23 Die Rettung

Er war wieder in seinem Traum. Die rauhen Hände packten Miral, und gerade als die harten Kiefer des Tylors in die Spalte schnappten, rissen ihn starke Arme durch den Riß im Stein nach hinten.

»Da hat Er sich aber einen echten Schlamassel eingebrockt, kleiner Elf«, sagte eine tiefe Stimme über dem Kopf des Jungen.

Miral hob mit tränennassen Augen den Kopf und spähte durch das dämmrige Licht in der Höhle. Dieser Teil schien weniger gut beleuchtet zu sein als die Gänge, durch die er gekommen war. Er schluckte ein Schluchzen herunter und versuchte, seinen Retter zu betrachten.

Es war ein Mann, das sah der Kleine, aber was für einer! Starke Muskeln zuckten auf einer massigen Brust. Er hatte enorme Schultern, über die das weiße Haar von Kopf und Kinn floß. Als der Mann zu ihm nach unten guckte, blickte Miral in tiefblaue Augen, die vor Freundlichkeit glänzten.

»Will meinen, Er ist zu klein, um ohne Seine Stute herumzulaufen, Kleiner«, sagte der Mann.

Da nahm Miral die Hufschläge wahr, die über den feuchten Stein der Gänge trappelten. Der Mann kam an eine Gabelung und ritt nach rechts, ohne langsamer zu werden. Aber wie hatte er seinem Pferd das gezeigt? Der kleine Junge wunderte sich und sah nach unten.

Der Mann war ein Pferd! Oder das Pferd war ein Mann; da konnte sich Miral nicht entscheiden. Mit entzücktem Lächeln sah er wieder hoch.

»Du bist ein Zentaur!« schrie Miral.

»Natürlich«, erwiderte das Wesen, das den Kleinen in seinen starken Armen wiegte.

Der Zentaur mußte von den Hufen bis zu seinem aristokratischen Haupt bestimmt sieben Fuß hoch sein. Behende lief er über die nassen Steine, wobei sein langer Schweif hinter ihm flatterte. Um die Schultern seines Pferdeteils trug der Zentaur einen Lederbeutel. Miral streckte die Händchen aus, um den Beutel zu untersuchen, doch der Zentaur hob ihn höher, so daß er nicht dran kam.

»Er ist neugierig«, murmelte der Zentaur mit tiefer Stimme. »Bestimmt ist Er deshalb so tief in den Höhlen.«

»Jemand hat mich gerufen«, erklärte Miral, weil er unbedingt wollte, daß dieses Wesen ihn gern hatte. »Aus dem Gang.«

Die blassen blauen Augen des Zentauren wurden größer, und er ging etwas langsamer, um dann wieder anzuziehen. »Er hat die Stimme gehört? Dann hat Er wahrhaft Magie in der Seele, kleiner Elf. Nicht jeder hört den Graustein rufen.« Er lief um eine weitere Biegung, dann um noch eine. Bald hatte das Kind keine Ahnung mehr, wo sie hergekommen waren oder wo sie jetzt waren.

Der Tiermensch redete weiter beruhigend auf das Kind ein. »Er ist heiß, Kind. Seine Stute sollte Ihm etwas gegen das Fieber geben. Ich will Ihn direkt nach Hause bringen.«

Miral wurde vom gleichmäßigen Trab des freundlichen Zentauren allmählich müde. »Warum bist du hier?« fragte er schläfrig.

»Oh, der Graustein hat wirklich große Schätze«, sagte der Zentaur. »Und wahr ist, daß der gemeine Stein mir einst großes Unrecht zugefügt hat. Ich habe Rache gelobt. Und das, kleiner Elf, ist alles, was Er wissen muß.«

Der Zentaur legte an Tempo zu, und bald war das Kind in seinen Armen eingedöst. Hin und wieder erwachte es, einmal, als frische Luft durch seine Haare wehte und ihm klar wurde, daß sie außerhalb der Höhlen durch die mondlose Nacht liefen, und einmal, als der Zentaur fast lautlos durch die gepflasterten Straßen von Qualinost eilte.

Schließlich erreichten sie den Palast. Miral wurde wach und bekam mit, wie sie hinten herum durch das Gartentor kamen – wieso merkten die Wachen nichts, fragte er sich – und von dort aus in den Hof. Große Hände legte ihn auf weiches Moos und deckten ihn mit einem Tuch zu.

»Schlaf jetzt, kleiner Elf«, murmelte der Zentaur. »Am Morgen wird Er sich an nichts mehr erinnern.«

Nachdem er ein letztes Mal die Schulter des Kleinen getätschelt hatte, wendete der Zentaur auf dem Hof und war gleich darauf lautlos verschwunden.

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