25 Auf der Suche nach Indizien

Zwei Tage später wanderte Flint am frühen Nachmittag durch Qualinost. Er war der Verzweiflung nahe, weil er keine Beweise fand. Er fragte sich, wie um alles in der Welt er etwas über Eld Aileas Tod in Erfahrung bringen sollte, wenn er keine Ahnung hatte, warum man sie umgebracht hatte. Er hatte mit jedem gesprochen, der etwas hätte wissen können, von Aileas Nachbarn bis hin zu Frauen, denen sie in letzter Zeit bei der Entbindung beigestanden hatte. Er hatte am Turm haltgemacht, um Porthios’ Medaille abzuliefern, und hatte ein paar Elfen befragt, deren Meinung er noch nicht kannte. »In der Nachricht stand, Ailea hätte gewußt, was mit Xenoth war«, überlegte er und setzte sich am Rand des Großen Markts hin.

Der Markt, der schon sonst ein Gewirr von Farben und Geräuschen darstellte, war heute noch bunter. Das Fest für Porthios war der erste Anlaß, bei dem er so bunt gekleidete Elfen sah. Gewöhnlich trugen sie gedeckte erdfarbene Töne; heute nachmittag schwirrten die verschiedensten Rottöne an seinen Augen vorbei, und mehr als ein Elf trug eine Maske, die das Gesicht eines Tiers oder eines Vogels zeigte. Zur allgemeinen Erheiterung tanzte ein Elf sogar als Baum verkleidet herum – er steckte ganz in dunkelbraunem Leder, hatte einen braunen Sack mit zwei Löchern für die Augen über dem Kopf und hielt Espenzweige in den ausgestreckten Armen. Eine andere Elfin hatte weiße Federn an Kopf und Armen befestigt und trug eine weiße Maske mit einem Eulengesicht. Eine dritte Elfin schoß in einem dunkelgrünen Drachenkostüm über Kith-Kanans Mosaik – was ihr viel Spott von ihren Begleitern einbrachte, weil man seit Tausenden von Jahren keine Drachen mehr auf Krynn gesehen hatte, falls sie überhaupt je existiert hatten.

Porthios’ Übergang von der Kindheit in die Erwachsenenwelt schien den Qualinesti einen Anlaß zu liefern, sich wie Kinder zu benehmen, und sie gaben sich alle Mühe.

Ausnahmsweise hatten die Qualinesti einen Teil ihrer Reserviertheit abgelegt, allerdings würden sie wohl nie an das Spektakel bei einem zwergischen Vollbarttag herankommen.

Wie Ailea dieses Fest gefallen hätte, dachte Flint traurig. Dann zwang er sich, seine Gedanken wieder auf jene eine Frage zu richten: »Wem hätte Ailea von ihrer Entdeckung erzählen können?« murmelte er, während er über seine Nachforschungen am Morgen nachdachte. »Die Nachbarin sagt, sie wäre den ganzen Morgen zu Hause gewesen, und die Frau hat niemanden außer mir und Tanis eintreten sehen. Aber Ailea muß mit jemandem gesprochen haben«, stellte er fest.

Der Geruch von Würstchen und heißem Quith-Pa stieg ihm in die Nase, und er stellte sich hinter vier Elfen an, die an einem Stand warteten. Der Zwerg murmelte weiter vor sich hin, was die Elfen nicht zu befremden schien.

Wenn sie nun etwas über Tyresian erfahren hatte – etwas, das Xenoth auch gewußt hatte? Der betagte Elfenlord war seit Hunderten von Jahren am Hof gewesen und hatte gewiß Zugang zu geheimem Wissen gehabt. »Tyresian hätte denselben Grund gehabt, Ailea zu töten, den er bei Lord Xenoth hatte«, murmelte er. Er wünschte, er könnte mit Tanis reden, doch der Halbelf war im Palast eingesperrt.

Er war an der Reihe, zahlte und ging fort, wobei er ein saftiges Stück von dem Wurstbrot abbiß. Aber der Appetit verging ihm, als ihm klar wurde, daß er jetzt zu Eld Aileas Haus zurückkehren und nach Spuren suchen mußte.

Minuten später stand er vor dem Haus der Hebamme. Die singenden, kostümierten Elfen, die um ihn herumhüpften, nahm er nicht mehr wahr. Eine Palastwache in schwarzer Uniform, die aussah, als wäre sie trotz ihrer ernsten Pflicht von der Karnevalsatmosphäre angesteckt, lehnte am Rahmen der Haustür. Der Elf blickte Flint scharf an, als der Zwerg den kleinen Weg verließ und zu dem Beet mit weißen Petunien ging, die die Hebamme vor das verschlossene Fenster zur Straße gepflanzt hatte. Keine der Pflanzen war zertreten, und als Flint die weißen Blüten beiseite bog, sah er auch keine Fußabdrücke in der schweren Erde. Das andere Fenster auf der Vorderseite gehörte zum ersten Stock. Um es zu erreichen, hätte ein Elf auf den Schultern eines anderen stehen müssen.

Plötzlich fiel Flint auf, wie absurd seine Suche war. »Als wenn jemand am hellichten Tag durchs Fenster steigen würde, wenn es direkt daneben eine offene Tür gibt«, sagte er gedämpft. »Flint, du Türknauf!«

Er stand auf und wischte zerdrückte Grashalme von seinen Knien. Die Wache, ein junger Mann mit scharfen Gesichtszügen, der nur wenig älter sein konnte als Gilthanas, beobachtete ihn immer noch. Flint fiel auf, daß die Wache ihn nicht angesprochen hatte. »War seit dem Mord irgend jemand in diesem Haus?« erkundigte sich der Zwerg.

Die Wache schüttelte den Kopf. »Die Stimme hat gesagt, daß niemand außer Euch es betreten oder sich nähern dürfte, Meister Feuerschmied.«

Flint dachte voller Wärme an den Elfenlord. »Sind noch andere Wachen da?« fragte er von den Petunien aus.

»An der Tür hinten ist noch eine. Drinnen ist niemand.«

Der Zwerg ging ums Haus herum und sah um die Ecke. Die Wache saß auf der Stufe zur Tür und aß eine Tomate – zweifellos aus Aileas Garten. Als er Flint sah, sprang der Elf auf. Der Zwerg sagte jedoch nichts. Schließlich konnte der Mann die Tür im Sitzen genausogut wie im Stehen bewachen, fand Flint, und Ailea hätte es sicher gefreut, wenn jemand die Früchte aus ihrem Garten aß, die sie selbst nicht mehr ernten konnte.

Flint ging ein paar Schritte zurück. Das Haus hatte nur die Breite eines Zimmers. Unten gab es nur den Empfangsraum und dahinter die Küche, die keine Fenster hatte, nur die kleine Tür zu Aileas Kräutergarten im Hof. Zwischen den beiden unteren Räumen lag der Kamin, den man sowohl von der Küche als auch vom Empfangszimmer aus benutzen konnte. Flint nahm an, daß oben Aileas Privatzimmer sein mußte, auch wenn er es nie gesehen hatte.

Die Wache sagte nichts, als der Zwerg um die Hauswand bog und zur Hoftür ging. Auch die war bestimmt unverschlossen gewesen, wie er Ailea kannte. Der Zwerg holte tief Luft und trat durch die Tür in die Küche.

Aileas Gegenwart war in der Küche immer noch deutlich zu spüren. Tonkrüge mit eingemachtem Gemüse und Trockenfrüchten standen in einem Schränkchen an der einen Seite des niedrigen Raums. Flint erinnerte sich, wie Tanis sich hatte ducken müssen, wenn er die Küche betrat, damit er nicht gegen die Bünde aus Schnittlauch, Salbei und Basilikum stieß, die von den niedrigen Deckenbalken hingen. Der Duft erinnerte den Zwerg sofort an Ailea, und er wurde wütend.

Entschlossen ging er durch die Küche, die ihn an die fröhlichen Mahlzeiten mit Tanis und der Hebamme erinnerte, und betrat das Empfangszimmer.

Das Zimmer war nicht gereinigt worden, nachdem man den Körper der Hebamme fortgebracht hatte. Der Blutfleck zog sich immer noch von der Tür zum Kamin. Überall lagen die Bilder von Babys herum. Der kleine Tisch jedoch war wieder aufgestellt worden, und darauf stand das Bild, das Ailea in der Hand hatte, als Tanis sie fand.

Flint trat über den bräunlichen Fleck und griff nach dem Porträt. Es zeigte zwei Kinder, ein Kleinkind und ein älteres, beide blond mit grünen Augen. Die Augen des älteren Kindes waren jedoch ernst und tiefliegend, während die des Kleinen offen und unternehmungslustig dreinschauten.

»Ich frage mich, wer sie sind«, murmelte Flint. Ailea hatte ihre Porträts nie beschriftet, weil sie auswendig wußte, wen sie zeigten, auch wenn Hunderte in dem Zimmer herumstanden. Er stellte das Bild wieder auf den Tisch.

Flint vermutete, daß er eine Spur auch dann nicht wahrnehmen würde, wenn sie ihm entgegenspringen und ihn mit dem Schwert angreifen würde. Sein Blick ging von Bild zu Bild durch den ganzen Raum. Er erinnerte sich, wie es hier ausgesehen hatte, als Ailea noch lebte, und suchte nach etwas, das nicht zu dem behaglichen Zimmer paßte. Schließlich schüttelte er müde den Kopf und ging die Steinstufen zum Obergeschoß hoch.

Wie bei den meisten Leuten war Aileas Schlafzimmer persönlicher eingerichtet als das Besucherzimmer. Es roch nach Lavendel, denn auf dem Frisiertisch der Hebamme, neben der Schildpattbürste und den silberverzierten Kämmen, die ihren Zopf bei besonderen Gelegenheiten gehalten hatten, lagen duftende Lavendelbüschel, die von grauen Bändchen zusammengehalten wurden. Schwarze Eisenhaken, ein Geschenk von Flint, hielten die angekrausten Röcke in Lila, Rot, Grün und Hellgelb, von denen sie zahlreiche besessen hatte. Auf einem Tisch daneben lag ein neues, beigefarbenes Hemd, das dem grünen und dem blauen ähnelte, die sie bereits für Flint genäht hatte. Neben dem neuen Kleidungsstück lagen ein Strang braunes Stickgarn und eine Nadel.

In der Mitte des Raums stand ein großes Federbett mit lilagrüner Überdecke, während in einem Alkoven neben dem Kamin ein kleineres Lager eingerichtet war. Vor der Feuerstelle stand ein alter, hölzerner Schaukelstuhl, der zwar abgestoßen war und Kerben aufwies, aber trotzdem glänzend poliert war. Der Zwerg ging zu dem Alkoven und sah oben und unten an der Matratze Lampen stehen, Handtücher und Lappen auf einem Nachttisch. Ein Wiegenkorb hing von einem langen Eisenhaken herunter, der tief in die Decke gebohrt war. Flint wurde klar, daß dies der Alkoven war, in dem so viele Elfenfrauen zur Geburt gekommen waren.

Stunden später, als die Schatten des Spätnachmittags bereits länger wurden, hatte Flint Aileas private Aufzeichnungen durchgesehen. Er suchte nach Indizien, fühlte sich aber wie ein Dieb. Die meisten Pergamente bezogen sich auf Geburten oder auf Kräuterheilmittel, die bei bestimmten Leiden Erfolg gezeigt hatten. Die Durchsuchung der Kommode mit den acht Schubladen neben dem Federbett hatte, soweit er sehen konnte, nichts erbracht, was sich irgendwie mit dem Verbrechen in Verbindung bringen ließ.

Dann bemerkte Flint das Bild in dem hübschen Rahmen aus Gold und Silber, das auf der Kommode stand. Die Seiten des Rahmens waren glänzend abgerieben, als ob die Besitzerin oft hier gestanden und das Bild gehalten hätte. Er berührte es mit seinem dicken Finger. Die Farbe war verblichen und alt – älter als er selbst, das war offensichtlich. Es zeigte eine junge, zierliche Elfin mit grünbraunen, runden Augen und einem Katzengesicht neben einem älteren Menschenmann mit eckigem Gesicht und Kleidern, die ihn als Bauern auswiesen. Ein kleines, sauberes Haus mit weißen Petunien am Weg zum Eingang stand im Hintergrund. Die beiden Leute hielten sich an den Händen, und ihr Gesichtsausdruck verriet zugleich große Zufriedenheit und überwältigende Trauer.

Weil er sich plötzlich vorkam, als wenn er durch ein Fenster eine private Unterhaltung belauschte, stellte Flint das Bild wieder auf die Kommode und ging schnell zur Treppe zurück. Hier gab es nichts, das auch nur den kleinsten Hinweis auf eine Verbindung mit Lord Xenoth lieferte.

Während es draußen dämmerte, nahm Flint unten erneut das Porträt in die Hand, das Ailea bei ihrem Tod festgehalten hatte. Es war nicht Tanis’ Abbild; das hatte der Zwerg oben auf dem Tisch neben ihrem Bett entdeckt. Mit dem gerahmten Bild der Elfenkinder in der Hand setzte sich Flint in den Polsterstuhl neben dem Kamin, weil er merkte, daß er von dem Anschlag auf ihn selbst immer noch etwas geschwächt war – natürlich nur ein wenig. Er legte die Beine auf einen Schemel und starrte abwechselnd auf das Porträt und auf das Spielzeugrotkehlchen, das er Ailea geschenkt hatte, während seine Gedanken umherschweiften.

Vor zwei Tagen war er abends nach Hause gekommen und hatte in seinem Spielzeugschrank nur noch die Soldaten vorgefunden. Mitten auf dem Tisch hatte ihm Fiona jedoch ein Stück Rosenquarz voller Fusseln hinterlassen, das mit etwas verschmiert war und verdächtig nach Traubengelee roch.

Was hatte das Kind gesagt? »Ailea war aufgeregt. Sie hat die ganze Zeit gesagt: »Die Narbe. Das ›T‹. Das Erbe«, murmelte er. »Das Erbe.«

Plötzlich sprang Flint mit einem so lauten »Reorx!« auf, daß beide Wachen an die Türen gerannt kamen. Was die Wachen sahen, war ein Zwerg, der ein Porträt an sich drückte und dabei jubelte: »Der Erbe, der Erbe, der Erbe!«


Die Wache vor Tanis’ Zimmer war unnachgiebig. Niemand durfte den Halbelfen besuchen. Selbst die Wache sah Tanis nur, wenn der Küchenjunge ein Tablett mit Essen hineinstellte und das alte Tablett herausholte – und auch dann blieb der Halbelf meist im hinteren Teil des Zimmers unsichtbar.

»Wie soll ich Beweise sammeln, wenn ich nicht mit Tanis darüber sprechen kann?« fragte der Zwerg herrisch und wedelte mit dem Porträt vor dem Gesicht der Wache herum. »Na?«

Die Wache blieb unerschütterlich. »Die Stimme hat alle Besuche untersagt«, wiederholte der Elf.

»Er hat doch nicht gemeint, daß ich nicht rein darf, du Türknopf!«

Das Gesicht der Wache wurde noch sturer. »Dann rede mit der Stimme.«

»Das werde ich!« versprach Flint. »Und dann komme ich zurück!«

Aber vor dem Raum der Stimme im Turm hatte der Zwerg auch nicht mehr Glück.

»Er hat sich zurückgezogen«, erläuterte die Wache, »zum Meditieren und Beten. Gehört zum Kentommen. Absolut keine Besucher, außer wenn eine Staatskrise droht. Wenn man ihn jetzt unterbricht, könnte das bedeuten, daß das Kentommen abgebrochen werden muß.«

Der Zwerg warf das Porträt vor Wut auf den Boden. »Das hier ist eine Staatskrise! Ich stecke mitten in einer Krise, bei Reorx! Jetzt macht die Tür auf.« Drohend ging er auf die beiden Wachen zu…

Und stand plötzlich vor zwei Kurzschwertern, die ihm die beiden grimmig aussehenden Palastwachen entgegen hielten. »Verzeihung, Meister Feuerschmied«, sagte die eine.

Voller Verzweiflung warf Flint die Hände hoch. »Was jetzt?« Er marschierte den Flur hinunter. »Ihr Elfen und eure Traditionen!« rief er nach hinten.

Er kehrte in den Palast zurück. Dort fand er ein Plätzchen auf der Treppe, wo er sich hinsetzte, um selbst ein wenig zu meditieren. Solostaran, der sich zur Zeit zurückgezogen hatte, war der einzige, der den Palastwachen befehlen konnte, ihn in Tanis’ Zimmer zu lassen. Aber die Stimme war unerreichbar – außer wenn Qualinesti beispielsweise von Minotauren angegriffen würde oder so.

Porthios, der dem Zwerg wahrscheinlich sowieso nicht geholfen hätte, befand sich bewacht im Hain und durfte wohl höchstens wegen der Umwälzung gestört werden. Gilthanas hatte gelobt, Tanis in keiner Weise zu helfen, und Laurana hatte seit über einem Monat kein freundliches Wort mehr zu dem Halbelfen gesagt.

Flint seufzte. Was für eine großartige Auswahl an Helfern! Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob es Zeit war, an einen anderen Ort auf Ansalon zu ziehen, irgendwo, wo das Bier nicht wie Regenwasser schmeckte und der Wein einen Zwerg nicht nach Blüten duften ließ. Ein Ort wie Solace vielleicht.

Der Zwerg verwarf diesen Gedanken jedoch und ging noch einmal seine Kandidaten durch. Wenn Gilthanas den Zwerg überhaupt bis zu Ende anhören würde, dann würde die frischgebackene Wache höchstwahrscheinlich einen Alarm auslösen, der den Mörder bis zum nächsten Mal abschrecken würde – ganz sicher bis nach Tanis’ Verbannung. Was dem Halbelfen überhaupt nichts helfen würde. Damit blieb…


»Laurana, ich muß mit dir reden«, sagte Flint durch die verschlossene Tür.

»Geh weg, Meister Feuerschmied«, kam die mürrische Antwort.

»Es geht um Tanis.«

Pause. Dann hörte er dieselbe, etwas weniger schlecht gelaunte Stimme sagen: »Ich will nichts von Tanis hören.«

»Schön«, polterte Flint. »Dann laß ich ihn einfach sterben, ohne ein letztes Mal mit dir gesprochen zu haben. Ich sag dir Bescheid, wann die Beerdigung ist. Falls du kommen willst.« Er stampfte erst laut, dann immer leiser über den Marmorboden.

Die Tür wurde aufgerissen. »Flint, warte!« rief Laurana und sprang an dem Zwerg vorbei auf den Flur.

»Ich dachte mir doch, daß das helfen würde«, feixte Flint und stapfte in Lauranas Zimmer.

Die Elfin fuhr herum und sah den Zwerg an. Dann ging sie zurück in das kleine Wohnzimmer, das zu ihrem Privatquartier im Palast gehörte. Es war mit einem Kamin, einem kleinen Tisch und zwei einfachen Stühlen am Feuer ausgestattet. Auf dem einen hatte es sich Flint bereits bequem gemacht. Beim Eintreten knallte sie die Tür zu.

Ihr Stirnrunzeln wich allmählich Verwirrung, als Flint ihr erzählte, was er herausgefunden hatte, und damit schloß: »Dann kam ich auf das Wort ›Erbe‹!«

Aber die Prinzessin reagierte immer noch verständnislos: »Erbe?«

»Der Erbe«, drängte Flint. »Das hat Ailea gemeint. Sie hatte das Porträt von Gilthanas und Porthios in der Hand. Der Mörder, der Lord Xenoth und Eld Ailea getötet hat, will den Erben der Stimme, Porthios, umbringen.«

Falls er auf eine große Reaktion gehofft hatte, wurde Flint enttäuscht. Laurana saß einfach da und strich den blaßgelben Umhang glatt, den sie übergeworfen hatte.

»Aber wir sind alle Erben«, wandte sie ein. »Ich, Gilthanas und Porthios. Welchen?«

Flint setzte sich zurück. Er hatte die ganze Zeit nur an Porthios gedacht. Warum nicht auch Gilthanas und Laurana? Jemand, der dem Amt der Stimme in der Erbfolge näher kommen wollte, würde auch sie ausschalten müssen. Es fehlten noch Puzzleteile, aber Flint hatte immer noch einen Tag Zeit, die Morde aufzuklären, bevor die Stimme ihr Verbannungsurteil für Tanis wiederholen würde.

Dann kam ihm eine neue Idee. »Wann könnte man Porthios besser umbringen, als bei seinem Kentommen?« fragte er.

»Wann gäbe es einen besseren Zeitpunkt, uns alle umzubringen?« fragte Laurana sachlich. »Wir werden alle gleichzeitig im Turm beisammen sein. Aber warum, Flint? Und überhaupt, da kann man keinen Elfen verdächtigen. Wir tun so etwas nicht.« Sie wandte sich von ihm ab und blickte ins Feuer.

Flint saß kurz da und betrachtete die Silhouette der Prinzessin. »Ach, Mädchen, du hast so wenig Ahnung von der Welt.«

Sie hatte immer noch Einwände, stand auf und lief vor Aufregung vor dem Kamin auf und ab. »Du willst, daß ich an der Wache vorbeischleiche, um mit meinem Vater zu reden. Aber deine Beweise reichen nicht aus, um zu rechtfertigen, daß ich die Stimme unterbreche und das Kentommen abgesagt wird«, sagte sie erregt. »Dein einziger Beweis ist deine Vermutung darüber, was Eld Ailea kurz vor ihrem Tod gedacht hat.«

»Aber begreifst du denn nicht?« donnerte er. »›Erbe‹! Und sie hielt das Bild der Erben in der Hand!«

»Wenn ich den Wachen befehle, dich einzulassen, und sich dann herausstellt, daß das alles weiter nichts als Hirngespinste einer alten Hebamme waren, dann wird mein Vater…« Ihre Stimme brach ab, sie wurde blaß. »Aber wenn ich es nicht tue, und es geschieht wirklich etwas Schlimmes…« Sie plumpste auf den Stuhl. »Ich bin zu jung für solche Entscheidungen!« jammerte sie.

Flint sah sie an und stellte fest, daß er den Anfang ihrer Wandlung vom verwöhnten kleinen Mädchen in eine starke Elfenfrau mitbekam – wenn sie es nur zeigen würde. Sie sprang auf und lief wieder auf und ab.

»Warum, Flint?« fragte sie. »Warum sollte jemand die Erben der Stimme töten wollen? Nicht, daß ich dir auch nur im geringsten glauben würde«, fügte sie eilig hinzu.

»Habgier«, schlug Flint vor. »Rache. Wahnsinn. Unerwiderte Liebe. So etwas kommt nicht über Nacht, weißt du. Ich gehe davon aus, daß der Mörder seit Jahren darauf hinarbeitet.«

»Ja, dann…« Laurana schwieg wieder. »Dann ist er aber wahrscheinlich jemand, den wir kennen.«

»Ja, natürlich«, fauchte Flint. »Was hast denn du gedacht?«

Sie funkelten einander einen langen Augenblick an, bis Laurana den Blick abwandte und leise sagte: »Tanis hilft es gar nichts, wenn wir uns streiten.«

Flint grunzte. Dann fragte er beherrschter: »Wie nah steht Tyresian der Erbfolge?«

»Zur Stimme?« Laurana war überrascht. »Er ist aus dem Dritten Haus. Wir sind aus dem Ersten.«

»Dann blieben nur die Mitglieder des Zweiten Hauses?«

Laurana nickte abwesend. Flint bohrte weiter. »Wie hoch steht Tyresian in der Erbfolge, wenn er dich nicht heiratet?«

»Ach, so an zwölfter oder dreizehnter Stelle«, erwiderte sie und kniff die Augen zusammen. »Du glaubst doch nicht im Ernst, daß Tyresian… Aber er gehört doch zum Adel!«

Flint befand, daß Laurana noch viel über das Leben zu lernen hatte. »Wie sicher ist Porthios?« fragte er.

Laurana sah ihn wieder an. »Es stehen über ein Dutzend Wachen um den Wald. Sie können Porthios nicht sehen, aber sie würden es hören, wenn er riefe. Ich glaube nicht, daß irgend jemand zwischen ihnen hindurchschlüpfen könnte.«

Flint stand auf und schlenderte durch das Vorzimmer. Auf dem Fensterbrett stand Lauranas Sammlung ausgefallener Drachenfigürchen. Er nahm einen goldenen in die Hand und untersuchte ihn. »Und Gilthanas ist heute nacht bei seinem Regiment? Da ist er wenigstens sicher.«

»Aber nein, Flint«, widersprach Laurana. »Gilthanas steht heute die ganze Nacht Wache am Kentommenai-Kath.«

Der Begriff klang bekannt, aber Flint hatte in den letzten paar Tagen einen Haufen neuer Elfenwörter gelernt. »Am Kentommenai-Kath?«

»Der Platz mit dem Blick auf den Fluß der Hoffnung, westlich von Qualinost«, erklärte sie.

Flint erinnerte sich. Das war der Ort, wo er mit Tanis gepicknickt hatte und fast abgestürzt wäre. »Aber Gilthanas hat bestimmt eine Wache dabei«, sagte er, während er ein Bein des Figürchens verbog. Die Weichheit des Metalls ließ auf reines Gold schließen. Laurana nahm ihm den kleinen Drachen freundlich weg, bog das Bein wieder gerade und stellte die Figur zurück auf das Fensterbrett.

»Gilthanas bekommt eine Eskorte von Qualinost zum Kentommenai-Kath«, erläuterte sie, während sie sich wieder setzte. »Dann lassen ihn die Wachen dort, und er bleibt bis Sonnenaufgang allein. Anschließend kehrt er allein nach Qualinost zum Schlußteil des Kentommen zurück.«

Flint fühlte eine eisige Hand seinen Rücken hochkriechen. »Er ist allein?«

Lauranas ohnehin schon fahles Gesicht wurde noch blasser. Als ihre Antwort schließlich kam, war es keine Frage: »Er ist in Gefahr, nicht wahr.«

Flint winkte ab, damit sie schwieg, und lehnte sich mit beiden Armen gegen den Kamin. Er starrte in die Flammen. Schließlich drehte er sich um und beugte sich zu Laurana vor.

»Laurana«, sagte Flint, »vertraust du mir?«

Nach einer Pause nickte sie. Ihr Haar glitzerte im Feuerschein.

»Dann hör zu«, sagte er. »Ich habe einen Plan.«

Загрузка...