Das brütendheiße Wetter, das für Qualinost so ungewöhnlich war, brachte selbst ruhigen Schläfern Alpträume. Und Miral war da keine Ausnahme.
Wieder war er in der Höhle. Es tropfte von den Stalaktiten an der Decke, die von innen heraus leuchteten – die einzige Beleuchtung der Höhle. Aus dem feuchten Boden waren Stalagmiten gewachsen. Auf der schlüpfrigen Oberfläche konnte er kaum das Gleichgewicht halten.
Dann sah er nach unten und merkte, daß er die typischen dünnen Ledersandalen der Elfenkinder trug. Sein Spielanzug war von seinen vielen Stürzen dreckig und zerrissen.
Miral wußte nicht, wie lange er schon in der Höhle war. Es kam ihm vor, als wäre es tagelang, aber Zeit war für kleine Kinder etwas Fließendes. Er war nicht hungrig. Während er durch die Höhlen streifte und Tunnel um Tunnel nach der Gegenwart absuchte, die ihn rief, fand er zufällig immer dann etwas zu essen, wenn ihn der Hunger plagte. Wie ein Kind hinterfragte er diese Funde nicht. Er aß einfach, bis er genug hatte, und ging dann weiter.
Er hatte nicht richtig Angst. Wenn er müde war, fand er an der Wand ein warmes Lager mit Daunenkissen und zurückgeschlagener Flanelldecke. Und wenn er aufwachte, erwartete ihn aufgebackenes Quith-Pa mit Zimt und Zucker.
Klein-Miral hatte diese Gaben angenommen, ohne je zu fragen, wo sie herkamen. Wenn man ihn gefragt hätte, hätte er gesagt, daß sie bestimmt von seiner Mama geschickt worden waren, obwohl er die schon eine schiere Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte – seit sie ihn gerufen hatte: »Komm sofort hierher, kleiner Elf«, damals, am Eingang zur Höhle.
Er hatte keine Ahnung mehr, wo der Höhleneingang war. Er hatte keine Ahnung, wo Qualinost oder Mama waren.
Die Gegenwart rief ganz tief aus der Höhle. Der Ruf jedoch wurde von einem tosenden Summen begleitet, das den kleinen Miral ganz durcheinander brachte. Abwechselnd ängstigte und tröstete ihn das Geräusch.
Die Gegenwart wollte ihn. Sie würde ihn trösten.
Plötzlich wurde der Ruf dringlicher, als wäre die Gegenwart gleichzeitig ängstlich und wütend. Hier lang, kleiner Elf. Hier lang. Ich beschütze dich. Ich gebe dir alles, was du willst, wenn du mich nur befreist. Hier lang.
In diesem Augenblick wußte Miral, wo es lang ging. Die Gegenwart verriet es ihm. Seine kräftigen Beinchen setzte sich in Gang und liefen einen Steinkorridor nach dem anderen hinunter. Er flitzte um eine letzte Ecke, denn er wußte, daß die Gegenwart ganz nah war, und…
Plötzlich blitzte Licht durch die neue Kammer, in der Miral sich wiederfand. Eine Weile konnte er nichts sehen. Die Gegenwart erschien ihm nicht mehr als das große Gute. Statt dessen war sie überwältigend böse.
Er wurde ganz heiser vor Schreien, brüllte nach seiner Mama und rannte im Kreis vor dem Summen davon, das die Höhle beben ließ, die plötzlich weder Eingänge noch Ausgänge hatte. In der Mitte der Höhle war die Quelle des Lärms, des Lichts, des Schreckens, das verstand er selbst in seiner kindlichen Unschuld. Da stand ein pulsierender Edelstein, der größer war als sein Kopf. Seine geschliffenen Seiten schossen graue und rote Strahlen in jede Vertiefung in den Felsen ab. Seine Augen taten weh, aber wenn er sie zumachte, blieben die Strahlen trotzdem nicht draußen. Wieder fing er an zu schluchzen.
Das graue Juwel wollte ihn. Seine Worte dröhnten in Mirals kleinem Kopf. Befrei mich. Laß mich frei, dann gebe ich dir alles, was du willst. Bilder von Spielzeug, von Mama, von Eld Ailea und von leckerem Essen tauchten nacheinander vor seinen Augen auf. Miral war heiß. Seine Stimme war rauh; er wollte etwas zu trinken.
Plötzlich hing vor ihm in der Luft eine Tasse mit süßem Wasser. Als er danach griff, verschwand sie. Diese Mischung aus Bekanntem und Unmöglichem ließ den kleinen Jungen aufheulen. Er entdeckte eine Spalte in der einen Wand und rannte hin, um sich hineinzuquetschen. Dann drückte er sich ganz weit hinein, während ihn von der Höhle aus jedes Monster bedrohte, vor dem er sich als Kind gefürchtet hatte.
Und dann kam der Teil, der immer kam – die starke Hand, die ihn tiefer in die Spalte riß.
Miral erwachte schweißgebadet.