Zwei Stunden vor Mitternacht tauchte im Korridor vor Tanis’ Tür eine goldhaarige Gestalt in einem wasserblauen, von Silberfäden durchwirkten Kleid auf und warf der Wache ein bezauberndes Lächeln zu.
»Hallo«, sagte sie, um dann anmutig zu zögern. Diese Bewegung hatte sie in der letzten Stunde vor dem Spiegel in ihrem Zimmer eingeübt.
Der Wächter wurde rot. Lauralanthalasa wußte, daß er sie schon von weitem gesehen hatte, aber er war der Tochter der Stimme noch nie so nah gewesen.
»Oh«, sagte er. »Hallo.«
Sie lächelte wieder. »Solltest du nicht sagen: ›Wer da?‹« fragte sie leichthin.
Der honigblonde Elf in Gilthanas’ Alter schluckte und grinste schief. »Aber… ich weiß, wer du bist«, flüsterte er. »Äh – wozu also fragen?«
»Oh.« Laurana senkte die Lider und warf ihm dann einen Seitenblick zu. »Das ist sehr klug.«
Ihre Stimme verriet Bewunderung. »Das kauft mir die Wache nie ab«, hatte sie erst vor einer Stunde in ihrem Zimmer protestiert. »Was glaubst du, wie blöd die Palastwachen sind?«
Aber der Zwerg hatte darauf bestanden und nur erklärt: »Vertrau mir. Ich habe gesehen, wie dir die jungen Elfen nachgucken.« Sie war errötet. Flint war fortgefahren: »Damit schmeißt du die Wachen aus ihren Galaschuhen.«
»Ach, Flint, das ist doch lächerlich«, hatte sie gefaucht.
Aber jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Die Wache sah aus, als hätte sie wirklich weiche Knie. Während sie seine Reaktion einer leichten Verdauungsstörung nach zu reichlichem Kentommen-Essen zuschrieb, sagte sie zuckersüß: »Ich möchte bitte Tanis sehen.« Sie sah züchtig zur Seite. (»Flint, das schluckt er nie!« hatte sie geschimpft. »Vertrau mir«, hatte der Zwerg wiederholt.)
Plötzlich wirkte die Wache zerknirscht. »Ich darf niemand einlassen.«
Lauranas Gesicht nahm einen enttäuschten Ausdruck an. »Nicht einmal mich?« flüsterte sie. »Es ist doch so, so wichtig.« Sie hoffte, daß in ihren Augen die Tränen standen, die Flint für unerläßlich gehalten hatte.
Jetzt kam der gefährliche Moment. Sie griff geschwind nach vorn, zog der Wache den großen Schlüsselring aus der Vordertasche und steckte den Schlüssel sofort ins Schloß. »Oh, ich bin sicher, daß es nichts macht«, sagte sie. »Da…«
Aber die Wache war gut geschult. Der Elf griff sanft, aber fest nach ihren Handgelenken und schob sie rückwärts von der Tür weg. »Tut mir leid, Prinzessin, aber ich habe meine Befehle.« Er klang ernstlich betrübt, was Laurana überraschte.
Sie machte mehrere zögernde Schritte zurück, um ihn weiter von Tanis’ Tür wegzulocken. »Ach, ich hatte gehofft…« Sie sprach leiser und dachte fest an die Lieblingskatze, die ihr gestorben war, als sie noch ein kleines Mädchen war. Dankbar merkte sie, wie ihr endlich Tränen in die Augen stiegen. Sie zwinkerte, und eine Riesenträne rollte ihr über die Wange.
Der Wächter, der sich offenbar wie ein Mistkerl vorkam, ließ ihre Handgelenke los und sah zu, wie sie sehr weiblich davontrippelte und ihre Augen mit einem Taschentuch betupfte. Gerade als er zu seinem Posten an der Tür zurückkehren wollte, stolperte sie und schrie auf. (»Nicht so laut, daß jemand anderes herauskommt!« hatte Flint gemahnt. »Nur laut genug für die Wache und um ein bißchen Lärm zu machen.«)
In Sekundenschnelle war die junge Wache an ihrer Seite und legte ihr stützend den Arm um die Taille. »Was ist passiert?« fragte der Elf.
»Ach, mein Knöchel«, wimmerte sie, wobei sie sich idiotisch vorkam. »Das sind diese Schuhe.« (»Flint«, hatte sie protestiert. »Solche Schuhe habe ich schon jahrelang nicht mehr getragen!« – »Dann kannst du also um so leichter umknicken«, hatte er entgegnet.) Wieder wimmerte sie.
Hinter der Wache huschte eine kleine Gestalt mit einer Strickleiter und einem Ledersack über der Schulter um die Ecke, drehte den Schlüssel zu Tanis’ Tür um und schlüpfte hinein. Den Schlüssel ließ Flint stecken. Die Tür würde jetzt unverschlossen sein, erkannte Laurana und hoffte, die Wache würde sie nicht überprüfen, wenn sie den Schlüsselring wieder in die Tasche steckte.
Laurana versicherte der Wache, sie würde es bis zu ihrem Zimmer schaffen, dankte dem Elfen ausgiebig für seine Hilfe und ging dann langsam den Gang hinunter zu ihrem Zimmer, wobei sie sich beständig daran erinnerte, daß sie hinken mußte.