Tanis hatte Lauranas Wortwechsel mit der Wache offenbar mitangehört. Er stand erwartungsvoll an der Seite, als Flint in den Raum schlüpfte.
Der Zwerg händigte dem Halbelfen sein Schwert und die Scheide aus, die er ihm übergeben hatte, als die Palastwachen ihn abführten. Dann ging Flint wortlos, mit dem Finger an den Lippen, zum Fenster und spähte über den Rand. Die Wand draußen führte ohne Unterbrechung zwanzig Fuß tief in den Hof.
»Was machst du da?« fragte Tanis flüsternd.
Flint wies den Halbelfen erneut an zu schweigen, wickelte die Eisenhaken am Ende der Strickleiter aus und legte sie über das Fensterbrett. Wieder blickte er in den Hof. Er war immer noch verlassen. Die meisten Bewohner des Palastes feierten in den Straßen von Qualinost. Jubelklänge kamen hier oben an.
Zufrieden ließ der Zwerg die Leiter nach unten. Dann vergewisserte er sich, daß der dicke Sack sicher über seiner Schulter hing, schwang seinen untersetzten Körper durch das Fenster und trat auf die Leiter. Dabei hielt er kurz an, um Tanis zuzuwinken, damit er nachkam. Flint schloß die Augen, bis der leichte Schwindelanfall vorbei war.
Aber der Halbelf sträubte sich. »Weißt du, welche Strafe darauf steht, sich einem Arrestbefehl zu widersetzen?« fragte er.
Der Zwerg schlug wieder die Augen auf und zog die buschigen Augenbrauen hoch.
»Verbannung!« flüsterte Tanis.
Flint lehnte sich ins Fenster zurück und brachte seinen Mund an Tanis’ Ohr. »Was hast du also zu verlieren?« fragte der Zwerg gedämpft. »Außerdem kommst du ja zurück.«
Kurz darauf stieg Tanis von der Leiter hinunter in den Hof und sah zu, wie Flint an einem Seil zog, das die Leiter von den Eisenklammern löste, die immer noch am Fensterbrett hingen. »Eigene Erfindung«, erklärte der Zwerg gelassen, während er den Halbelfen hinter einen Birnbaum schob. Flint wühlte in dem Ledersack herum und zog eine Maske heraus, die dem Kopf eines Gossenzwergs ähnelte. Er wies den Halbelfen an, sie sich über den Kopf zu ziehen.
Tanis’ runde Augen weiteten sich. »Ich soll mich wie ein Gossenzwerg anziehen?«
»Nur ein Kostüm«, flüsterte der Zwerg. »Damit du unerkannt vom Palast zur Westbrücke kommst.«
»Ein sechs Fuß großer Gossenzwerg?« zischte Tanis.
Flint brachte seinen Freund zum Schweigen. »Das war das letzte, das der Verkäufer noch hatte. Du solltest froh sein, daß ich die nachgemachte Rattenleiche weggeschmissen habe, die noch dazugehörte.«
»Aber…«
Flint überging ihn. »Laurana sagt, daß die Elfen bis Mitternacht verkleidet sein werden. Dann endet das Fest, und sie benehmen sich wieder normal. Also haben wir eine Stunde Zeit, um aus Qualinost herauszukommen.«
Tanis hielt die Gossenzwergmaske immer noch in der Hand und betrachtete ihre olivgrüne Haut, den verfilzten Bart und den blöden Ausdruck. Auf seinem eigenen Gesicht malte sich Ärger. »Wenn du glaubst, ich würde fliehen, dann kennst du mich schlecht«, sagte er ohne jeden Versuch, seine Stimme zu senken. Er wandte sich ab, als wenn er die Maske wegwerfen wollte.
Flint hielt ihn am Arm fest. »Vertrau mir!« schimpfte er – zum tausendsten Mal, dachte er. Der Ärger in den Augen des Halbelfen wurde zu Unentschlossenheit. »Vertrau mir«, flüsterte Flint wieder.
Endlich setzte Tanis die Maske doch auf. »Ich komme mir lächerlich vor«, kamen seine Worte gedämpft hinter der Maske hervor.
»Dabei siehst du so hübsch aus«, sagte Flint. »Komm jetzt.«
Sie liefen durch den Hof und die Gärten und dann vor dem Palast auf die Straßen, wo sie sich unter die feiernden Elfen mischten. »Ja, schlafen die denn nie?« fragte Flint gereizt, als ihn bereits der dritte Elf anrempelte.
»Nur sehr wenig, bis das Kentommen vorbei ist.« Tanis’ Stimme klang unter der Maske hohl.
Flint hielt sich an den Straßenrand und schob sich an den Hauswänden entlang, um nicht von den Feiernden angerempelt zu werden.
Eine halbe Stunde später kamen sie unter dem geschwungenen Bogen durch, der den Westrand der Stadt umspannte, und wandten sich nach Süden zu der Brücke über den Fluß der Hoffnung. Die gepflasterte Straße wurde schmaler, und von beiden Seiten hingen Zweige auf den Weg. Um sie herum tanzten immer weniger Elfen, bis Flint und Tanis sich fast allein durch die Nacht bewegten. Tanis wollte die Maske absetzen.
»Warte lieber, bis wir über die Brücke sind, Junge«, sagte Flint. Beim Gedanken daran, die Brücke im Dunkeln zu überqueren, während tief unter ihm der Fluß der Hoffnung durch die Schlucht toste, wurde ihm ganz anders. Er bekämpfte das Gefühl, während er Tanis rasch erklärte, was der Zwerg in den letzten zwei Tagen erfahren – oder, besser gesagt, herausgeknobelt – hatte.
»Du glaubst also, daß jemand Gilthanas während seiner Wache am Kentommenai-Kath angreifen könnte?« fragte Tanis.
»Es ist möglich«, sagte Flint. »Und im Moment können wir uns nur an Möglichkeiten halten.«
Nach zwei Tagen Kentommen waren die Wachen auf der Brücke offenbar schon an kostümierte und maskierte Leute gewöhnt. Sie sahen nur zu, als der Zwerg und ein übergroßer Gossenzwerg auf die Brücke traten. Flint faßte Tanis am Arm – natürlich nur, um den Halbelfen zu stützen.
Dann hörten sie plötzlich Hufgeklapper hinter sich, und ein vertrautes Wiehern ertönte durch die Nachtluft. Flint fuhr herum: »Windsbraut!«
Hinter ihm in der Dunkelheit, die den Anfang der Brücke überdeckte, hielt eine der Wachen das Tier am Zügel fest. »Flint«, rief die Wache, deren Stimme im Abgrund widerhallte, »deine Freundin sucht dich.«
Flint war unsicher, was er tun sollte. Wenn er das Tier nach Hause brachte, würde Tanis sich dem Mörder allein stellen müssen. Wenn er es mitnahm, würde es sie durch sein teuflisches Schreien verraten. Schließlich winkte er, und die Wache ließ das Maultier los, das auf den Zwerg zuschoß.
Während er Windsbrauts zärtliches Schnuppern abwehrte, zog Flint die Strickleiter heraus, die er immer noch mitschleppte, und machte das Seil los, mit dem er die Strickleiter von der Fensterkante gelöst hatte. Er knotete das Seil an das Halfter des Maultiers und band das andere Ende an eine Espe am Westende der Brücke. Tanis versteckte die Maske im Gebüsch. Als Flint und Tanis den Weg hochkletterten, hallten Windsbrauts Schreie von den Felsen wider.
Die Nacht war pechschwarz; am Himmel stand kein Mond. Flint konnte den feuchten Geruch des Mooses riechen und hörte Tanis neben sich schwer atmen. Der Tag, an dem sie am Kentommenai-Kath Rast gemacht hatten, schien Ewigkeiten her zu sein. Damals hatten Xenoth und Ailea noch gelebt.
Zum Glück können Elfen – auch Halbelfen – im Dunkeln relativ gut sehen, und Zwerge haben in den Generationen der Arbeit in den schlecht beleuchteten, unterirdischen Minen gute Augen entwickelt. Daher kam das Paar auf seinem Weg zum Rand der Schlucht relativ gut voran.
»Wenn Gilthanas und seine Begleiter nicht gerannt sind, müßten wir sie bald einholen«, flüsterte Tanis einmal, als sie auf einem Stück Wiese Pause machten. Flint wandte den Blick von dem steilen Abgrund rechts neben sich ab und nickte zustimmend. Sie marschierten weiter.
Der Pfad begann sich nach oben zu schlängeln. Hier und da sah Flint verkrüppelte Bäume und Granitbrocken. Sie erreichten eine Gabelung. Der Weg wurde steiler, und bald kamen Tanis und der Zwerg ins Keuchen.
Da hörten sie vor sich Schritte und duckten sich hinter einen Felsen. Flint spähte um die Ecke, als zwei Gestalten auf dem Rückweg nach Qualinost vorbeikamen. »Gilthanas’ Eskorte«, flüsterte Tanis, als sie außer Hörweite waren. Zwerg und Halbelf strengten sich noch mehr an, denn jetzt war Gilthanas ohne Schutz.
Schließlich wurden die Bäume lichter, und der Boden war von mehr Granitbrocken bedeckt. Flint wußte, daß die Felsenklippe nah war.
»Horch!« flüsterte Tanis.
In der Ferne ertönte ein klarer Tenor. Die Worte des Liedes waren fast so alt wie die Felsen zu beiden Seiten des Weges.
»Gilthanas’ Wachlied«, erklärte der Halbelf »Er bittet die Geister der Bäume und der Erbe, Porthios zu beschützen und ihn alle Tage zu leiten. Darum muß Gilthanas für seine Wache unbewaffnet sein. Das zeigt den Waldgeistern, daß er ihnen vertraut.«
Das Echo des Lieds kam aus der Schlucht zurück und ließ den Zwerg erschauern.
»Mein Vollbarttag war nichts dagegen«, hauchte er. »Und Reorx sei Dank dafür.«
Sie gingen weiter, waren jetzt jedoch vorsichtiger, weil sie sich dem Kentommenai-Kath näherten. Denn sie wollten ja nicht nur, daß Gilthanas sie nicht sah, sondern sie waren noch weniger darauf aus, sich dem Mörder zu zeigen, der hinter jedem Felsen oder Baum lauern konnte. Flint merkte, daß sich seine Nackenhaare sträubten, und legte zur Sicherheit eine Hand auf den Hammer, der in seinem Gürtel steckte.
Schließlich erreichten sie den Kentommenai-Kath. Flint faßte den Halbelfen an der Schulter, und die beiden warteten, während Gilthanas an den Granitplatten hin und her ging, die den Rand anzeigten. Tanis zeigte mit der Hand nach rechts, und Flint nickte. Vorsichtig umrundeten die beiden den Platz, wobei sie hinter den Felsen Deckung suchen und vielleicht zweihundert Meter um die Klippe herumkrochen, wo Gilthanas immer noch stand und sang. Sie kamen am letzten Baum vorbei und traten kurz ins Freie, um sich dann schnell hinter einer umgekippte Granitplatte zu ducken.
Flint spähte um die Platte. Gilthanas stand in seiner einfachen grauen Robe mit hochgezogener Kapuze am Rand der Klippe, starrte in den schwarzen Abgrund und sang ein Klagelied, das Tonsprünge enthielt, die in der Musik der Menschen und Zwerge unbekannt waren.
»Worauf warten wir eigentlich?« wisperte Flint rauh, doch Tanis schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht recht. Vielleicht sollten wir lieber näher ran gehen.«
Flint nickte zustimmend. Tanis zog sein Messer aus dem Gürtel, und der Zwerg tat dasselbe, als sie sich einen Weg durch das Gewirr von Felsen suchten. Die ganze Zeit ertönte im Hintergrund Gilthanas’ Gesang.
»Ich hab ein komisches Gefühl, Tanis«, beschwerte sich Flint leise. »Es kommt mir irgendwie so vor, als wenn wir nur darauf warten, daß etwas schief – «
Unter dem Zwerg tat sich die Erde auf.
Ein Scharren, als ob etwas an Steinen entlang schleift, und ein erstickter Fluch unterbrachen Flints Worte. Tanis fuhr herum und verrenkte sich den Kopf.
»Flint!« flüsterte Tanis, so laut er es wagte. Er hockte sich hin, um ganz sicher außer Sicht von Gilthanas zu sein. »Flint!«
Keine Antwort, nur Gilthanas’ unbeirrter Tenor.
Tanis verfluchte sich. Warum hatte er nicht besser aufgepaßt? Er schüttelte den Kopf. Aber der Zwerg war direkt hinter ihm gewesen. Wo konnte er hin sein?
Ein Schatten zwischen den Steinen – oder eher ein dunklerer Fleck, der schwärzer war als die übrige Dunkelheit – fiel Tanis auf, und er kroch näher, um sich das anzusehen. Als er näher kam, wehte ihm ein muffiger Luftschwall entgegen, und er sah, daß der Fleck gar kein Schatten war. Es war eine Felsspalte, genau hinter einem Stein.
Tanis war darüber gestiegen, ohne sie auch nur zu bemerken. Aber Flint mit seinen kurzen Beinen und seinen kürzeren Schritten…
Oh, Götter, nein, sagte Tanis sich und warf sich auf den Boden, um in die Spalte zu schauen. »Flint!« flüsterte Tanis in die Finsternis, aber der Schatten verschluckte seine Worte. Keine Antwort.
Die Öffnung war gerade groß genug für den Zwerg – wenn auch knapp. Tanis versuchte verzweifelt nachzudenken. Der Zwerg konnte da unten verletzt liegen – oder Schlimmeres.
»Flint!« versuchte er es noch einmal, aber immer noch keine Antwort. Tanis war mutterseelenallein.
In diesem Augenblick unterbrach Gilthanas hinter ihm sein Lied mit einem Schrei, und der Halbelf sprang auf.
»Du darfst nicht hier sein!« rief Gilthanas. »Das Kentommen untersagt…«
Tanis sah zu der Spalte zurück, die Flint verschluckt hatte. Dann sprang er, so schnell er konnte, von Stein zu Stein und zog dabei sein Schwert.
Eine Gestalt, die auch für Tanis’ empfindliche Augen kaum zu erkennen war, stand vor Gilthanas. Sie kam näher.
»Wer bist du?« schrie Gilthanas, während er zurückwich. Der Klippenrand gähnte gefährlich nah bei seinen Füßen.
Die Gestalt kam wortlos näher. Gilthanas sah nach rechts und links, aber der Fremde versperrte den einzigen Fluchtweg. »Wer bist du?«
Tanis kam so nah, wie es ihm unter Deckung möglich war, doch dann sah er, wie die Gestalt sich anscheinend zu einem Sprung anschickte. Der Halbelf sprang hinter dem Granitblock hervor und brüllte: »Gilthanas!«
Sein Cousin drehte sich um. Im gleichen Moment machte die verhüllte Gestalt einen Scheinangriff auf ihn. Mit einem Schrei stürzte der blonde Jüngling die Klippe hinunter. Ein zweiter Schrei brach abrupt ab.
Der Mörder rannte in den Wald, und Tanis zögerte, weil er nicht wußte, ob er ihm folgen sollte oder zu der Stelle laufen sollte, wo Gilthanas verschwunden war. Aber Tanis war sich sicher, daß der Abgrund seinen Cousin verschlungen hatte. Der Halbelf setzte dem Täter in den Wald nach.
Er war erst zehn oder zwanzig Schritte weit gekommen, als sich das Unterholz um ihn schloß. Es gab keinen Weg – wohin war dann die Gestalt verschwunden? Tanis verfluchte die Schlingpflanzen, in denen sich seine Klinge verfing, und spähte in die Dunkelheit. Er lauschte mit angehaltenem Atem, hörte aber kein leises Atmen seines Gegners.
Tanis ging zu der Granitplatte zurück, von der sein Cousin abgestürzt war. »Gilthanas!« schrie er ohne viel Hoffnung in die Tiefe. Dann noch einmal »Flint!«, nur sicherheitshalber.
Er bekam eine Antwort, aber nicht die erhoffte.
Hinter Tanis stand plötzlich eine Gestalt, die ihn mit kräftigen Händen ins Kreuz stieß.
Im Fallen hörte der Halbelf die Worte: »Verzeih mir, Tanis.«