Hand erleichtert die Sache.‹«

Flint wühlte in einer Tasche und zog die Gesamtsumme seiner winterlichen Einkünfte in Solace heraus: ein Goldstück. »Nun, wenn ich hier verhungere, ist es egal, ob ich abgebrannt bin oder nicht«, überlegte er und warf die Münze in die honigartige Flüssigkeit.

Die Flüssigkeit leuchtete auf, als würde tief unten im holzigen Fleisch der Eiche eine Lampe angehen. »Reorx!« murmelte Flint und griff hilfesuchend nach Windsbrauts Mähne. Das schweißnasse Tier stupste ihn an, als wollte es ihn ermutigen. »Also schön«, fauchte er, um dann nachdenklicher fortzufahren. »Vielleicht hätte ich das Goldstück in die Blume werfen sollen; es scheint die Lilie zu sein, die spricht.« Er berührte ein goldenes Blütenblatt und…

… plötzlich durchströmte Wärme den Körper des Zwergs, und als er sich zu seinem Maultier umdrehte (und erkannte, daß er nie bemerkt hatte, was für ein liebes, treues Tier es doch war), sah er einen ähnlich warmen Schein in Windsbrauts feuchten Augen glänzen. Später würde Flint schwören, daß in diesem Moment Musik von hundert Lauten in der Höhle erklang. Der Raum um sie herum verblaßte. Flint sah, wie sich die schweren Augenlider des Maultiers allmählich senkten, und ließ zu, daß auch seine eigenen zufielen.

Plötzlich wurde es laut, und Flint fühlte Stein anstatt Holz unter seinen Füßen. Er riß die Augen auf.

Dreckverschmiert, voller Piniennadeln und Maultierschweiß stand er da und umarmte die stinkende Windsbraut. Um ihn herum, und zwar etwas tiefer, standen mit aufgesperrtem Mund Tanis, Miral und zahlreiche Elfenhöflinge. Flint schaute sich um.

Er stand auf dem Podium des Sonnenturms. Mit Solostaran, der Stimme der Sonne. Und einem Maultier.

Windsbraut riß das Maul auf und wieherte. Flint sah das als Aufforderung zum Sprechen an.

»Nun«, sagte er, »da bin ich wieder.«

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