Nach dem Training bei Tyresian streifte Tanis ziellos durch die Straßen der Stadt. Die Wolken, deren Regen ihn und Flint erst vor wenigen Stunden durchnäßt hatte, hatten sich aufgelöst. Das schwere Gold des Nachmittags mischte sich mit dem zunehmenden Violett der Dämmerung, und die Luft duftete süß nach Frühlingsbluten.
Im Norden glitzerte der Sonnenturm. Im Zentrum der Stadt breitete sich der Himmelssaal aus.
Im Westen der Stadt jedoch lag das, was manche als das größte Wunder von Qualinost ansahen, und dorthin lenkte Tanis seine Schritte.
In eine natürliche Erdmulde war ein gewaltiges Amphitheater gesetzt worden. Die einzigen Sitzplätze waren die sanften, grasbewachsenen Hänge selbst, die eine große Bühne in der Mitte des Theaters umgaben. Der kreisrunde Platz war mit jenen Mosaikfliesen ausgelegt, für die Qualinost berühmt war. Dieses Mosaik zeigte in strahlenden Farben die Ankunft von Kith-Kanan und seinem Volk im Wald von Qualinost. Das Mosaik füllte die gesamte Oberfläche des Kreises aus, und Tanis hatte immer geglaubt, daß es so viele glänzende Steinchen enthielt, wie Sterne am Nachthimmel standen.
Hier spielte man nach Sonnenuntergang im flackernden Licht von tausend Fackeln die alten Dramen, die von den Dichtern von Qualinost vor langer Zeit für Kith-Kanans Augen geschrieben worden waren. Auch Philosophen betraten den Kreis, um ihre Reden zu schwingen, und Musiker zeigten ihre Kunst, während das Volk von Qualinesti zusah.
Tagsüber diente das Amphitheater einem anderen Zweck – dem Großen Markt. Dorthin kamen die besten Handwerker von Qualinost, breiteten Tücher auf dem Boden aus und boten darauf ihre Waren feil, während bunte Seidenfahnen im Wind flatterten. An Markttagen war das Mosaik von Kith-Kanan unter den unzähligen grünen Seidenzelten, Holzständen und Wollteppichen, die darauf ausgebreitet waren, nicht mehr zu sehen. Alles, was man sich nur vorstellen konnte, war zu bekommen: scharfe Gewürze, lackierte Kästchen, blitzende Dolche mit juwelenbesetztem Heft und frischgebackener Kuchen, der in der feuchten Luft noch etwas dampfte. Auch gewöhnliche Handwerker brachten ihre Waren zum Verkauf hierher. Es gab Korbmacher, Töpfer, Weber und Bäcker, denn nicht jeder Elf in Qualinost war glücklich – oder wohlhabend – genug, einen Platz am Hof der Stimme zu haben. Obwohl in Qualinost niemand hungern und niemand in Lumpen gehen mußte, gab es wie in jeder Stadt einige wenige, die Reichtum und Macht besaßen, gegenüber der viel größeren Zahl der einfachen Leute. Die meisten dieser Elfen waren allerdings auch nicht allzu versessen auf den glitzernden Hof. Sie waren zufrieden, wenn die Reichen ihren kleinen Intrigen und Hofvergnügungen nachgingen, solange sie sich nicht allzusehr in ihren Alltag einmischten.
Die meisten Elfen auf dem Markt waren einfache Leute aus Qualinost. Die Adligen mieden den Großen Markt eher, bis auf wenige Festtage, und schickten statt dessen ihre Diener oder Knappen, wenn sie irgend etwas brauchten. Das allerdings paßte diesen Dienern und Knappen ganz gut, denn es gab ihnen Gelegenheit, ihren edlen Herrschaften zumindest zeitweise zu entkommen.
Auch wenn diese Elfen ebenso schön anzusehen waren und ebenso wohlklingend redeten wie jeder Höfling im Turm – obwohl sie eher weiches Hirschleder und helle Wollmäntel anstelle von Wams und Mantel und goldener Robe trugen –, schien von ihnen eine herzliche Wärme auszugehen, und Tanis fühlte sich auf dem Markt viel wohler als in den Gemächern des Turms oder auf den Gängen des Palastes. Tanis wurde auch hier wegen seines fremdartigen Aussehens angestarrt, doch waren die Blicke eher neugierig als mißbilligend. Auf jeden Fall war ein schiefer Blick auf dem Markt viel seltener als ein fröhliches Lächeln oder Nicken.
Als Tanis heute ankam, wurde der Markt gerade im letzten Sonnenlicht abgebaut. Der Halbelf stieg die Steintreppe zu dem runden Mosaik hinunter, wo die Händler ihre Waren einpackten. Er probierte ein Kupferarmband an und untersuchte einen Köcher mit gelb-grün bemalten Pfeilen, doch er hatte seine kleine Geldbörse im Palast gelassen und mußte die Verkäufer leider enttäuschen, die auf ein letztes Geschäft gehofft hatten.
Er wollte den Markt gerade verlassen, als ihm eine große, vertraute Gestalt auffiel, die aufgrund des überquellenden, blonden Haars und der zarten Figur selbst aus der Entfernung und in der Menge zu erkennen war. Es war Laurana in Begleitung ihres Bruders Gilthanas.
Tanis holte tief Luft und versuchte, sich hinter einem Töpferstand zu verstecken, aber ein alter Elf schob ihn freundlich zurück.
»Das Geschäft ist zu«, unterrichtete er den Halbelfen.
»Aber…«, sagte Tanis.
»Der Markt ist vorbei«, sagte der Elf nachdrücklich. »Komm morgen wieder.«
Tanis stolperte zurück, doch bevor er sich umdrehen und davonrennen konnte, sah er, daß Lauranas grüne Augen ihn entdeckt hatten. Er schluckte. Jetzt konnte er nicht mehr wegrennen, nicht nachdem die junge Elfenlady ihn gesehen hatte. Gerade hatten sich ihre korallenroten Lippen zu einem strahlenden Lächeln geöffnet, und mit einer erstaunlichen Mischung aus Entschlossenheit und Anmut eilte sie über den Marktplatz. Die Männer und Frauen an den Ständen hielten in ihrer Arbeit inne und betrachteten respektvoll und bewundernd, wie sie vorbeilief. Gilthanas folgte ihr, wirkte aber weniger erfreut als sie.
»Tanis!« rief Laurana, als sie sich dem Halbelfen näherte. Ihre Stimme tönte wie eine Glocke. Sie breitete die Arme aus und umfing Tanis in einer kurzen Umarmung. Dann drehte sie sich zu Gilthanas um und sagte: »Ich habe Tanis schon fast eine Woche nicht gesehen. Ich glaube, er geht uns aus dem Weg.«
Gilthanas strich sich das goldblonde Haar aus der Stirn. Er sah aus, als wäre das ganz in seinem Sinne.
Tanis seufzte und fühlte sich unbehaglich, weil ihm überdeutlich bewußt war, daß die Tochter der Stimme immer noch seine Hand festhielt – und daß die Leute um die drei herum die Begrüßung mitbekamen und die Augenbrauen hochzogen. Er versuchte, sich ihrem Griff zu entziehen, und Laurana ließ ihn los. Dabei runzelte sie ein wenig die Stirn.
Überraschenderweise war es Gilthanas, der Laurana ablenkte, indem er fragte, ob Tanis morgen zu der großen Bekanntmachung in den Turm kommen würde.
»Worum geht’s denn?« fragte Tanis. Laurana wich einen Schritt zurück, zog einen kleinen Schmollmund, schien dann aber ihre Meinung zu ändern und beteiligte sich an dem Gespräch. Mit ihren dreißig Jahren war sie halb Frau, halb Mädchen, und Tanis wußte nie, welcher Teil ihres Wesens zum Vorschein kommen würde, wenn er mit ihr sprach. Infolgedessen hatte er sie tatsächlich gemieden.
»Ich weiß nicht, worum es geht«, sagte sie. »Vater sagt es niemandem. Ich weiß nur, daß er sich quält und Lord Xenoth sich freut, und das gibt mir immer zu denken.«
»Du siehst heute großartig aus, Tanis«, meinte sie unvermittelt. Ihr grüner Seidenanzug schimmerte im Abendlicht. Ganz plötzlich war er sich seines menschlichen Bluts ganz deutlich bewußt. Er fühlte sich wie ein riesengroßer Trampel. Auch wenn es noch Jahre dauern würde, bis sie bei den Elfen als »erwachsen« gelten würde, hatte sie ihre volle Größe schon erreicht, war aber dennoch so leicht und frisch und schnell, daß er sich neben ihr wie ein Oger vorkam.
Gilthanas legte seiner Schwester mit ärgerlicher Miene eine Hand auf den Arm und sagte warnend: »Laurana…« Tanis wurde rot und blickte an sich hinunter auf die Kleidung, die sie gelobt hatte: ein himmelblaues Hemd unter einer federnbesetzten Lederweste und braune Hosen aus sehr weicher Wolle. Er zog perlenbesetzte Mokassins noch immer den gebräuchlicheren Elfenstiefeln vor. Das war eine Gewohnheit, die er nur schwer ablegen konnte.
Laurana riß sich ruckartig los, und plötzlich sah Tanis das verwöhnte Mädchen, das sie bis vor wenigen Jahren gewesen war. Ihre Stimme jedoch war die einer Frau. »Gilthanas, ich mache, was mir paßt«, schimpfte sie. »Wir haben darüber bereits geredet. Jetzt laß das.«
Tanis war unbehaglich zumute. Die Tage, in denen Gilthanas und er gemeinsam durch die Stadt gelaufen oder durch den Wald gestreift waren, schienen jetzt weit entfernt, als wenn sie mehr Traum als Realität gewesen wären. Sie waren Freunde gewesen. Jetzt wußte Tanis nichts zu sagen und trat von einem Fuß auf den anderen.
Gilthanas nickte den beiden kurz zu. »Dann gehe ich eben.« Er fuhr herum und stolzierte durch die aufbrechenden Händler und ihre Karren davon.
»Tut mir leid«, sagte Tanis, mehr zu sich selbst als zu Laurana, doch das Elfenmädchen hatte ihn anscheinend nicht gehört. Statt dessen nahm sie seine Hand und zog ihn mit sich über den Markt.
»Ich weiß nicht, was Vater für morgen vorhat«, beklagte sie sich. »Ich weiß nur, daß keiner von der Regierung jemals einfach rauskommt und etwas sagt. Selbst die gewöhnlichste Bekanntmachung wird von Bergen von Pergament, meterweise Bändern und kannenweise Siegelwachs begleitet.«
Tanis merkte, daß er lächelte. Trotz einer gewissen Übertreibung hatte Laurana recht.
»Vielleicht kündigen sie morgen den Nationaltag des Elfenblütenweins an«, schlug er vor.
Tanis war so selten ironisch, und Laurana brauchte einen Augenblick, um ihn zu verstehen. Sie lachte. »Oder sie beschließen, daß jeder Elf zu jeder Mahlzeit Quith-Pa essen muß.«
Sie kicherte wieder, und plötzlich fühlte sich Tanis wie ein Kind – nicht der verdrossene Junge, der er gewesen war, sondern das sorgenlose Kind, das er unter anderen Umständen hätte sein können. Der Gedanke stimmte ihn zugleich froh und traurig.
Wie fast immer setzte sich die Traurigkeit durch. »Höchstwahrscheinlich hat es etwas mit dem Tylor zu tun«, sagte Tanis.
Laurana fröstelte. »Das ist sicher richtig. Die Palastwache war den ganzen Tag draußen, aber keiner konnte das Biest finden.«
Sie versank in Gedanken, und er fragte sich, in welche Richtung das Gespräch jetzt wohl weitergehen würde.
Sie hatten den Rand von Kith-Kanans Mosaik erreicht und den Marktlärm hinter sich gelassen. Laurana zog ihn die Steinstufen hoch, und dann folgte er ihr durch eine Lücke in den blühenden Fliederbüschen am Rand des Mosaiks auf eine kleine Lichtung. Die Büsche dämpften die Geräusche vom Platz. Plötzlich war sich Tanis bewußt, wie allein sie waren.
Laurana zog ein kleines Päckchen aus der Tasche. »Ich habe etwas für dich«, sagte sie. »Ich hab’s die ganze Woche dabeigehabt, weil ich hoffte, ich würde dich treffen.«
»Was ist es denn?« fragte er verwirrt, doch Laurana lächelte nur geheimnisvoll. In diesem Augenblick war sie ganz und gar kein Kind mehr, und Tanis trat verlegen auf den anderen Fuß.
»Du wirst schon sehen«, sagte sie. Dann stellte sie sich plötzlich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf die Wange, wobei sie seine Bartstoppeln ignorierte. Ihre Berührung war so kühl und weich wie die Frühlingsluft. Gleich darauf war sie durch den Flieder geschlüpft und nicht mehr zu sehen. Nur ein leichter Minzeduft hing noch da, wo sie gestanden hatte, in der Luft. Verwundert faßte sich Tanis an die Wange. Er war unsicher, was sie im Sinn hatte. Dann wickelte er achselzuckend das Päckchen aus.
Trotz der warmen Frühlingsluft wurde es Tanis plötzlich kalt im Bauch. Auf seiner Handfläche schimmerte im Sonnenlicht, das durch die jungen Blätter der Bäume fiel, ein Ring. Es war ein einfacher Ring aus sieben winzigen, miteinander verwobenen Efeublättern, der so hell und golden strahlte wie das Haar der Elfenfrau, von der er ihn bekommen hatte. Er war hübsch und zart, ein Ring, den man seinem Liebsten an die Hand stecken würde. Tanis schüttelte den Kopf und schloß die Faust um das Stück.
Immer noch kopfschüttelnd, trat Tanis kurz darauf aus den Fliederbüschen und ließ den schmalen Ring in seiner Westentasche verschwinden, bis er dessen Bedeutung verstehen würde.
»Interessant«, sagte eine kalte Stimme.
Tanis fuhr herum. Oben auf den Stufen stand schäumend vor Wut unter den Blicken mehrerer beladener Händler, die vorbei wollten, Lord Xenoth.
»Tanthalas Halbelf«, sagte der Elfenlord unheilvoll. »Das wirst du noch bereuen.«
Als Tanis verwirrt zusah, wie Lord Xenoth verstimmt davonging, hatte er keinen Zweifel daran, daß der Elfenlord recht hatte.