Wo auch immer er war, Flint wußte, daß er nach oben gelangen mußte, um hier heraus zu kommen, und die Stufen hinter dem Podest schienen der einzige Weg zu sein.
Seine Stiefel wirbelten Staubwolken auf, als er die lange Treppe hochstieg, doch der Zwerg hielt sich die Nase zu, um nicht zu niesen. Soweit es ihn anging – je weniger Lärm er in der bedrückend stillen Finsternis machte, desto besser. Schon jetzt hatte er den beunruhigenden Eindruck, daß ihn etwas aus den Schatten beobachtete, und zwar mißbilligend.
Flint konnte fühlen – und dabei sträubten sich ihm die Nackenhaare –, daß er hier nicht willkommen war. Aber solange es so aussah, als ob er sich nach Kräften bemühte, einen Weg nach draußen zu finden, würde vielleicht das (oder der?), was in den undurchdringlichen Schatten lauerte, ihn in Ruhe lassen.
Wie in einem düsteren Traum durchwanderte Flint die labyrinthartigen Gänge und Räume, wobei er allmählich höher kam. Das Zittern, das ihn gelegentlich überfiel, versuchte er zu ignorieren. Die feuchten Kleider klebten an seinem Körper.
Einst mußte das hier ein wundervoller Ort gewesen sein, mit all diesen höhlenartigen Sälen und den schönen Wendeltreppen. Aber mit der Zeit hatte das Wasser die einst stolzen Statuen zu grotesken Gestalten verwandelt. Kostbare Teppiche, die die Wände geziert hatten, hingen in unheimlichen Fetzen herunter wie Spinnweben einer großen Schattenspinne. Flint näherte sich einem der Wandbehänge, doch schon die Berührung seines Fingers reichte aus, um ihn zu Staub zerfallen zu lassen. Räume, deren vergoldete Wände ehemals im Licht von tausend Fackeln erstrahlt waren, stellten jetzt muffige Höhlen dar, in denen der schwache Schein von Flints Kerze kaum Helligkeit schuf. Die Luft roch noch nach denen, die hier gestorben waren.
Die Atmosphäre lastete schwer auf Flint und seinem Zwergenherz. Geschichten uralter Zwergenkönigreiche erklangen in seinem Ohr.
Während er so durch die düsteren Hallen wanderte, war Flint gelegentlich gezwungen, seine eigenen Fußstapfen zurückzuverfolgen, wenn ein Gang plötzlich in einer Sackgasse endete oder in einen Raum zurückführte, durch den er bereits gekommen war. Aber zumeist führten ihn seine Zwergensinne, die die leisesten Veränderungen von Luftzug oder Neigung der Steine mitbekamen, stetig nach oben. Wie weit er eigentlich gehen mußte, war Flint allerdings unklar. Er konnte nicht abschätzen, wie tief er in dem Schacht abgerutscht war – oder ob er überhaupt noch irgendwo bei Qualinost war.
Irgendwann brannte jedoch sein Kerzenstummel herunter. Flint jaulte, als die Flamme seinen Finger verbrannte und das letzte bißchen Kerze ihm über die Hand floß und zischend in einer Pfütze landete, wo es verlosch. Schnell und leise schloß sich die Dunkelheit um den Zwerg, als wenn hier nie ein Licht gewesen wäre.
»Verdammt!« fluchte Flint leise, während er an seinem verbrannten Finger saugte. Er wußte instinktiv, daß er kurz vor einem Ausgang war; erst vor einer Minute war er ganz sicher gewesen, daß er einen etwas frischeren Luftzug wahrgenommen hatte. Aber er konnte kaum etwas tun. Weil er merkte, wie erschöpft er inzwischen war, beschloß er, daß es nichts schaden könnte, die Augen ein wenig auszuruhen und dabei über einen Ausweg aus seiner Lage nachzudenken. Vielleicht würden sogar seine Kleider etwas trocknen.
Die Schatten waren beängstigend, aber Flint verdrängte jeden Gedanken daran. Sie hatten ihn bis jetzt in Ruhe gelassen, deshalb kauerte er sich an eine Wand. Obwohl er die Augen nur ganz kurz zumachen wollte, fiel der Zwerg rasch in tiefen Schlaf.
Zunächst fast unmerklich ließ die Dunkelheit am Horizont etwas nach, wie der Halbelf feststellte. Langsam verblaßten die Sterne, und ein schwaches Licht kroch am Horizont in den Himmel.
Durch den lautstarken Besuch von Windsbraut war Gilthanas etwas wach geworden, um dann aus der Bewußtlosigkeit in Schlaf zu wechseln. Tanis, der jetzt zu erschöpft war, um noch einzudösen, konnte nur noch zusehen, wie das Licht allmählich zunahm, bis sich irgendwann die Sonne über den fedrigen Morgenwolken erhob und sie wie ein rotes Auge ohne jedes Zwinkern ansah. Die Schlucht unter ihnen lag in silbrigem Nebel.
Drüben im Osten hörte Tanis die Trommel, die das Zeichen gab, daß die drei Ulathi den Turm verlassen hatten, um Porthios im Hain abzuholen. Dort würden sie ihn in eine graue Robe kleiden, in genauso eine wie die von Gilthanas, und ihn zum Melethka-Nara, der Prüfung der Fragen, der Kritik und des Anstachelns, in den Palast führen.
Tanis sah die dreißig Fuß hohe Klippenwand empor. Im zunehmendem Licht sah es so aus, als ob ein wendiger Kletterer sich mit Hilfe der Felsspalten und der Wacholdersträucher den Fels hochschieben könnte. Er hoffte nur, daß sein Cousin ihm folgen konnte.
Das erste, was Flint beim Aufwachen merkte, war, daß er sehen konnte. Gerade so eben, gut, aber es gab ein schwaches, blaßgraues Licht, das ausreichte, ihn ungefähr die Umgebung in dem Raum erkennen zu lassen, wo er gerade war.
Flint stöhnte, als er aufstand und sich streckte. Er mußte mehrere Stunden geschlafen haben. Die Schatten wirkten jetzt weniger bedrohlich. Was auch immer die Quelle des grauen Lichts war, sie schienen es zu fürchten. Das Licht war zwar blaß, aber nicht unheimlich, nicht so wie das von den Fischen, die er anfangs entdeckt hatte. Daher wurde dem Zwerg leichter ums Herz. Flint suchte den Raum ab, weil er sich fragte, wo das Licht herkam, bis er es plötzlich sah.
Genau über der Stelle, an der er sich zum Schlafen zusammengerollt hatte, war ein winziger Riß in der Steinwand. Der Zwerg wußte, was das bedeutete. Das Licht war Tageslicht, und irgendwo hinter dieser Wand ging es nach draußen.
Flint untersuchte den Riß. Die Linien waren kaum wahrnehmbar, aber Flint grunzte. Er war sich sicher, daß das hier einmal ein Fenster gewesen war. Wahrscheinlich hatte man es aus irgendeinem Grunde zugemauert. Flint konnte ungefähr den Umriß der verschlossenen Öffnung erkennen.
Er nahm den schweren Hammer zur Hand, der immer noch treu in seinem Gürtel steckte, und schlug mit all der Kraft des Schmieds gegen den Stein. Der erbebte, und Flint knurrte zufrieden, als er sah, daß der Riß länger geworden war. Er holte wieder aus, dann ein drittes Mal. Der Spalt wurde breiter, und ein zweiter kam dazu, der einen dünnen Lichtstrahl hereinfallen ließ. Das machte dem Zwerg Mut, so daß er die Wand ernsthaft zu bearbeiten begann. Zum Glück war die Mauer nicht dick, und der eine Riß war ein Zeichen für die Schwäche des Gesteins gewesen. Die Hast, mit der dieses Fenster einst versiegelt worden war, wirkte sich jetzt eindeutig zu Flints Vorteil aus. Hätten die Handwerker beim Bau der Wand ihre ganze Kunst eingesetzt, so wäre Flints Hammer gegen die Steine so nutzlos gewesen wie eine Weidengerte.
Schon nach einer Minute lösten sich Steinbrocken aus der Wand. Der Riß wurde zu einem Loch, bis plötzlich der ganze Einbau nachgab und vor Flint zusammenbrach. Die Steine kullerten zur Seite, während Licht in den Raum strömte und die Schatten in die tieferen Winkel der Gänge zurücktrieb.
Triumphierend steckte Flint seinen bärtigen Kopf durch das Loch, doch – sein Triumph verflog, denn er befand sich am Boden eines weiteren Steinschachts.
Wieder gab es nur den Weg nach oben.
Es gab nur den Weg nach oben, dachte Tanis, als er die Klippe hinaufstarrte. Neben ihm regte sich Gilthanas endlich und schlug die Augen auf. Seine eine Kopfseite war gerötet und wies eine eigroße Beule auf, doch sonst schien er unverletzt zu sein.
»Tanis!« entfuhr es ihm. Erst malte sich Erleichterung, dann Ärger auf seinem Gesicht. »Du hast dich dem Urteil der Stimme widersetzt!«
»Ich bin gekommen, um dich zu retten«, sagte Tanis, während die Trommeln in Qualinost wieder zum Melethka-Nara riefen.
Gilthanas setzte sich mühsam auf, wobei der Felsvorsprung erzitterte. »Die Trommeln!« sagte er mit Panik in den Augen. »Ich muß zum Kentommen-Tala zurück sein.« Seine Bewegungen brachten ihn gefährlich nah an den Rand des Vorsprungs, so daß Tanis seinen Cousin am Arm festhielt und zurückzog. Zu der Erleichterung und dem Ärger, die im Gesicht der blonden Wache miteinander kämpften, gesellte sich jetzt Furcht.
»Glaubst du, daß du da hoch kommst?« Tanis zeigte auf die dreißig Fuß hohe Felswand über ihnen. »Oder soll ich dich hier lassen und Hilfe holen?«
»Mich hierlassen?« wiederholte Gilthanas, der aufsprang und an den Fels griff. »Ich würde meine Pflicht versäumen, wenn ich dich entkommen ließe.«
»Entkommen?« murmelte Tanis. Der Felsvorsprung, der sich durch ihre Bewegungen weiter gelockert hatte, erzitterte wieder.
Aber der Ruf der Pflicht schien der jungen Wache Kraft gegeben zu haben, denn Gilthanas hielt sich wacker, als er die Klippe hochkletterte, obwohl seine knöchellange Robe ihn doch ziemlich behinderte. Irgendwann stopfte Gilthanas sich den Saum der Robe in den Gürtel, um leichter klettern zu können. Dadurch konnte Tanis jedoch nicht so schnell von dem Vorsprung verschwinden, der immer mehr nachgab. Nervös wartete Tanis, bis Gilthanas über Kopfhöhe des Halbelfen war. Dann folgte er ihm, wobei er sich mit Händen und Füßen an denselben Stellen festhielt wie sein Cousin.
Was in der nächtlichen Finsternis hoffnungslos gewirkt hatte, erwies sich bei Tageslicht als anstrengend, aber durchaus zu schaffen.
Eine halbe Stunde später half Gilthanas Tanis über den Rand des Abgrunds. Dabei löste sich ein größerer Felsen, der mit einem knirschenden Geräusch über den Rand rollte und auf den Vorsprung prallte, auf dem die beiden die Nacht verbracht hatten. Das Felsstück knackte, senkte sich dann weiter und brach allmählich von der Klippe ab. Durch die klare Luft sauste es nach unten in den Fluß.
In der Ferne schwollen die Trommeln ein letztes Mal an, um dann zu verstummen.
»Das Melethka-Nara hat angefangen«, sagte Gilthanas. »Porthios ist in dem Raum unter dem Palast. Jetzt beginnt das Verhör. Ich habe drei Stunden Zeit, bis ich im Gang zwischen der unterirdischen Kammer und dem Turm sein muß.« Aber immer noch stand Gilthanas schweigend da und blickte nach Westen. Tanis wußte, daß er in Gedanken bei seinem Bruder in der Kammer war.
»Gilthanas«, sagte Tanis. »Hast du das Gesicht des Angreifers gesehen?«
Der Elf riß seine Aufmerksamkeit von Qualinost los und sah Tanis an. Dann schüttelte er den Kopf und machte sich zu dem Pfad an der Klippe auf. »Es war dunkel. Er hatte eine Kapuze. Hast du ihn gesehen?«
Tanis schüttelte den Kopf und erklärte, was zwischen seiner Flucht aus dem Palast und seinem Sturz von der Klippe geschehen war. Er lenkte Gilthanas von seinem Weg zum Pfad ab, indem er erst zu der Felsspalte zurückkehrte, in der Flint verschwunden war. Tanis rief nach dem Zwerg und warf Steinchen in die enge Öffnung, um festzustellen, wie tief sein Freund gefallen sein mochte. Es kam keine Antwort, und Tanis war zu groß für das Loch.
»Wir müssen uns beeilen«, drängte Gilthanas.
Tanis zögerte, weil er nicht sicher war, ob er Flint verlassen durfte. Gilthanas griff schnell zu und zog Tanis das Schwert aus der Scheide. Der Halbelf kam gar nicht auf die Idee, seinen Cousin daran zu hindern, dem er doch vertraute – doch dann sah sich Tanis plötzlich seiner eigenen Klinge gegenüber. Der Anhänger seiner Mutter glänzte hell im Griff. Die Waldvögel zwitscherten weiter um die beiden herum, als wäre nichts geschehen.
»Was tust du?« flüsterte Tanis.
»Du bist mein Gefangener«, sagte Gilthanas förmlich. »Du hast eine Anordnung der Stimme mißachtet. Als Mitglied der Palastgarde ist es meine heilige Pflicht, dich festzunehmen und zur Verurteilung nach Qualinost zu bringen.«
Tanis blickte wieder auf das Schwert, das Flint für ihn gemacht hatte, dann zu Gilthanas. Die ernste Miene seines Cousins erstickte jeden Protest im Keim. Tanis schätzte seine Lage ab. Er war größer und stärker als sein zierlicher Cousin, und er hatte ein Messer. Tanis wußte, daß er Gilthanas überwältigen konnte, selbst wenn der das Schwert des Halbelfen hatte.
Aber was würde er dann tun? Gilthanas fesseln und unbewacht hier lassen? So ein Vorhaben wäre vielleicht näher an Qualinost akzeptabel, wo mehr Leute waren, aber das Gebiet um den Kentommenai-Kath war einsam. Widerstrebend und mit dem stillen Gelöbnis, später zurückzukommen, ließ sich Tanis von Gilthanas von der Spalte wegführen.
Das Loch war ein Luftschacht, entschied Flint. Er konnte etwa fünfundzwanzig Fuß direkt nach oben sehen. Möglichst ohne seine verletzte Schulter zu belasten, schob der Zwerg seinen dicken Körper durch die Öffnung und in den Schacht, der etwa so breit war wie ein Faß Bier – ein Gedanke, der Durst machte und den Flint sogleich verdrängte. Er stand auf einer Schicht aus Erde und alten Pinienzapfen. An der Wand lag ein vertrocknetes Skelett von einem etwa waschbärgroßen Tier. Flint versuchte, nicht an das Tier zu denken, das hier unten verendet war, wenn auch schon vor Jahren.
Oben sah der Zwerg Licht, und darüber wiegten sich Fichtenzweige. Er suchte nach Halt für die Hände, aber vergeblich. Der Schacht wäre breit genug gewesen, um hochzukommen, indem er sich auf der einen Seite mit den Schultern, auf der anderen mit den Füßen abstützte, aber seine Schulter war zu schwach. Bei jedem Versuch landete er nur mit einem »Autsch!« wieder auf dem schwammigen Boden des Schachts.
»Reorx!« sagte er leise. Dann lauter: »Bei Reorx’ Hammer!« Unglücklich setzte er sich auf den Boden. Seine Finger fuhren die Linien nach, die die Steinmetze vor Jahrtausenden in die Wand geschlagen hatten – T-förmige Meißelabdrücke. Die Erbauer des Schachts waren inzwischen längst tot. Wahrscheinlich arbeiteten sie jetzt bei Reorx. Flint untersuchte einen der T-Abdrücke. Genauso ein Zeichen hatte er auf Lord Tyresians Unterarm gesehen. Unvermittelt tauchte vor Flints Augen wieder das Bild der toten Eld Ailea vor ihrem Kamin auf. Das entblößte Bein, der lila Rock, der Ärmel, der bis zum Ellbogen hochgezogen war. »T«, Narbe, Erbe, erinnerte er sich…
In plötzlicher Erkenntnis riß Flint seinen hängenden Kopf so rasch hoch, daß er hinten gegen die Wand schlug.
»Die Narbe, der Tee, der Erbe«, flüsterte er. Er hatte es einfach mißverstanden. Jetzt erinnerte er sich, wie er nach dem Mordanschlag eine Tasse Tee von Miral bekommen hatte, und wie ihm Ailea später einen ihrer eigenen Tränke verabreicht hatte, von dem ihm schlecht geworden war. Dann hatte der Magier Flint ein paar Tage später gefragt, ob sein Heiltee gewirkt hatte – Minuten bevor sie Aileas Nachricht bekommen hatte, daß sie etwas über Lord Xenoths Tod herausgefunden hatte.
Der Zauberer hatte ihm vergifteten Tee gegeben! Und Ailea hatte das gemerkt. Aber Ailea hatte gründlich über die ganze Sache nachgedacht, bevor sie ihre Anklage erheben wollte. Dann, als sie ganz sicher war, nachdem sie das letzte Puzzleteil eingefügt hatte, hatte sie Flint eine Nachricht geschickt – und der hatte sie sofort an den Mörder weitergegeben!
»Reorx, steh mir bei!« betete der Zwerg, als er den Dreck auf dem Boden des Schachts durchwühlte und Pinienzapfen beiseite warf, während er nach irgend etwas suchte, das ihm weiterhelfen konnte.
Wenn er recht hatte, würden weder Porthios noch die Stimme, noch Gilthanas, noch Laurana den Tag überleben.
Mitten in dieser Suche jedoch – als hätte Reorx seinen Ruf vernommen und den wahrscheinlichsten aller Retter geschickt – hörte Flint ein Maultier schreien. Plötzlich wurde das Licht schwächer, und Flint sah nach oben. Etwas stand über der Schachtöffnung. Anstelle von unscharfen Pinienzweigen sah der Zwerg jetzt eine groteske Schnauze, zwei Ohren, die fast so lang waren wie sein Bein, und ein Paar brauner Augen, die vor Leidenschaft leuchteten.
»Windsbraut!« rief er. »Du wunderbares Tier!« Das Tier klimperte mit den Lidern. »Ich bin immer noch in Qualinesti!«
Er hätte nie gedacht, daß er den Tag erleben würde, an dem ihm der Anblick seines Maultiers die Tränen in die Augen treiben würde. Was ihn jedoch besonders begeisterte, war das zehn Fuß lange, angekaute Seil an ihrem Geschirr. Die Elfen hatten gelacht, als er ein Geschirr für ein Maultier hergestellt hatte; jetzt konnte er über sie lachen. Ein Halfter hätte nie gehalten.
Bis darauf, daß ihm immer noch fünfzehn Fuß zu dem Seil fehlten, das in den Schacht baumelte, während Windsbraut da oben schnaubte.
Flint nahm Bestand auf. Er hatte Flint und Stahl, Hammer, Messer und die Strickleiter. Die Leiter würde wahrscheinlich bis zum Boden des Schachts reichen, aber der Versuch, eine schlaffe Strickleiter von unten nach oben aufzuhängen, schien hoffnungslos.
Windsbraut wieherte wieder. Der Ton hallte in dem Steinschacht so laut nach, daß Flint fast die Ohren platzten.
»Ruhe da oben!« schrie Flint. Als das Maultier vom Loch zurückwich und das Zugseil mitschleifte, rief er: »Nein! Warte! Ich hab’s nicht so gemeint!«
Zögernd spähte Windsbraut wieder über den Rand. Sie war schon in Augenhöhe nicht besonders schön, doch von unten sah sie völlig absurd aus. Außerdem wirkte sie verärgert. Flint kam plötzlich die schreckliche Vorstellung, wie sein Maultier beleidigt davonstapfte. Und wirklich zog es sich wieder vom Rand zurück. Das Seilende zog sich im Kamin höher. »Windsbraut, du – « Er dachte schnell nach und schlug einen schmeichelnden Tonfall an. » – du bezauberndes Geschöpf, bitte komm doch zurück.«
Das Seil hielt inne, wackelte und fiel wieder ein paar Handbreit herunter. Feuchte braune Augen suchten seinen Blick. Ein Ohr knickte ab.
Flint wickelte sich die Strickleiter vom Bauch. Wenn er das Ding irgendwie zu dem Maultier hochbekam… Er schätzte die Entfernung ab und warf die Leiter hoch.
Wie ein Haufen Schlangen fiel das Ding auf ihn herunter, und Windsbraut wieherte.
»Ja, du Mistvieh«, murmelte Flint. »Lach doch.«
Er befreite sich aus den Stricken der Leiter und versuchte es noch einmal mit demselben Erfolg. Beim dritten Versuch schließlich, als seine Schulter von der Anstrengung schon schmerzte, probierte er einen Wurf von unten her, und eine Leitersprosse fiel über den Rand des Schachts, wo sie sich eine kurze Sekunde lang an einem Stein verfing. Windsbraut senkte ihre feuchte Schnauze, beschnüffelte die Leiter und ließ sie wieder auf Flint hinuntertrullern.
»Windsbraut!« schimpfte Flint. Dann wechselte er in die höchste Tonlage, was ihn an ein Elfenmädchen erinnerte, das mit seinen Puppen redete. »Willst du mich etwa hier unten sterben lassen, meine Süße?«
Ein I-A donnerte den Schacht hinunter.
Wieder warf er die Leiter. Diesmal fielen zwei Leitersprossen über den Rand und lagen genau neben dem Maultier auf dem Boden, das sie verständnislos anstarrte. Der untere Rand der Leiter baumelte vor Flints Gesicht, doch der Zwerg wagte ihn nicht zu berühren, um sie nicht wieder loszureißen. Die Seile rutschten langsam wieder in den Schacht zurück. Flint fluchte leise.
Dann hob Windsbraut einen ihrer untertellergroßen Hufe und hielt ihn über die rutschende Leiter. Der Zwerg hielt den Atem an.
Gerade als die letzte Sprosse vorbeirutschte, setzte das Maultier gezielt und sauber den Huf darauf. Die Leiter blieb abrupt hängen.
Mit einem Schrei des Entzückens legte Flint eine Hand an die unterste Sprosse und zog. Das Maultier schnaubte beunruhigt bei dem plötzlichen Zug an seinem Huf, bleib aber stehen.
Flint kletterte die Leiter halb hoch, wobei er seine Schulter so gut wie möglich schonte. Bald baumelte das Ende des Seils, das er am Geschirr des Maultiers festgemacht hatte, neben ihm. Es waren nur noch zehn Fuß zu klettern.
Das Maultier wurde unruhig.
»Windsbraut, nicht!« schrie der Zwerg.
Sie hob den Fuß.
Flint hechtete nach dem Seilende, und der Hals des Maultiers wurde von dem plötzlichen, zusätzlichen Gewicht ein Stück nach unten gerissen. Die Leiter sauste an ihm vorbei auf den Boden. »Du blöder Esel!« kollerte Flint, der an dem Seil hin und her schwang.
Mit einem Ruck wich das Maultier von dem Schacht zurück und galoppierte ein paar Schritte. Mit einem heiseren Schrei schoß der Zwerg wie eine Forelle an der Angel aus dem Loch.
»Verzeih mir, Tanis«, sagte Gilthanas, als sie den Pfad über dem Abgrund entlang liefen.
Einen Augenblick lang war Tanis über die bekannten Worte entsetzt. Das hatte der Mörder gesagt.
»Du weißt, daß ich das tun muß«, sagte Gilthanas. »Als Palastwache bin ich dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, daß die Anordnungen der Stimme befolgt werden.« Er hatte das Schwert längst in die Scheide gesteckt, die er Tanis ebenfalls abgenommen hatte. Anscheinend glaubte er, daß Tanis keinen Fluchtversuch unternehmen würde.
Der Halbelf nickte. Er war zu sehr damit beschäftigt, die Lage zu beurteilen, um sich müßig zu unterhalten. Allerdings…
Vielleicht würde er etwas erfahren, das er später brauchen konnte.
»Ich verstehe schon«, sagte der Halbelf. Er sah zu Gilthanas hinüber. Das Gesicht des Elfen hatte sich vor Anstrengung gerötet, wegen des Tempos, das sie seit einer knappen Stunde hielten. Sein Cousin gab den Blick zurück, und zum ersten Mal seit Jahren sah Tanis den Freund seiner Kinderzeit. »Welche Aufgabe hast du bei der Zeremonie?«
Gilthanas machte keuchend auf einer Lichtung halt. Er winkte Tanis zu, sich auf einen Stein zu setzen, und hockte sich selbst daneben.
»Wenn Porthios die Kammer unter dem Palast verläßt, schlägt er seine Kapuze über, um sein Gesicht zu verbergen. Er trägt eine graue Robe wie diese. Dann kommt er von der Kammer an eine Wendeltreppe – neunundneunzig Stufen, für jedes Lebensjahr eine. Die Treppe heißt Liassem-Eltor, Treppe der Jahre. Porthios muß die Stufen in absoluter Finsternis hinaufsteigen. Oben findet er einen Alkoven mit einer einzigen Kerze, dazu Flint und Stahl zum Anzünden.«
»Und du…?« beharrte Tanis, der sich kurz fragte, warum man ihm den genauen Ablauf der Zeremonie nicht beigebracht hatte.
Gilthanas fuhr fort: »Hinter dem Alkoven kommt ein langer Gang, der auf keiner Karte von Qualinost verzeichnet ist, weil er nur von Elfen benutzt wird, die weder Kind noch erwachsen sind – Elfen, die deshalb eigentlich gar nicht existieren. Deshalb existiert auch der Korridor nicht und steht auf keiner Karte.«
Tanis faßte wieder nach: »Deine Rolle…« Aber Gilthanas, der von der Zeremonie begeistert war, der auch er sich eines Tages unterziehen würde, war offenbar entschlossen, die ganze Geschichte zu erzählen.
»Der Korridor heißt Yathen-Ilara, Pfad zur Erleuchtung. Er führt zum Sonnenturm. Der junge Elf legt diesen Weg schweigend und allein zurück. Am Ende kommt eine Tür, wo er wartet, bis derjenige, der am Kentommenai-Kath Wache gestanden hat, sie öffnet und ihn in den Hauptsaal des Sonnenturms einläßt.«
Hier also war Gilthanas’ Platz. Es klang, als hätte er seine Rolle auswendig gelernt – bestimmt bei Miral. »Ich warte vor der Tür, bis ein Gong ertönt. Dann mache ich die Tür auf, husche hinein, lasse die Tür zufallen, nehme Porthios die Kerze ab und sage – natürlich in der alten Sprache: ›Ich bin deine Kindheit. Laß mich zurück in den Nebeln der Vergangenheit. Schreite vorwärts in deine Zukunft.‹ Porthios macht die Tür auf und betritt den Sonnenturm.«
Jetzt kam Tanis allmählich eine Idee.
»Du bleibst in dem Gang?« fragte der Halbelf.
Gilthanas klang etwas verlegen. »Ich soll Porthios’ entschwundene Kindheit darstellen, also sollte ich bei der eigentlichen Zeremonie wirklich nicht dabei sein. Aber Miral meinte, daß es keiner merken wird, wenn ich die Tür ein bißchen aufmache, um zuzuhören. Schließlich habe ich schon in sechzig Jahren selbst mein Kentommen.«
Tanis war jetzt der Plan klar, mit dem er den Mörder zur Strecke bringen würde.
Sie setzten ihren Marsch nach Qualinost wieder fort. Schließlich führte der Pfad nach unten. Trommeln und Trompeten erklangen wieder vom Palast und vom Turm her, und Gilthanas rief: »Wir müssen schneller machen! Ich komme zu spät!«
Durch die lichter werdenden Espen konnte Tanis gerade so eben die Westbrücke über den Fluß der Hoffnung erkennen. Ohne nachzudenken, machte er einen falschen Schritt und stieß gegen Gilthanas. Als sein Cousin sich überrascht nach ihm umdrehte, ging der Halbelf zum Angriff über.
Fünf Minuten später tauchte eine Gestalt in grauer Robe hinter einer Baumgruppe auf. Dahinter wackelte es im Gebüsch, und eine erstickte Stimme versuchte zu schreien, als wenn dort ein großes Tier gefesselt läge. Wer einen genaueren Blick auf die Gestalt in der Robe geworfen hätte, die jetzt den Pfad herunterkam, hätte den schwachen Umriß eines Schwerts auf der linken Seite bemerkt.
Tanis hoffte, es würde keiner hinsehen.
Er zog sich die Kapuze über das Gesicht, fing an zu rennen und überquerte die Brücke.