»Du kannst das da drüben beim Schmelzofen hinschmeißen, Junge«, sagte Flint, während er sich einen Weg durch den Laden bahnte.
Mit einem erleichterten Stöhnen ließ Tanis den schweren Sack fallen. Er plumpste auf den Boden.
»Das war nicht wörtlich gemeint«, knurrte Flint den offensichtlich erschöpften Elfen an, als er selbst vorsichtig den Sack absetzte, den er auf der Schulter gehabt hatte.
»Entschuldigung«, sagte Tanis müde und rieb sich seinen schmerzenden Arm.
Die beiden waren gerade vom Erzholen zurück, obwohl sich Tanis jetzt fragte, wie es dem Zwerg eigentlich gelungen war, ihn dazu zu überreden. Vor ein oder zwei Stunden, im Schein der frühen Morgensonne, war Flint mit leeren Säcken in der Hand nach Süden aus der Stadt marschiert. Nach einem angenehmen Spaziergang von einer Meile war der Wald einer Felsnase gewichen, die mit rostig aussehenden Steinen übersät war, nach Flints Auskunft Eisenerz. Zehn Minuten später hatte Tanis schon unter dem Gewicht der Last getaumelt, die der Zwerg ihm aufgeladen hatte.
»Wäre es nicht einfacher, dafür ein Packpferd mitzubringen?« hatte Tanis durch zusammengebissene Zähne gefragt.
»Ein Pferd?« hatte Flint naserümpfend gemeint. »Bist du noch bei Trost? Bei Reorx! Kein Zwerg, der seine sieben Sinne beisammen hat, würde einem verrückten Tier zutrauen, sein Erz zu tragen.«
Tanis wußte, daß es wenig Sinn hatte, mit dem Zwerg zu streiten. Flint hatte seinen Sack geschultert – der fünfmal soviel Erz enthalten mußte wie der von Tanis –, als wäre er voll Federn, und war zur Stadt zurückgelaufen. Tanis war ihm stolpernd gefolgt, so gut er konnte, und hatte sich die ganze Zeit geschworen, nächstes Mal auf der Hut zu sein, wenn Flint »einen netten, kleinen Spaziergang« vorschlug.
Tanis und Flint hatten sich fast jeden Tag gesehen, seitdem die Stimme den Zwerg vor einer Woche spätabends noch zu einem Besuch des Halbelfen hatte holen lassen. Sie hatten sehr wenig über wichtige Dinge geredet, nur über das Wetter und Solace und Schmieden und Schnitzen, aber Tanis, der etwas verhauen aussah, schien Trost aus dem Treffen zu schöpfen. Inzwischen waren die Spuren des Faustkampfes dem Halbelfen kaum noch anzusehen, aber die Kluft zwischen ihm und dem Erben der Stimme würde sich nur sehr langsam schließen.
»Und wie verwandelst du diese Steine in Eisen?« fragte Tanis jetzt, als der Zwerg die schwere Abdeckplatte von dem Schmelzofen hinter seinem Laden entfernte.
»Das lernt man nur, indem man es macht«, erklärte ihm Flint. »Das jedenfalls hat der Vater meines Vaters, der alte Regar Feuerschmied, immer gesagt. Sagte meine Mutter jedenfalls immer.«
Der Schmelzofen war rund, so hoch wie der Zwerg und bestand aus vom Feuer geschwärzten Lehmziegeln. Der Boden war trichterförmig mit einem kleinen Loch, worunter ein helmgroßer Schmelztiegel stand. Nach Flints Anweisungen füllte Tanis den Ofen zur Hälfte mit Schichten aus Eisenerz, Steinkohle und kreideartigen Felsstücken, die Flint Kalkstein nannte. Durch eine kleine Tür am Boden des Schmelzofens zündete Flint die Kohle an. Dann half Tanis ihm, den Deckel wieder aufzusetzen.
»Was jetzt?« fragte Tanis.
»Wir warten«, meinte Flint, der sich die rußigen Hände abstaubte. »Wenn die Kohle schließlich richtig heiß ist, schmilzt das Eisen aus dem Stein, läßt die Schlacken zurück und tropft in den Schmelztiegel. Aber das dauert gut einen Tag, also können wir uns jetzt getrost anderen Dingen widmen.«
Flint zeigte Tanis, wie das Eisen aussehen würde, wenn es in der Schale aufgefangen war: ein schwerer, schwarzer Klumpen, den er »Schweineeisen« nannte, auch wenn Tanis fand, daß er überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem Schwein hätte.
»Und da draus machst du Schwerter und Messer?« fragte Tanis, woraufhin Flint schallend lachte.
»Du brauchst doch ein paar Lektionen, was das Schmiedehandwerk angeht, Bursche«, war sein Kommentar.
»Ich?« fragte Tanis. Er hatte dem Zwerg bei der Arbeit am Amboß zugesehen und wußte, wieviel Kraft und Willen Flint aufwandte, um das Metall in die gewünschte Form zu zwingen. Wie sollte Tanis jemals etwas so Hartes wie Eisen dazu bringen, das zu tun, was er wollte?
Das Funkeln in Flints Augen verriet Tanis, daß Widerspruch zwecklos war. Aufmerksam lauschte der Elf dem Zwerg, als dieser ihm erklärte, daß Schweineeisen zu brüchig war für eine gute Klinge. Es mußte noch einmal geschmolzen werden. Flint zeigte Tanis, wie das ging. Er legte das Schweineeisen in einen Schmelztiegel und plazierte es mitten in den Kohlen der Feuergrube, die sich neben seinem schweren Eisenamboß befand. Tanis mußte die Blasebälge treten, bis die Kohlen wie flüssige Edelsteine leuchteten. Als das Eisen schmolz, entwichen schwarze Rauchkringel. Beim Abkühlen würde es Schmiedeeisen sein, erläuterte Flint, und damit nicht halb so brüchig wie Schweineeisen.
»Aber wenn es zu weich ist, gibt es doch unmöglich ein gutes Schwert«, wandte Tanis ein.
Flint nickte. Mit einer schweren Zange hielt er den Klumpen Schmiedeeisen in die Kohlen, bis er glühend heiß war. Dann legte er ihn auf den Amboß und besprenkelte ihn mit einem feinen, schwarzen Staub, der fast wie Kohlenstaub aussah, nur viel mehr glänzte. Flint nannte ihn ›Atem von Reorx‹.
»Weißt du, vor langer Zeit«, erzählte Flint, »da hat einmal ein böser Lehnsherr seinem Schmied befohlen, ein Eisenschwert zu schmieden, das nie stumpf werden würde. Wenn der Schmied versagte, sollte er zum Tode verurteilt werden. Die Aufgabe erschien unmöglich, doch der Schmied war ein Liebling von Reorx, und der Gott blies über das weiche Eisenschwert des Schmieds, wodurch es stark und hart wurde, so daß seine Schneide lange heil und unversehrt bleiben würde.«
Flint begann, den glühenden Metallklumpen mit dem Hammer flachzuschlagen. Wieder erhitzte er ihn in den Kohlen, streute mehr von dem schwarzen Staub darüber und hämmerte dann weiter. Das wiederholte sich einige Male.
»Was wir jetzt haben«, sagte Flint befriedigt, als er den heißen Metallklumpen mit der Zange hochhielt, »ist ein Metallstück, das hart und stark ist, aber nicht so brüchig, daß es leicht kaputtgeht. Das ist Stahl, Tanis.«
Tanis betrachtete das glühende Metall mit neuen Augen. Gold war schön, und Elfen liebten Silber, doch in diesen finsteren Zeiten war Stahl das Wertvollste auf Krynn.
»Was machst du jetzt damit?« fragte Tanis.
»Ich mache gar nichts damit«, gab Flint zurück. »Du machst.«
»Ich kann keinen Stahl schmieden!«
»Konnte ich auch nicht, bis ich es versuchte«, sagte Flint barsch und drückte Tanis einen schweren Hammer in die Hand.
Offenbar gab es keine Ausrede. Tanis seufzte. Als erstes mußte er sich entscheiden, was er herstellen wollte, aber das war noch das Leichteste. Er wünschte sich schon lange ein Jagdmesser wie das von Porthios.
Der Zwerg führte seine Hände und zeigte Tanis, wie er den Stahl erhitzen mußte und wie er mit dem Hammer zuschlagen sollte, damit keiner der heißen, wegspringenden Funken seine Hand traf.
»Du sollst nicht einfach darauf eindreschen, Junge«, mahnte Flint. »Es sind gleichermaßen dein Wille und dein Arm, die den Stahl in Form bringen. Stell dir das fertige Stück vor. Und dann schlag zu und sieh, was passiert.«
Tanis befolgte die Anweisungen, wobei er darüber nachdachte, wieviel leichter es doch war, von Flint und Miral zu lernen als von Tyresian. Das Messer begann, Gestalt anzunehmen.
Tanis fühlte Wärme in seinem Arm und in seiner Brust aufsteigen. Das ist nur die Hitze der Esse, sagte er sich, aber irgendwie wußte er, daß das nicht stimmte. Vielleicht verstand er jetzt ein wenig von dem, was Flint empfand, wenn er hier am Amboß stand, eine Klinge in einem leblosen Klumpen Metall erahnte und sie mit Feuer und Hammer, mit Herz und Verstand, herausholte.
»Jetzt lösch es, solange es noch rotglühend ist«, sagte Flint, und Tanis tauchte den dünnen, spitzen Stahlstreifen in das halbe Faß Wasser, das am Amboß stand. Dampf stieg zischend auf und leuchtete rot im Licht des Schmelzofens. »Löschen härtet das Metall«, erläuterte Flint.
Tanis zog den rauhen, schwarzen Stahl aus dem Wasser und betrachtete ihn kritisch. »Das sieht aber nicht so ganz aus wie ein Messer.«
»Unsinn«, knurrte Flint. »Dein Messer ist da drin, ganz sicher. Es muß nur noch poliert und am Wetzstein geschärft werden. Mach das und binde ein Heft daran, dann wirst du schon sehen.«
Da grinste Tanis. Das Stück Stahl sah etwas schief aus und war nicht ganz flach, aber es würde sein Messer sein. »Danke, Flint«, sagte er, doch der Zwerg schüttelte den Kopf.
»Du hast es gemacht, nicht ich«, erwiderte Flint.
Flint dachte nach. Die Herbsttage wurden kürzer. Das Laub der Espen glänzten in der Sonne wie Gold, das der Eichen wie gehämmertes Kupfer. Mehr als einmal hatte die Sonne morgens schon Reif auf Gras und Bäumen zum Funkeln gebracht. Aber später schmolz der Reif, die Sonne löste den feuchten Nebel auf, und am Nachmittag war die Luft trotz des warmen Lichtes kühl.
Hinter Flints Laden stand ein moosbewachsenes Mäuerchen, und dahinter erstreckte sich eine kleine Wiese, die an einem Wäldchen aus Espen und Pinien endete. Im Gegensatz zu den zahllosen Gärten und Höfen von Qualinost kümmerte sich niemand um die Wiese und den Hain. Scheinbar war es ein Rest des Waldes, noch aus der Zeit, als Kith-Kanan sein Volk nach Qualinesti geführt hatte. Sie erinnerten daran, daß es einst keine Stadt und keine Elfen gegeben hatte, sondern nur den tiefen, dunklen Wald und die Musik des Windes.
Manchmal machte Flint eine Pause, trat aus der verrauchten Hitze der Schmiede und setzte sich hier auf die Mauer, um die klare Luft einzuatmen, während seine stämmigen Beine über den Rand baumelten. Der Hain hinter der Wiese ließ ihn oft an seine Reise von Solace hierher denken, quer durch den Wald von Qualinesti, und wieder einmal fragte er sich, ob er nicht bald aufbrechen sollte. Noch ist es hell und warm, Flint, sagte er zu sich, aber der Winter steht vor der Tür, so sicher, wie Stahl hart ist. Und auch wenn er hier in den Wäldern bestimmt nicht so rauh ist, wird das woanders nicht so sein, und wenn du verrückt genug bist, es dann zu versuchen, könntest du erfrieren, lange bevor du Solace erreichst.
Aber jedesmal schien es noch eine einzige Sache zu geben, die er erledigen mußte, bevor überhaupt nur an die Abreise zu denken war. Er hatte Lady Selena einen Satz Trinkkelche versprochen, die wie vergoldete Tulpenblüten aussehen sollten. Allein daran hatte er vierzehn Tage gearbeitet, doch als er damit fertig war, mußte er gleich eiligst zwei ausgefallene Hochzeitsketten anfertigen, die er einem jungen Adligen versprochen hatte, der unbedingt einem Elfenmädchen den Hof machen wollte. Und dann betrat der Hauptmann der Wache der Stimme den Laden, dessen Langschwert einfach kein Gleichgewicht hatte, und die Elfenschmiede konnten es angeblich nicht reparieren. Für Flint war das Problem so offenkundig – der dekorative Handschutz am Heft hatte das Gleichgewicht völlig verändert –, daß er seine Selbstachtung verloren hätte, wenn er sich geweigert hätte zu helfen. So sicher, wie sein Bart wuchs, kamen die Aufträge.
Bis auf ein paar neue Kleider, Geschenk der Stimme, sah Flint praktisch noch genauso aus wie an dem Tag, als er Qualinost zum ersten Mal betreten hatte. Seine schweren Stiefel mit den Eisensohlen hatte er allerdings gegen ein paar aus weichem, grauem Leder eingetauscht, und obwohl seine Füße immer noch doppelt so groß waren wie die der Elfen, donnerten jetzt wenigstens seine Schritte nicht mehr so laut.
Und seine Kleider… Grün war eigentlich nicht Flints Farbe, doch der Schneider, den die Stimme ihm vor vier Tagen geschickt hatte, hatte mit der Zunge geschnalzt und den Kopf geschüttelt, als Flint rostrote Wolle für seine neue Herbstgarderobe wählte. Der alte Elf bestand auf Smaragdgrün, obwohl Flint protestierte, weil ihm das zu grell war. Bei der Anprobe schließlich hatte der alte Schneider in die Hände geklatscht.
»Das steht Euch hervorragend, Meister Feuerschmied!« hatte er ausgerufen.
»Findet Ihr?« hatte Flint gefragt, der sich stirnrunzelnd in dem polierten Silberspiegel betrachtete.
»Aber ja«, antwortete der Schneider mit fester Stimme. »Ihr seht wirklich umwerfend aus.«
»Das stimmt, Flint«, hatte Tanis aus der Ecke zugestimmt.
Umwerfend? hatte Flint gedacht, als er sein Spiegelbild kritisch begutachtete und dann über sich selber grinsen mußte. »Na ja, dann leg ich doch gleich mal los«, hatte er gesagt. Tanis hatte gelacht.
Jetzt rannte der Halbelf mit seinem wehenden rotbraunen Haar um die Ecke von Flints dunklem Geschäft – das im Vergleich mit den benachbarten Elfenhäusern eher einer Hütte glich.
»Ich Glücklicher. Gesellschaft«, schnaubte Flint, auch wenn er lächeln mußte. »Wo ist denn der Frechdachs Laurana? Ich bin überrascht, daß sie dich nicht zu irgendwelchen Tobereien oder so entführt hat.«
»Hat sie versucht«, meinte Tanis. Er pflückte zwei Äpfel von einem überladenen Baum, warf den besseren Flint zu, suchte sich ein bequemes Plätzchen auf der Mauer und schloß die Augen, damit das Sonnenlicht seine Lider wärmte. Überrascht bemerkte Flint, daß Tanis trotz der etwas spitz zulaufenden Ohren und der leichten Schlitzaugen so, wie er da saß, einem menschlichen Kind sehr ähnlich sah. Das ließ den Zwerg wieder an Solace denken, und er fühlte so etwas wie Heimweh.
»Mir war heute nicht nach Spielen«, fuhr Tanis fort. »Außerdem war Gilthanas auch da, und ich glaube nicht, daß er mich dabeihaben wollte.«
»Pah«, sagte Flint, schmiß den Apfelrest über die Schulter und wischte sich die Hände am Bart ab. »Ich bin sicher, daß Lauranas Bruder nicht so denkt.«
Tanis schaute den Zwerg an und sagte ernst: »Er will nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich dachte immer, er wäre wie mein eigener Bruder, aber jetzt will er anscheinend nur noch Porthios nacheifern. Und Porthios hat sich mir gegenüber nie wie ein Bruder verhalten.«
Die schroffen Züge des Halbelfen verdüsterten sich. Flint seufzte und legte Tanis seine Hand auf die Schulter. »Hör mal, Junge«, sagte er leise, »manchmal weiß man nicht, warum Leute so sind, wie sie sind. Aber nimm ihnen das nicht übel. Ich bin sicher, es wird sich alles klären.«
»Ich habe eine Vermutung, warum er sich so verhält«, sagte Tanis, führte das aber nicht näher aus. Und Flint spürte, daß es Dinge im Leben des Halbelfen gab, die er mit niemanden teilen wollte, und sagte nichts weiter. Natürlich hatte Flint Laurana die Geschichte mit dem Kampf von Porthios und Tanis aus der Nase gezogen – nur die Götter wußten, wie sie das herausbekommen hatte –, aber der Zwerg hatte seinem neuen Freund nie offenbart, daß er darüber Bescheid wußte.
Sie genossen eine Weile die Sonne, bis Tanis Flint irgendwann bat, ihm mehr über den Rest der Welt und über Solace zu erzählen. Das tat er häufig. Der Junge schien von solchen Gedanken nie genug zu bekommen.
»Aber was hast du gemacht, nachdem die vier Räuber die Wachen überwältigt hatten?« fragte Tanis. Flint erzählte gerade von dem Tag, als eine Räuberbande im Wirtshaus »Zur Letzten Bleibe« Ärger gemacht hatte.
»Tja, ich sage dir, Junge, es sah wirklich finster aus. Also nahm ich den Hammer in die Hand«, er umfaßte nachdrücklich einen Stock, »und dann habe ich… äh… und dann…« Flint war sich plötzlich bewußt, daß Tanis mit leuchtenden Augen an seinen Lippen hing.
»Und dann was, Flint?« fragte Tanis aufgeregt. »Hast du mit allen vieren auf einmal gekämpft?«
»Nun, äh, nicht so richtig«, sagte Flint. Irgendwie klang die ganze Sache besser, wenn er sie nach ein paar Krügen Bier erzählte. »Weißt du, da stand dieser Krug auf dem Boden rum, und, hm, weil es doch dunkel war und ich wirklich nicht aufpaßte, wo ich hintrat…«
»Du bist gestolpert«, sagte Tanis. Ein Lächeln erhellte sein Gesicht.
»Ich bin ganz bestimmt nicht gestolpert!« Flint brüllte fast. »Ich wurde ohnmächtig, und mein Hammer erwischte den Anführer der Räuber mitten auf der Stirn, genau so.« Er schlug mit dem Stock auf einen halbverfaulten Apfel. Der Apfel platzte, so daß der Saft spritzte und Tanis eine wirklich bildhafte Vorstellung bekam.
»Das ist toll!« sagte Tanis, doch Flint schnaubte, als ob das gar nichts wäre.
»Manchmal wünsche ich mir, ich wäre in Solace zur Welt gekommen«, sagte Tanis jetzt leise, während er nach Norden schaute, in die Ferne, wo Solace lag. Er warf seinen Apfelrest weg und verabschiedete sich von Flint.
Wie es die Stimme voller Hoffnung erwähnt hatte, als der Zwerg erstmals in Qualinost aufgetaucht war, waren Flint und die Stimme erstaunlicherweise in den letzten Monaten wirklich Freunde geworden. Hätte jemand Flint vor einem halben Jahr erzählt, daß er ein Freund des Elfenherrschers von Qualinesti werden würde, so hätte er dem Kerl für diesen Witz sofort ein Bier spendiert. Obwohl Welten zwischen dem großen, majestätischen Elfenlord und dem kleinen, geradlinigen Zwerg lagen, besaßen beide eine Offenheit, die es ihnen leicht machte, die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken.
Und so spazierte Flint nun Seite an Seite mit der Stimme durch die Gärten des Palasts und redete über ferne Länder und Zeiten oder saß bei offiziellen Anlässen an der Tafel zur Rechten der Stimme. Manche Höflinge grollten deswegen, doch Flint wurde bald klar, von wem Porthios und Laurana ihre Starrköpfigkeit geerbt hatten.
In den letzten Wochen ließen die Leibwachen im Vorzimmer der Stimme, auf deren Brustschilden das Wappen von Sonne und Baum aus Silberdraht prangte, Flint sogar bereits ohne weitere Kontrolle eintreten. Sie begrüßten ihn grinsend und winkten ihn weiter, damit er selbst an die Tür zum Glaswandzimmer klopfen konnte. Und die Kammerdiener der Stimme hatten strikte Anweisung, die Silberschale auf dem Tisch der Stimme stets mit jenen Trockenfrüchten und kandierten Nüssen zu füllen, die der Zwerg besonders liebte. Heute fiel die Herbstsonne durch die Fenster auf den frischen, grünen Farn, mit dem man den Boden bestreut hatte, und das Licht im Raum war sanft wie auf einer Waldlichtung.
Solostaran drückte seine Hoffnung aus, daß Tanis nicht zur Last würde, wenn er Flint sooft besuchte.
»Pah«, sagte Flint. »Ich kann mir nicht vorstellen, was so großartig daran sein soll, mit einem übellaunigen Zwerg wie mir in einer verräucherten Schmiede herumzuhängen. Aber mach dir keine Gedanken um Tanis. Das ist ein guter Junge.«
Die Stimme lächelte und nickte. »Ja, das denke ich auch.« Damit stand er auf, ging zum Fenster und schaute in die Ferne, als würde er über etwas nachdenken. Dann drehte er sich um. »Tanis bedeutet mir sehr viel, Flint, und ich glaube, er ist auch dein Freund.
Ich weiß, daß du von den Umständen seiner Geburt gehört hast, wie mein Bruder Kethrenan von einer Bande menschlicher Diebe umgebracht und seine Frau Elansa mißbraucht wurde.« Er seufzte. »Aber ich glaube nicht, daß du verstehst, wie schlimm diese Zeit wirklich war. Die Monate, in denen Elansa das Kind in sich trug, waren, als wäre sie schon tot. Sie wirkte verloren. Und nachdem sie ihn geboren hatte, starb sie. Aber Tanis war der Sohn der Frau meines Bruders. Ich konnte mich nicht von ihm abwenden.«
Es hörte sich so an, als würde die Stimme mit jemandem streiten, der Einwände geltend machte. »Also brachte ich ihn hierher zu mir, um ihn wie mein eigenes Kind großzuziehen.«
Er seufzte und setzte sich wieder Flint gegenüber hin. Flint zupfte an seinem Bart. Das war eine böse Geschichte. »Es gab Leute, denen meine Entscheidung egal war«, erklärte die Stimme leise, und Flint schaute auf. »Nicht alle schienen dem Kind die Umstände seiner Geburt vergeben zu können. Ein Kind, Flint – ein kleines Kind! Was konnte es dafür, daß auch Elansa gegangen war?« Eine Spur der alten Kämpfe zuckte über das Gesicht der Stimme.
»Und die, die ihn nicht akzeptierten…?« fragte Flint sanft.
»Die gibt es immer noch, und wie es bei uns so ist, haben sie sich wenig verändert. Ich bin mir immer noch nicht sicher, wieviel Tanis davon zu spüren bekommen hat – auch wenn ich annehme, daß es einiges gibt, wovon mir der Junge nichts erzählt. Ich kann nur hoffen, daß sein Herz stark genug sein wird, es zu ertragen. Ich fürchte, ich habe ihm keinen großen Gefallen getan, als ich ihn hierherbrachte. Aber verstehst du, warum es so sein mußte, Flint?«
Die Stimme betrachtete den Zwerg eindringlich. Solostarans blonde Haare glänzten in dem hellen Licht. »Trotz des Friedens, den wir uns hier für uns erkämpft haben, waren die letzten Jahrhunderte seit der Umwälzung finstere Zeiten, Zeiten des Umbruchs und Zeiten des Leids. Tanis ist ein Kind dieses Leids. Und wenn ich keine Freude in sein Leben bringen kann, wie kann dann das Leid von uns anderen gelindert werden? Das der Elfen, das von Qualinesti?« Die Stimme schüttelte den Kopf und lächelte schief. »Ich fürchte, ich rede zuviel.« Er stand auf, und Flint folgte seinem Beispiel. »Es tut mir leid, daß ich soviel von deiner Zeit in Anspruch genommen habe. Ich wollte dir einfach sagen, daß ich froh bin, daß du Freundschaft mit Tanis geschlossen hast. Ich fürchte, du bist wahrscheinlich der erste, neben meinen Kindern.«
Flint nickte und stapfte zur Tür. Doch bevor er ging, drehte er sich um und betrachtete seinen Elfenfreund nachdenklich. »Danke«, sagte Flint rauh. »Er ist auch einer von meinen beiden ersten.« Damit ging der Zwerg hinaus und schloß die Tür hinter sich.
Dann ging er erste Aufenthalt des Zwergs in Qualinesti schließlich doch seinem Ende zu. Er und Tanis und die anderen standen am Rand der Stadt an dem Bogen, wo die beiden Flüsse zusammenflossen, der Fluß der Tränen und der Fluß der Hoffnung. Der Morgen war kalt und grau, und die Luft war klar und roch nach Schnee.
»Du mußt also wirklich gehen«, stellte Tanis leise fest und blickte über den Abgrund.
»Ja, ich glaube, es wird Zeit«, antwortete Flint. »Wenn ich Glück habe, bin ich noch vor dem ersten Schnee daheim.«
Tanis nickte. »Ich werde dich vermissen«, sagte er endlich.
»Pah!« knurrte Flint. »Höchstwahrscheinlich vergißt du mich innerhalb der nächsten zehn Minuten, möchte ich behaupten.« Aber die wettergegerbte Haut um die Augen des Zwergs legte sich in Falten, und Tanis lächelte.
Der Zwerg verabschiedete sich von der kleinen Gruppe, die sich bei dem Bogen versammelt hatte: sein Freund, die Stimme, und der Zauberer mit der Kapuze, der Laurana davon abhielt, den Rand des Abgrunds zu erkunden. Lord Xenoth glänzte ebenso durch Abwesenheit wie Porthios und seine Freunde. Nachdem er immer wieder versprochen hatte wiederzukommen, folgte Flint seinem Führer über die Brücke, nicht ohne ein paar Flüche über ihre Wackeligkeit auszustoßen.
Mit einem Lächeln und einem Seufzer zog Tanis seinen grauen Mantel fester um die Schultern und drehte sich um, um in die Stadt zurückzugehen.