24 Noch ein Tod

In den nächsten paar Tagen blieben Tanis und Eld Ailea abwechselnd bei Flint im Laden. Der Zwerg sagte unzählige Male, sie sollten sich keine Sorgen um ihn machen.

»Ihr habt doch selbst viel zuviel zu tun, als euch um einen lahmen Zwerg zu kümmern!« sagte Flint verdrießlich, doch die Worte an seine Pfleger waren verschwendet. Einmal kam Solostaran zu Besuch und wirkte angesichts von Flints Gereiztheit beruhigt. Miral kam zweimal vorbei, um nach dem Zwerg zu sehen.

Am Mittag des zweiten Tages begann Flint, sichtlich wieder Kraft zu gewinnen, und aus der Zahl seiner Flüche beim Bewegen konnte man schließen, daß die Schmerzen nachließen. Doch Eld Ailea bestand weiterhin darauf, daß der Zwerg nicht allein sein dürfe, und blieb bei Flint, während Tanis zum Palast zurückkehrte, um frische Kleider zu holen.

Immerhin gestattete sie Flint, von seinem Lager aus an Porthios’ Kentommen-Medaille weiterzuarbeiten.

»Schließlich geht das Fest morgen los«, sagte sie unbekümmert, während sie ein Verbandstuch auf dem Tisch ausbreitete und es so faltete, wie es dem untersetzten Zwerg am besten passen würde.

»Morgen?« japste Flint und schoß aus dem Bett hoch. Dann faßte er sich stöhnend an die Schulter. »Ich dachte, ich hätte noch drei Tage Zeit!«

Ailea fing den Zwerg auf dem Weg zur Tür ab – auch wenn unklar war, was er damit erreichen wollte, wenn er ohne Hemd durch Qualinost rannte – und scheuchte ihn mit Schalk in ihren grünbraunen Augen ins Bett zurück. »Ganz ruhig«, sagte sie. »Du hast wirklich noch drei Tage Zeit.«

Sie erklärte ihm die Einzelheiten des Festes, während sie den alten Verband von der Brust des Zwergs abnahm.

»Das Wort ›Kentommen‹ oder ›Erwachsenwerden‹ bezieht sich nur auf den letzten Abschnitt des vierteiligen Festes«, erzählte sie, als sie vorsichtig das Leinen von der Wunde abzog. »Das ist der eindrucksvollste Teil, den die meisten Leute sehen wollen. Viele Elfen sagen aber zu dem ganzen, dreitägigen Fest ›Kentommen‹.«

Die Hebamme berichtete weiter, während sie mit sanften Händen die heilende Wunde wusch: »Der erste Tag ist das Kaltatha, das ›Grauwerden‹. Dieser Teil geht morgen früh los. Im Kaltatha wird der junge Elf – Mann oder Frau, er muß nur dem Adelsstand angehören – von seinen Eltern in den Hain begleitet«, womit sie den alten Wald in der Mitte der Elfenhauptstadt meinte.

Ailea spülte den Lappen in einer Schüssel mit sauberem Wasser aus. »Wenn der junge Mann, der das Kaltatha erlebt, von so hohem Rang ist wie Porthios, nutzen die einfachen Elfen meist die Gelegenheit, um dabei in ihren buntesten Festkleidern oder gar in Kostümen durch die Straßen zu ziehen. Sie tanzen und singen Lieder, die so alt sind wie das Fest selbst«, sagte sie. »Darum achtet der Palast darauf, daß bunte Fahnen genäht werden. Sie sollen den Weg zum Wald markieren.«

»Das würde ich gerne sehen«, meinte Flint.

Eld Ailea untersuchte sorgfältig die Stelle, wo der Dolch in Flints Schulter eingedrungen war. »Du dürftest morgen wieder soweit sein, daß du zu der Prozession gehen kannst, möchte ich meinen.«

Sie reinigte die Wunde ein letztes Mal und kippte die Schüssel dann vor der Hintertür des Ladens aus.

»Was passiert im Hain mit Porthios?« fragte der Zwerg.

»Die Stimme führt Porthios in die Mitte des Waldes, um ihm dann zeremoniell den Rücken zuzukehren«, erklärte die Hebamme. »Porthios bleibt drei Tage im Hain. Solange ißt er nichts und trinkt nur aus der Quelle in der Mitte des Hains. Keiner darf den Hain betreten und ihn stören, und er darf ihn auch nicht verlassen.«

»Klingt, als wenn man Wachen aufstellen müßte«, stellte der Zwerg mürrisch fest, während er sich bemühte, nicht zu zeigen, wie er die sorgenden Hände der Hebamme genoß.

»Oh, das wird auch gemacht«, versicherte ihm Eld Ailea. »Abwechselnd stehen Elfen aus dem Adel Wache, die ihre Zeremonienschwerter tragen – wie das, das Tyresian zum Reparieren gebracht hat.«

»Sind diese Wachen wirklich nötig?« fragte Flint.

»Wahrscheinlich nicht«, räumte die schlanke Elfin ein.

»Wer im Kaltatha – oder in jedem anderen Teil des Kentommen – versagt, wird für immer als Kind angesehen werden, egal wie alt er wird.«

Flint wirkte beeindruckt.

Ailea fuhr fort: »Im Hain wird sich Porthios reinigen. Er soll alle Schichten der Kindheit abwerfen. Am letzten Morgen badet er in der Quelle, und wenn er heraussteigt, sind Körper und Seele rein. An diesem dritten Morgen bringt man ihm eine graue Robe, die sein noch ungelebtes Potential symbolisiert, und führt ihn aus dem Wald«, endete sie. »Dabei gibt es kein Straßenfest. Statt dessen achten alle gewöhnlichen Elfen darauf, den jungen Kentommen-Elfen überhaupt nicht anzusehen, während man ihn in seiner grauen Robe durch die Stadt führt.«

»Warum nicht?« wollte der Zwerg wissen.

»Weil er weder Kind noch Erwachsener ist. Im Prinzip existiert er gar nicht. Ein Elf würde sich lächerlich machen, wenn er jemanden ansieht, den es gar nicht gibt.«

Flint schnaubte, was aber nicht verächtlich klang. »Das ist ja ganz etwas anderes als mein Vollbarttag. Da gab es hauptsächlich einen Haufen Geschenke und große Krüge voll Bier.« Er sah nachdenklich aus. »Wenn ich’s mir überlege, ziehe ich das drei Tagen ohne Essen und Bier vor.«

Leise lachend legte Ailea den sauberen Verband an. Dann brachte sie Flint alles, was er für seine Arbeit an der Medaille brauchte.

Tanis kam an diesem Abend früh vom Palast zurück und hatte alles für die Nacht dabei. Er bereitete ein einfaches Abendbrot für sich, die Hebamme und den Zwerg zu: ein Laib braunes Brot, ein halber Käse, die letzten süßen Äpfel vom vergangenen Herbst und einen kleinen Krug Bier. Schließlich ging die Sonne hinter den Espen unter. Die letzten Lichtstrahlen leuchteten durch das Grün der gefiederten Blätter, und Schatten krochen aus den dunklen Hainen, um sich über die Straßen der Elfenstadt zu schieben. Der Halbelf überzeugte Eld Ailea, daß sie Flint ruhig mal eine Weile verlassen konnte, und sie gab zu, daß sie noch etliche andere Dinge zu erledigen hätte.

»Aber laß niemanden ein, nur mich oder die Stimme«, warnte sie Tanis.

»Warum?«

Eld Ailea schien mit etwas herausrücken zu wollen, doch in letzter Sekunde beherrschte sie sich. »Flint sollte am besten eine Weile ruhen. Du weißt, wie Besuch ihn aufregt.« Dann versprach sie Tanis, am Morgen zurückzukommen, lief geschwind den Weg hinunter, schlüpfte dann zwischen zwei baumartigen Häusern durch und verschwand.

»Flint? Aufgeregt wegen Besuch?« fragte der Halbelf sich leise. Er schüttelte den Kopf.


Als Flint am anderen Morgen die Augen aufschlug, herrschte ein Höllenlärm. »Reorx in der Schmiede! Was ist das für ein Aufruhr?« wollte er wissen. Aus den weichen Schatten im Laden zu schließen, war die Sonne gerade erst aufgegangen.

Tanis drehte sich auf der Schlafstatt um, die er sich auf einem dicken Teppich neben Flints Tisch gebaut hatte, stand auf und öffnete die Fensterläden. Flint stützte sich auf einen Ellbogen und schaute in ein Farbenmeer. Dutzende von Elfen strömten an seinem Laden vorbei und sangen mit lauter Stimme ein wildes Lied in fremder Sprache. Er erkannte nur wenige Elfenwörter, und selbst die klangen seltsam.

»Die alte Sprache«, erklärte Tanis, »aus der Zeit von Kith-Kanan, auch wenn manche Lieder jünger sind. Sie preisen Elfensiege seit den Sippenmord-Kriegen und loben die verschiedenen Altersstufen, vom Baby bis zum Greis. Es geht auch um Leute, die in ihrem Leben große Dinge vollbracht haben.« Er hörte auf zu sprechen und lauschte mit abwesendem Gesichtsausdruck. Plötzlich blieb ein Elf in kräftig pinkfarbener Robe vor dem Laden stehen und begann ein neues Lied. »Aber Flint!« rief Tanis aus, wobei er den Zwerg nicht ansah. »Das ist ja über dich! Und auch in Altelfisch!«

»Sag bloß«, wunderte sich Flint. Er stand mühsam auf und schob vorsichtig seine Arme in die Ärmel eines blaßgrünen Hemds, das Eld Aileas Nadel erst kürzlich fertiggestellt hatte. Dann zog er das Hemd über dem Verband zurecht. »Und, Junge, was sagt er?«

»Er sagt«, Tanis konzentrierte sich, »er sagt, daß du ein Prinz unter den Zwergen bist.« Der Halbelf konzentrierte sich wieder, wobei er darauf achtete, Flint das Gesicht nicht zuzuwenden.

»Weiter, Junge«, drängte Flint. »Erzähl doch.« In seiner Eile steckte er versehentlich beide Füße in dasselbe Hosenbein und mußte die Hose noch einmal ausziehen.

Tanis warf ihm einen verstohlenen Blick zu. »Er sagt, du bist ein genialer Schmied – nein, ein ›wahrer Künstler‹ deines Fachs.«

Flint war beeindruckt und spähte aus dem Fenster. »Und dabei glaube ich nicht, daß ich den Herrn überhaupt kenne…« Er steckte einen Fuß in den Stiefel, ohne hinzusehen, und hüpfte auf dem anderen Bein herum. Der Elf draußen sang weiter. Er hatte den Kopf zurückgeworfen und die Hände vor der Robe gefaßt. Andere Elfen versammelten sich, um ihm zuzuhören.

»Er sagt auch«, erzählte Tanis, »daß du ein tapferer Kämpfer und ein treuer Kamerad ersten Grades bist.«

»Nun, da hat er jedenfalls recht«, sagte Flint mit dem anderen Stiefel in der Hand. »Was für ein hübsches Lied!«

Tanis kämpfte gegen sein Lächeln. »Und er sagt, du sollst dich fertig anziehen und Tanthalas, dem Halbelfen, zur Kaltatha-Prozession folgen, damit ihr beide nicht zu spät kommt.«

»Er…« Flint hielt inne. »Wie?« Er stand reglos da, hatte eine Augenbraue hochgezogen und einen Fuß über dem Stiefel hängen, bis Tanis seinen Spott nicht mehr verbergen konnte. »Du… du Türknauf!« Der Zwerg warf seinen Stiefel nach dem kichernden Halbelfen, der sich gerade noch rechtzeitig duckte.

Zehn Minuten später tauchten die beiden aus dem Laden in einen Mahlstrom von Farben, Gerüchen und Geräuschen. Nach kurzem Schmollen hatte sich der Zwerg entschlossen, wieder mit Tanis zu reden. »Wo gehen wir denn hin, Junge?« fragte er. Für einen Zwerg, der erst vor wenigen Tagen ein Messer in die Schulter bekommen hatte, sah er erstaunlich gesund aus.

Tanis zeigte zwischen zwei Rosenquarzhäusern hindurch, die im Licht des frühen Morgens pinkfarben leuchteten. »Der Zug wird durch die Straße da drüben gehen. Aber ich finde, wir sollten erst bei einem von den Straßenverkäufern Frühstück besorgen.«

Das hielt auch der Zwerg für eine gute Idee, darum einigten sich die beiden auf einen jungen Elfen, der an seinem Stand saß und geröstetes Brot mit Puderzucker verkaufte. Kauend standen sie dann vor einem Tisch, wo ein Elf phantasievolle Masken der Wesen von Krynn verkaufte: Minotauren, Waldwesen und Gossenzwerge, auch wenn letztere anscheinend nicht so gut liefen. Die Qualinesti hatten keine große Lust, sich als kleine, stinkende Persönchen zu verkleiden und die Nachbildung einer toten Ratte mit sich herumzuschleppen, die das I-Tüpfelchen des Gossenzwergkostüms war. Ein anderer Straßenhändler verkaufte Tanis und Flint kleine Würstchen aus Wildbret auf heißen Brötchen mit leckerer Kruste, und zum Schluß holten sie sich heißen Gewürztee – den der Zwerg fast so gut fand wie Bier. Tanis’ Geldbörse war zwar wesentlich leichter, als sie auf die Straße der Prozession kamen, aber ihre beiden Bäuche dafür erheblich voller.

»Also das war ein Frühstück, das einen Zwerg wirklich wieder auf die Beine bringt«, sagte Flint, der sich die fettigen Finger sorgfältig an seinen dunkelbraunen Hosen abwischte. »Ob sie mittags wohl noch da sind?« fragte er hoffnungsvoll.

»Höchstwahrscheinlich«, sagte Tanis und wollte gerade noch etwas sagen, als neue Aufregung im Norden seine Aufmerksamkeit erregte. Die Menge schien sich um das Zentrum des Lärms zusammenzuballen, und Tanis konnte die schwarzen und silbernen Federn der Prachtuniformen der Palastgarde erspähen. Er zeigte in die Richtung.

»Da kommen Porthios und die Stimme«, rief er Flint durch den wachsenden Lärm hin zu. Der nickte.

Die Begleiter von Porthios und Solostaran gingen an den vier Ecken eines breiten Quadrats, während die Stimme und ihr Ältester majestätisch im Zentrum des Gefolges einherschritten. Als die Gruppe wortlos vorbeikam, ohne nach rechts oder links zu sehen, teilte sich die Menge.

Flint sprang hoch und runter, wobei er mit der linken Hand seine rechte Schulter hielt. »Ich sehe nichts!« beklagte er sich. Die Menge um ihn und Tanis wurde noch während seines Murrens dichter, und bald wurden die zwei im Gedränge getrennt.

»Flint!« rief Tanis. »Ich treff dich hinterher im Laden!«

Aber der Zwerg war mit der Menge weggerissen worden.

Trotz all des Lärms beim Nahen der Elfengruppe wurde die Menge still, als Porthios und sein Gefolge vorbeizogen. »Das ist etwas, woran du dich dein Leben lang erinnern wirst!« hörte Tanis einen Elfenvater zu seiner kleinen Tochter sagen, die anscheinend mehr an dem Stück Röstbrot mit Zucker interessiert war, das sie gerade aß, als an den geschichtlichen Ereignissen, die sich vor ihr abspielten.

Tanis hielt den Atem angesichts der Haltung und Ausstrahlung der Stimme an. Das Gesicht war entschlossen, die Schultern straff, und die goldene Robe blitzte, ebenso der goldene Reif auf seiner Stirn. Porthios in seiner einfachen, dunkelgrünen Robe ging mit gleichem Stolz neben ihm her und paßte perfekt zu Solostaran.

Als die Stimme und Porthios vorbeikamen, stand der Halbelf stocksteif da. Stolz und Neid kämpften in ihm. Er fragte sich, wer seine Eltern vertreten würde, wenn es Zeit für sein eigenes Kentommen war, oder ob sein Menschenblut ihm dieses Recht nehmen würde.

Die Menge zog hinter der Stimme her, doch Tanis blieb, wo er war. Dann ging er in die entgegengesetzte Richtung davon.


Flint fluchte, hielt sich die Schulter und wünschte sich, dieser Türknauf von einem Halbelfen würde ihn finden, während er dauernd gegen Elfen stieß. Er war höchstens halb so groß wie sie und wurde wie ein Blatt im angeschwollenen Fluß mitgerissen.

Irgendwann erblickte er durch die Leiber hindurch jemanden, den er kannte. Er stand etwa dreißig Fuß entfernt in einem Eingang. Flint stemmte die Füße auf und schrie: »Miral!« Der Magier sah sich überrascht nach ihm um und winkte den Zwerg zu sich herüber, doch Flint zuckte nur hilflos mit den Schultern. Wäre er dazu fähig gewesen, sich durch eine solche Masse zu kämpfen, wäre es ihm auch gelungen, bei Tanis zu bleiben.

Dem großen Magier gelang es besser, das Elfenmeer zu durchteilen, und bald erreichte der verhüllte Miral den Zwerg und zog ihn in einen anderen Hauseingang. »Es ist leichter, sich an etwas Festes zu halten, und die Menge um sich herum fließen zu lassen«, sagte der Zauberer mit trockenem Lächeln. Sie sahen schweigend zu, wie die Elfen als singende Flut in Rot, Grün, Gelb und Blau vorbeiströmten.

»Was passiert jetzt?« fragte Flint.

Der Magier war überrascht. »Mit wem?« fragte er.

»Mit Porthios.« Flint zeigte auf die davonziehende Prozession, von der nur noch die Federn der Wachen aus der Masse herausragten. »Wenn er seine Wache im Hain beendet hat.«

»Besuchst du Qualinesti seit zwei Jahrzehnten und weißt noch nicht, wie das Kentommen abläuft?« fragte Miral ungläubig.

Der Zwerg war beleidigt. »Ich habe kleine Feste gesehen, aber nichts, was wirklich beachtenswert war.«

»Aha.« Der Magier nickte weise, trat aus dem Eingang und schlug den Weg zu Flints Laden ein. »Also, nach dem Kaltatha, das ist die dreitägige Wache, die heute beginnt, führen drei Adlige Porthios aus dem Hain. Ihre Identität wird hinter schwarzen Roben, Handschuhen und Masken verborgen sein. Die Stimme wird nicht dabei sein, weil sie sich am Vortag zum Meditieren und Beten zurückzieht.

Porthios trägt dann die graue Robe, ebenso wie Gilthanas, der dann von seiner Nachtwache am Kentommenai-Kath zurückkehrt, wo er auf den Fluß der Hoffnung hinausblickt.« Miral brach seinen Bericht ab. »Bist du da schon gewesen?«

Flint nickte.

»Die Leute aus der Stadt werden keinen der beiden Brüder beachten«, sagte Miral. »Das gehört zu den Grundsätzen des Kentommen.«

»Ich weiß«, erwiderte Flint. »Ailea hat es mir gesagt. Wo geht Porthios hin?«

Der Zauberer nahm den Faden wieder auf, wobei er einem Kind auswich, das eine silbergraue Fahne schwenkte. »Die drei Adligen führen ihn in einen Steinraum tief unter dem Palast. Es ist ein dunkler Raum, und er muß sich in einen kleinen Lichtkreis in der Mitte setzen.« Miral und Flint gingen an einem glitzernden Quarzhaus in Eichenform vorbei und bogen um eine Ecke.

»Die maskierten Adligen stehen im Dreieck um den jungen Mann«, erzählte Miral. »Sie sind die Ulathi, die Zeugen, und jeder trägt einen zeremoniellen Namen: Tolethra, der Ehrgeiz, Sestari, der Neid, und Kethyar, der Stolz. Jeder befragt den jungen Mann gnadenlos, beschuldigt ihn des selbstsüchtigem Ehrgeizes, des Neides auf wichtigere Andere und des dummen Stolzes. Durch ihren Zorn, ihr Schelten, ihren Spott und ihre Kritik prüfen sie die Stärke des Willens und die Reinheit der Seele, die der junge Mann im Hain errungen hat.«

Flint stellte sich die Szene vor und erschauerte. Da zog er seine Vollbarttage doch vor. »Wozu dieses Verhör – wie hieß das doch gleich?«

»Dieser Teil vom Kentommen heißt das Melethka-Nara, der ›Schatten im Herzen‹«, sagte Miral. »Wie der Name verrät, geht es darum, zu sehen, ob noch ein Schatten über dem Herzen des jungen Elfen liegt. Wenn ja, dann wird er sich einschüchtern lassen, wütend werden oder über ihren Worten verzweifeln. Wer schreit, weint oder auch nur zusammenzuckt, hat bei diesem Test versagt. Wenn der junge Elf jedoch am Ende des Verhörs immer noch ruhig und mit sich selbst im reinen ist, dann nicken die Ulathi einfach, verlassen den Raum und lassen die Tür offen.«

Plötzlich wußte der Zwerg, wo die Stimme jene undurchdringliche Maske entwickelt hatte, die bei Aufregung über ihr Gesicht fiel. Er fragte sich, wie sich Porthios und dann auch Tyresian durch das Kentommen verändern würden.

Sie hatten Flints Laden erreicht, doch von Tanis war keine Spur zu sehen. Flint war glücklich, sich ein paar Minuten auf seiner geliebten Steinbank ausruhen zu können – auch wenn er das nie zugegeben hätte –, und bat Miral herein. Der war einverstanden, und bald teilten sich die beiden eine Tüte geröstetes und gesalzenes Quith-Pa, die der Zwerg auf dem Rückweg von der Prozession erstanden hatte. Flint hatte einen Krug Bier in der Hand; der Magier trank Wasser.

»Und wie geht es dir, mein Freund?« fragte Miral. »Hast du etwas darüber herausbekommen, wer diese gemeine Falle aufgestellt hat?«

Flint schüttelte den Kopf als Antwort auf die zweite Frage, erwiderte jedoch auf die erste, daß er so gesund wie jeder nur halb so alte Zwerg sei. »Tanis und Eld Ailea haben sich bestens um mich gekümmert. Sie haben mir lauter gesunde Sachen zu essen und zu trinken gegeben. Das war scheußlich«, fügte er maulend hinzu.

»Und hat der Trank, den ich hiergelassen habe, gewirkt?« erkundigte sich Miral. »Ich hatte mich gefragt, wie du damit klar kommst, wenn du stündlich eine Tasse Tee trinken mußt.«

»Tee?« Der Zwerg sah verwirrt aus. »Nein. Ailea hat mir so viel kaltes Wasser und Milch verabreicht, daß ich richtig am Schwimmen war – sie hat behauptet, das wäre gut gegen Wundfieber –, aber Tee habe ich nicht bekommen. Außer wenn sie ihn ins Wasser gemischt hat. Würde ich ihr glatt zutrauen.«

»Nein, diesen Tee hätte man warm trinken müssen«, sagte der Zauberer. »Nun gut. Vielleicht habe ich vergessen, die Kräuter hierzulassen. Ich habe in letzter Zeit so viel um die Ohren, daß ich nie genau weiß, ob ich etwas wirklich getan habe oder nur daran gedacht habe.«

Plötzlich hörte Flint leichte Schritte auf dem Weg zu seiner Tür. »Das wird Tanis sein«, sagte er.

Aber es war ein Elfenkind in Flints Größe mit weizenblondem Haar und meerblauen Augen. Das Mädchen platzte gleich los: »Das ist von Eld Ailea. Für Flint Feuerschmied oder Tanthalas, den Halbelfen.« Damit warf sie Flint ein gefaltetes Stück Pergament zu.

Das Kind stand vor Flint und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, während der Zwerg das Papier auffaltete und auf die Nachricht sah. »Flint, Tanthalas«, las der Zwerg laut vor. »Kommt sofort her. Ich weiß, was mit Xenoth war. Ailea.«

Er sah auf. »Was auf Krynn…?« Flint starrte das Elfenkind leer an, um es dann plötzlich wahrzunehmen. »Was willst du, Mädchen?« grollte er.

»Eld Ailea hat gesagt, du würdest mir ein Spielzeug geben, wenn ich die Nachricht überbringe und den ganzen Weg renne.« Das Kind keuchte immer noch. »Das war ganz schön anstrengend. Die Parade kommt gerade zurück. Draußen ist alles voller Leute!« Sie klang trotzig.

Flint zeigte auf den Schrank. »Da drin. Such dir was aus. Welchen Eindruck hat denn Ailea gemacht, als du sie verlassen hast, Kleine?«

Das Kind hatte schon die Schranktür geöffnet und wühlte gierig in den Sachen. Dem Zwerg erwiderte sie beiläufig: »Aufgeregt. Sie hat die ganze Zeit gesagt: ›Jetzt ist mir alles klar. Narbe. T. Erbe. Jetzt verstehe ich.‹ Und sie hat mich richtig aus der Tür geschubst.« Das Kind hörte sich beleidigt an.

Flint sah verwirrt aus. Er blickte von Miral zu dem Hinterkopf des Kindes, das die Spielsachen durchsah.

»Narbe. ›T‹«, überlegte Flint. »Erbe?«

»Ich kenne keine Elfen mit T-förmiger Narbe«, sagte der Magier und schob die Tüte mit gesalzenem Quith-Pa beiseite. »Außer vielleicht Tyresian.«

Flint setzte sich aufgeregt auf. »Das ist es! Tyresians Arme sind voller Narben von den jahrelangen Übungskämpfen. Ailea muß irgend etwas über ihn herausbekommen haben, was mit Lord Xenoths Tod zu tun hat.« Er stieß sich von der Bank hoch und eilte zur Tür. »Komm, wir müssen uns beeilen«, rief er Miral zu. Dem kleinen Mädchen sagte er: »Nimm dir, was du willst!«

Der Magier war direkt hinter ihm, als Flint auf die Straße rannte und sich durch die feiernden Elfen kämpfte, die jetzt wieder die Straßen verstopften, nachdem sie Porthios im Hain abgeliefert hatten.

Das Mädchen blieb bis zum Bauch in Spielsachen glücklich in Flints Laden sitzen.


Ailea lief ungeduldig im Haus herum, und gelegentlich schlug sie mit der kleinen Faust in die Handfläche der anderen Hand – eine männliche Geste, die bei einer Elfenfrau ungewöhnlich aussah, aber sie war entsetzlich aufgeregt.

»Das muß es sein!« flüsterte sie sich selbst zu. »Natürlich!« Am Kamin machte sie kehrt und ging wieder zur Haustür. Erneut spähte sie auf die Straße hinaus. »Wo stecken sie bloß?« schimpfte sie. »Hat Fiona sie inzwischen wohl gefunden? Ich hoffe bloß, das Kind hat sich nicht verlaufen…«

Sie hörte hinten im Haus etwas knacken und machte die Haustür wieder zu. »Flint? Tanthalas?« rief sie mit fast katzenhaftem Gesichtsausdruck. Sie eilte wieder durch das Empfangszimmer, dann am Kamin vorbei. An der Schwelle zur Küche blieb sie stehen. »Wer…?«

Die Gestalt drehte sich um, und Eld Ailea erstarrte. In all den Jahrhunderten hatte sie sich noch nie so gefürchtet. Mit feuchten Händen und kurzen Atemzügen wich sie blindlings zurück und warf dabei einen kleinen Tisch um. Drei Babyporträts und einer von Flints Schaukelvögeln fielen auf den Boden.

Die Gestalt folgte ihr ins Empfangszimmer. Ailea wollte schreien.

Doch sie brachte keinen Ton mehr heraus, sondern brach still auf dem Boden zusammen.

Dann war die Gestalt verschwunden.


Als Tanis von der Prozession wegging, nahm er die einsamsten Straßen, die er finden konnte – was nicht schwierig war, denn die meisten Bewohner von Qualinost folgten Porthios und der Stimme zum Hain. Er lief eine halbe Stunde umher, bis ihn der Ruf eines Straßenhändlers daran erinnerte, daß er Flint versprochen hatte, ihn im Laden zu treffen.

Kurz darauf kam er dort an, fand jedoch nur ein blondes Elfenkind vor, das glücklich auf dem Boden mit verschiedenen Holzspielsachen beschäftigt war. Es stellte sich als Fiona vor, zeigte Eld Aileas Nachricht, die noch auf der Bank lag, und verkündete stolz, daß der Zwerg ihr das ganze Spielzeug geschenkt hätte.

Tanis las die Nachricht und war schon aus der Tür gerannt, bevor das Mädchen den Satz zu Ende gebracht hatte.

Später würde er sich kaum noch daran erinnern können, wie er eigentlich so schnell von Flints Laden zu Eld Aileas Haus gekommen war. Überall sangen, tanzten und lachten die Qualinesti. Einmal sah er Flint Feuerschmied kurz allein an einer Straßenecke stehen und suchend um sich blicken, als wenn er jemanden verloren hätte, doch als die Menge den Blick wieder freigab, war der Zwerg verschwunden. Der Halbelf eilte weiter.

Die Tür des rosa-grauen Hauses war nicht verriegelt, doch das war nichts Ungewöhnliches. Die Qualinesti verschlossen ihre Türen selten; es gab nur wenige Verbrechen in Qualinost, kein Elf mußte sich fürchten. Tanis klopfte, erst zögernd, dann fester, weil die übliche Antwort der Hebamme: »Komme, komme, komme«, nicht zu hören war. Er rief zum Fenster im ersten Stock hoch, doch es kam keine Antwort.

Eine Nachbarin streckte den Kopf aus ihrer Tür und sah den Halbelfen, der heftig gegen die Tür schlug, verwundert an. »Ailea muß zu Hause sein«, rief die Elfenfrau. »Ich habe sie vor kaum fünf Minuten am Fenster gesehen.«

Schließlich machte Tanis die Tür auf und trat ein. Noch bevor sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, wußte er, daß etwas nicht stimmte. Er hatte erwartet, daß eine aufgeregte Hebamme von hinten angerannt käme, um ihm zu sagen, wie sie das Rätsel um Xenoths Tod gelöst hatte.

Statt dessen roch er Tod. Die Tür schlug hinter ihm zu.

Die alte Hebamme lag vor dem Kamin auf dem Rücken – in ihrem eigenen Blut. Ihre runden Augen, die Menschenaugen, für die sie sich nie geschämt hatte, starrten blicklos an die Deckenbalken. Dutzende von Miniaturen lagen im Raum verteilt. Tanis konnte erkennen, daß sie sich nach dem tödlichen Treffer noch bewegt hatte; eine breite Blutspur zog sich von der Tür bis zu dem Teppich vor dem Kamin. Einen Ärmel hatte sie bis zum Ellbogen hochgezogen, und ihr fliederfarbener Rock war etwas verrutscht, wodurch er ein schlankes Bein bis zum Knie enthüllte. In der anderen Hand hielt Ailea das Porträt von zwei Elfenkindern.

Tanis konnte nicht einmal aufschreien. Er kniete sich neben den zierlichen Körper der Elfin, ohne auf das Blut zu achten, das seine Hosen und Mokassins durchtränkte. Aileas Rock war voller Blut. Er merkte, daß er vergeblich versuchte, es abzuwischen, und es dabei nur noch mehr verschmierte. Er berührte ihr Gesicht in der Hoffnung, ihren Atem an seiner Hand zu spüren. Das Fleisch der Elfin war zwar noch warm, jedoch totenstill.

Seine Finger waren ganz rot. Als er sich auf die Hacken zurücksetzte, zog sich sein Herz vor Trauer und Wut zusammen.

Plötzlich wurde ihm bewußt, daß schon seit einer Weile jemand an die Haustür hämmerte. In diesem Moment flog die Tür hinter ihm auf. Tanis fuhr herum.

»Großer Reorx!« schrie Flint, und dann: »Ailea!«


Auf halbem Weg zu Aileas Haus war Flint in den Strom von Elfen geraten und hatte Miral aus den Augen verloren. Da er jedoch fand, daß ein Elf, der mit den anderen Elfen auf Augenhöhe war, bessere Chancen hatte, sich durch die Menge zu kämpfen, als ein Hügelzwerg, hatte Flint sich nicht weiter darum gekümmert.

Miral holte den Zwerg an der Schwelle zu Aileas Haus ein, als Flint zum ersten Mal klopfte. Der Magier wirkte ausgepumpt.

Flint beachtete ihn nicht. Statt dessen begann er, gegen die Tür zu hämmern. Schließlich riß er sie auf, sah Tanis’ tränenüberströmtes Gesicht zu ihm aufschauen und schrie auf, als er den Anblick hinter dem Halbelfen sah.

Und dann hatte Flint den Blick gehoben und die Worte entdeckt, die auf dem Kaminsims geschrieben standen. Sie wurden schon braun, weil die Flüssigkeit trocknete. »Ailea«, stand da, »es tut mir leid.«


»Begreife, welches Urteil ich fällen muß«, sagte später die Stimme vom Podium des Sonnenturms aus. Hunderte von Elfen, die durch das Kentommen angelockt worden waren, standen an der Tür, auch wenn in den zentralen Raum selbst nur Adlige eingelassen wurden, wenn die Stimme Hof hielt. Im Hintergrund wurde ununterbrochen gemurmelt.

»Seit den Sippenmord-Kriegen hat kein Elf mehr das Blut eines Elfen vergossen, Tanthalas«, sagte Solostaran, »und wir betrauern nicht nur das Dahinscheiden einer langjährigen, treuen Dienerin des Hofes, wir trauern auch um den Verlust des Friedens, der in dieser Stadt so lange geherrscht hat.

Doch bevor wir trauern können, muß der, der diesen Schatten über uns gelegt hat, sich dafür verantworten. Darum stehst du vor mir, Tanthalas Halbelf. Du bist des Mordes an Eld Ailea, der Hebamme, angeklagt.«

Litanas murmelte von seinem neuen Platz rechts vom Podium: »Wahrscheinlich hat er auch Lord Xenoth umgebracht.«

»In dieser Tat und in meiner Weisheit«, erklärte Solostaran, »erkläre ich dich für schuldig.«

Tanis, der immer noch die blutbefleckten Kleider trug, die er bei seiner Festnahme durch die Palastwache in Aileas Haus angehabt hatte, zuckte zusammen, blieb jedoch stehen. Er hörte ein leises Murren hinter sich und wußte, daß das Flint war.

»Darum verkünde ich, daß du, Tanthalas, der Halbelf, vom ganzen Land der Qualinesti verbannt sein sollst, und daß die Bewohner dieses Landes dich ächten sollen, als hätte es dich nie gegeben. Andernfalls droht ihnen dieselbe Strafe.«

Tanis schwirrte der Kopf. Der Tod wäre leichter, dachte er. Der Gedanke, Qualinost zu verlassen, verursachte Tanis die gleichen Schmerzen, als wenn man ihm ein Messer ins Herz gestoßen hätte. Bei all seiner Sehnsucht, Krynn zu bereisen, hatte er immer geglaubt, er könnte jederzeit nach Qualinost zurück.

Tyresians Miene zeigte grimmigen Triumph bei den Worten der Stimme.

»Tanthalas, nimmst du dieses Urteil an?« fragte Solostaran.

Tanis machte den Mund auf, um zu antworten, ohne daß er wußte, was er sagen würde, doch plötzlich stolperte eine der Wachen neben ihm, und Tanis sah überrascht, wie Flint wütend nach vorne stapfte und sich vors Podium stellte. »Ich weiß nicht, ob er es annimmt oder nicht«, entrüstete sich Flint mit den Händen auf den Hüften, aber traurigen Augen. »Aber, bei Reorx, ich weiß, daß ich nicht einverstanden bin!«

Alle, die ums Podium versammelt waren, starrten den Zwerg sprachlos an.

Flint war sich all der mandelförmigen Augenpaare bewußt, die ihn jetzt anstarrten, besonders dessen der Stimme. Jetzt schmeißen sie mich aus der Stadt, dachte Flint, und dann kann ich dem Halbelfen überhaupt nicht mehr helfen. Plötzlich dachte er an Ailea und merkte, daß er – wenn Tanis verbannt war und die Hebamme tot – wenig Grund hatte, in Qualinost zu bleiben.

Er schüttelte den Kopf und ordnete seine Gedanken. Gewiß würde Ailea es verstehen, wenn er jetzt alle seine Kraft brauchte, um Tanthalas, ihren Liebling, zu verteidigen. Flint würde die alte Hebamme später, im stillen, betrauern.

Aber jetzt brauchte ihn Tanis. »Seht doch, Stimme«, begann Flint mit rauher Stimme, bevor Solostaran noch irgend etwas sagen konnte. »Ihr habt anscheinend auf alles gehört, was diese Elfenlords Euch über den Vorfall erzählt haben – zumindest, was deren Meinung nach passiert ist. Es gibt keine Augenzeugen – gar keine Zeugen, bedenkt das. Aber sie haben bei dieser schlimmen Tat schnell mit dem Finger auf Tanis gezeigt«, fuhr Flint fort. »Ich denke an andere, die genauso, nein, viel mehr unter Verdacht stehen als der Halbelf, der zu Ailea in den letzten Wochen eine innige Beziehung entwickelt hat.«

»Innige Beziehung!« schnaubte Tyresian. »Theater!«

»Und Ihr, Lord Tyresian, gehört zu meinen Hauptverdächtigen!« bellte Flint und zeigte auf den Elfenlord.

»Unmöglich«, gab Tyresian zurück. »Ich habe mit anderen für Porthios am Hain Wache gestanden, als die alte Frau umgebracht wurde.«

Flint kam kurz aus dem Konzept. Dann fuhr er fort: »Was ist mit der Botschaft? Der Tod von Eld Ailea hat vermutlich etwas mit Lord Xenoths Tod zu tun. Die Hebamme hat diese Verbindung herausbekommen und wurde deshalb umgebracht. Warum sollte sie denn die Botschaft an mich und Tanthalas schicken, wenn sie Beweise hätte, die Tanis mit Xenoths Tod in Verbindung bringen?«

Die Stimme wollte den Zwerg anscheinend fortfahren lassen, obwohl das allen Regeln bei Hof widersprach. »Aber die Nachricht ist verschwunden, Meister Feuerschmied«, sagte Solostaran. »Keiner außer Euch hat sie gesehen. Miral, der Zauberer, hat nur gehört, wie Ihr sie vorgelesen habt, das Mädchen Fiona kann noch nicht lesen, und Tanis, der sie angeblich auch gesehen hat, ist der Hauptverdächtige. Außerdem hat man niemanden außer Tanis beim Betreten oder Verlassen des Hauses beobachtet, bevor Ihr und Miral gekommen seid. Und schließlich, warum sollte Aileas Mörder sich mit einer Nachricht auf dem Kaminsims entschuldigen, wenn der Mörder ihr nicht nahegestanden hat?«

»Ich…« Flint brach ab. »Ich gebe zu, daß ich es nicht weiß, Stimme. Ich weiß nur, daß es nicht so gewesen sein kann, wie es aussieht.«

Die Stimme runzelte die Stirn. Das Gesicht des Herrschers der Elfen zeigte Verwirrung – vielleicht ein Hoffnungsschimmer.

»Bei allem Respekt, Stimme, aber das ist absurd«, widersprach Tyresian mit leiser Stimme, aber blitzenden Augen. »Seit wann darf ein einfacher Schmied und noch dazu ein Zwerg, die Weisheit des Gerichts in Frage stellen?«

Die Stimme hob die Hand. »Meister Feuerschmied hat mir gegenüber immer offen reden dürfen«, sagte Solostaran ruhig. In diesem Augenblick bemerkte Flint, wie müde und wie alt der Elf aussah. »Bitte«, sagte die Stimme und wies Flint an fortzufahren.

»Ich will nur sagen, Stimme«, erklärte der Zwerg kurz und bündig, »daß Ihr vielleicht Tanis seine Version der Geschichte erzählen lassen solltet.«

»Wir haben seine Geschichte gehört«, protestierte Tyresian, »und sie ist lächerlich. ›Ich kam an, und sie war tot.‹ Warum war dann ihr frisches Blut an seinen Händen? Warum hat dann kein Nachbar jemand anderen als Tanis hineingehen oder herauskommen sehen? Es gab nur einen Zeitraum von fünf Minuten, in dem die Hebamme gestorben sein kann, und in dieser Zeit war Tanis der einzige, der das Haus betreten hat. Erwartet er etwa, daß wir glauben – «

»Halt!« befahl die Stimme eisern. Tyresians Wortschwall brach abrupt ab. »Ich fürchte, Flint, es ist etwas Wahres an dem, was Lord Tyresian sagt«, sagte Solostaran bedauernd, während er sich wieder an den Zwerg wandte. »Wir haben Tanis’ Geschichte gehört, und sie enthält wenig, was ihn entlasten könnte.«

Aber Flint war noch nicht fertig. »So sicher, wie mein Bart lang ist, gehen hier merkwürdige Dinge vor, Stimme, und ich glaube kaum, daß Ihr das bestreiten könnt. Möglich, daß Tanis, wenn man ihm Zeit läßt, etwas herausbekommt und seine Unschuld beweisen kann. Es sieht so aus, als hätte sich jeder hier seine feste Meinung gebildet. Aber ich finde, er hat eine Chance verdient.«

Flint konnte so unbeweglich sein wie ein Berg, wenn es darauf ankam. Die Stimme betrachtete den Zwerg eine Weile und lächelte dann leise. »Wie gewöhnlich, Meister Feuerschmied, erblaßt die Weisheit des Gerichts vor Eurem unbestechlich logischen Denken. Ich werde Euren Rat beherzigen.«

Tyresian stand die Wut ins Gesicht geschrieben, doch die Stimme ignorierte ihn.

»Tanthalas«, sagte Solostaran wieder mit ganzer Autorität, auch wenn dieses Mal die Kälte fehlte. »Du hast drei Tage Zeit, um zu beweisen, daß nicht du diese dunkle Tat begangen hast. Wenn du den Hof nicht bis Sonnenuntergang des dritten Tages von deiner Unschuld überzeugt hast, wird die von mir verhängte Strafe in Kraft treten, und du wirst für immer aus dem Reich der Qualinesti verbannt.«

Tyresian protestierte: »Der Halbelf ist gefährlich! Die Stadt ist voller Besucher wegen des Kentommen. In drei Tagen findet die Zeremonie statt. Was ist, wenn ein weiterer Mord geschieht? Wie viele Elfen müssen sterben, bevor die Stimme den Tatsachen ins Auge sieht?«

Solostaran sah sich ernst um. Gilthanas, Litanas und Ulthen schienen sich ebenfalls unbehaglich zu fühlen. »Hat noch jemand etwas zu sagen?« fragte die Stimme.

Plötzlich schien sich Litanas daran zu erinnern, daß er jetzt Berater der Stimme war. Er trat vor. »Ich stimme zu, daß Tanis Gelegenheit haben sollte, seine Unschuld zu beweisen, aber es scheint gewisse Bedenken unter den Adligen zu geben, ob es ratsam ist, einen des Mordes Angeklagten weiter in den Straßen von Qualinost frei herumlaufen zu lassen.«

Tyresian knurrte: »Gewisse Bedenken? Das ist eine Untertreibung.«

»Mein Berater hat das Wort, Lord Tyresian«, sagte die Stimme. »Fahrt fort, Lord Litanas.«

Litanas richtete sich auf. Seine braunen Augen sahen den Elfenlord direkt an. »Mein Vorschlag wäre: Sperrt Tanthalas für die drei Tage mit einer Wache vor der Tür in seinem Zimmer ein. Erlaubt seinem Freund, Flint Feuerschmied, Beweise für seine Unschuld zu sammeln. Am Ende der drei Tage – unmittelbar nach dem Kentommen – trefft Ihr Euch mit Flint und uns anderen wieder, um die Lage zu besprechen.«

Die Stimme nickte ernst, doch die grünen Augen wirkten erfreut. »Gibt es weitere Vorschläge?« Alles schwieg. »Dann soll es so sein, wie mein Berater, Lord Litanas, vorgeschlagen hat. So habe ich es in Weisheit beschlossen.«

Mit diesen alten Worten wurde der Rat vertagt. Nach einem letzten Blick auf Tanis und Flint verließ die Stimme mit wehender Robe den Saal.

Als Flint auf Tanis zukam, sah er, wie Miral mit dem Halbelfen redete. »Ich hoffe, daß du die Zeit nutzen kannst, die der Zwerg für dich herausgeschlagen hat, Tanis, aber ich befürchte, das wird eine schwierige Sache«, sagte der Zauberer traurig.

»Du glaubst also, daß ich es war?« fragte Tanis ihn.

»Nein. Ich glaube, daß du es nicht warst, Tanis. Aber die Beweise gegen dich sind stark.« Miral schüttelte den Kopf. »Laß es mich wissen, wenn du Hilfe brauchst, Tanis. Ich werde dir so gut ich kann beistehen.« Der Zauberer drehte sich um und verließ geschwind den Saal.

Gilthanas und eine andere Wache traten vor, um Tanis zu seinem Zimmer zu bringen.

Flint sah die beiden finster an, war jedoch überrascht, im Gesicht des jungen Elfenlords nur Traurigkeit zu entdecken.

»Die alte Hebamme hatte diesen Tod nicht verdient«, sagte Gilthanas leise.

»Ich weiß«, sagte Tanis. »Ich habe sie nicht getötet.«

»Sie hat auch mich und Laurana und Porthios entbunden«, meinte Gilthanas, um dann tief durchzuatmen. »Tanis, die Vernunft sagt mir, daß nur du Eld Ailea getötet haben kannst. Aber mein Herz hofft, daß du entlastet wirst, damit meinem Vater nicht das Herz bricht. Ich wäre froh, wenn du deine Unschuld beweisen kannst«, fügte er schlicht hinzu.

Gilthanas strich sich das goldene Haar aus den grünen Augen. In seiner schwarzen Uniform sah er klein aus. »Aber erwarte keine Unterstützung von mir. Ich kann dir nicht helfen. Und solltest du weitere Untaten planen…« Er berührte das silberne Emblem von Baum und Sonne auf seinem schwarzen Wams, das Wappen der Stadt und ihrer Wachen. »Dann werde ich gezwungen sein, dich aufzuhalten.«

Flint schnaubte. Das half ja wirklich viel. Tanis jedoch schien es zu verstehen, denn er nickte. Dann trat die andere Wache auf seine andere Seite. Tanis nahm sein Schwert ab und händigte es Flint aus.

Gilthanas und die andere Wache führten den Freund des Zwergs davon.

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