15 Nächtliche Besuche

Tanis, mit einem Gesicht so finster wie die Nacht, war kaum bei Flint angekommen, als der Zwerg ihn gleich wieder durch die Tür schob und sie hinter ihnen zuschlug.

»Wo –?« protestierte Tanis, der über den Steinweg stolperte, der Laden und Straße verband. Sein Schwert, das er nicht mehr abgelegt hatte, seit Flint es ihm geschenkt hatte, schlenkerte in der Scheide an seiner Seite.

»Egal«, schalt der Zwerg, der vor ihm her eilte. »Komm schon.«

Die Frühlingsnacht war kalt, so daß nur wenige Elfen unterwegs waren, doch die zwei oder drei, die sich auf der Straße blicken ließen, starrten ihnen hinterher, während der Zwerg den Halbelfen erst die Straße vor Flints Laden entlang schleppte, über das Mosaik des Himmelssaals und dann durch eine Allee dahinter. Die Frühlingsdüfte – Erde, Pflanzen, Blüten – stiegen Tanis in die Nase, doch er achtete auf kaum etwas anderes als auf den Kopf des Zwergs, der vor ihm wackelte.

Schließlich blieb Tanis ruckartig stehen, hielt sich mit der freien Hand an einem Ast fest und ließ sich keinen Schritt mehr weiterziehen, weil Flint ihm ihr Ziel nicht verraten hatte.

»Wir besuchen eine Dame«, erklärte der Zwerg gereizt. Tanis schnitt ein Gesicht. »Eine Dame hat mir diesen Schlamassel eingebrockt, Flint. Bist du sicher, daß das so eine gute Idee ist?«

Flint verschränkte die Arme vor der Brust und blickte genauso widerborstig wie sein Freund. »Diese Dame kannte deine Mutter. Ich möchte, daß du sie kennenlernst.«

Tanis sperrte den Mund auf und sah den Zwerg entgeistert an. »Eine Menge Leute im Palast kannten meine Mutter. Was ist an dieser Frau so Besonderes?« wollte er wissen, während Ärger in ihm aufstieg. »Ist sie eine Zauberin? Kann sie meine Mutter von den Toten wiedererwecken? Was soll das, Flint?«

»Ach, laß das«, entgegnete der Zwerg wütend. »Willst du lieber niedergeschlagen in deinem Zimmer sitzen? Oder niedergeschlagen in meinem Laden sitzen?« Flint zupfte ihn am Arm. »Na, komm schon, Sohn.«

»Nein.«

Tanis war störrisch, und der Zwerg wußte, daß er mit Gewalt jetzt nicht weiterkam. »Na schön«, lenkte Flint ein. »Die Dame war dabei, als deine Mutter starb.«

Tanis merkte, wie ihn ein Schauer durchlief. »Hat sie dir das gesagt?«

»Nein«, entgegnete Flint. »Ich habe zwei und zwei zusammengezählt. Jetzt komm weiter.«

Zögernd ließ sich Tanis von dem Zwerg weiterziehen, jedoch etwas langsamer und ohne das Gezerre, das den ersten Teil ihres Marschs begleitet hatte. »Wer ist sie?«

»Eine Hebamme. Allerdings im Ruhestand.«

»Wo wohnt sie?«

»Weiß ich nicht.«

Tanis blieb wieder stocksteif stehen. »Und woher wissen wir dann, wo es hingeht?«

»Vertrau mir.« Die Stimme des Zwergs war kurz angebunden. Flint ging wieder weiter, und Tanis mußte ihm folgen oder zurückbleiben.

Minuten später traten sie durch die Bäume in die Westhälfte von Qualinost und hatten zunächst einmal einen guten Blick auf den Großen Markt. So spät abends war das offene Gelände völlig einsam. Aber auf der anderen Seite des Parks lagen Rosenquarzhäuser, die im blauen Abendlicht eine lila Tönung angenommen hatten.

Flint sprach einen mittelalten Elfen an. »Könnt Ihr mir sagen, wo ich die Hebamme Ailea finden kann?« fragte er, wobei er von der Anstrengung des bisherigen Weges keuchte.

»Eld Ailea?« wiederholte der Mann und blickte verwundert von Flint zu Tanis. »Da runter.« Er wies ihnen den Weg. »Verschwendet keine Zeit. Schnell!«

»Los, Tanis!« sagte Flint, bedankte sich bei dem Mann und marschierte in die Richtung, in die der Elf gezeigt hatte. »Der sah aber verwirrt aus.«

Tanis lächelte und fiel in Laufschritt, um mit dem kurzbeinigen Zwerg mitzuhalten. »Ich glaube, er hat sich gefragt, wer von uns beiden wohl Vater wird.«

Flints Schritt verlangsamte sich. »Also, das ist wirklich ein interessanter Gedanke«, meinte der Zwerg mit boshaftem Grinsen. »Ich hätte nichts dagegen, die Knirpse von dir und Laurana auf den Knien zu schaukeln. ›Onkel Flint‹ müßten sie zu mir sagen…« Er hörte mit seinen Neckereien auf, als er das düstere Gesicht des Halbelfen bemerkte.

Bald kamen sie an eine Kreuzung. »Wo jetzt lang?« überlegte Flint. Er fragte eine Elfenfrau, die mit einem Korb voll Garn die Straße lang kam. Wortlos zeigte sie mit dem Korb auf ein hohes, schmales Quarzhaus mit einer grauen Granitschwelle und passenden Fensterrahmen. Das Erdgeschoß war dunkel, doch im ersten Stock drang ein warmes Licht durch die Fensterläden.

Tanis blieb stehen. »Flint, ich glaube nicht…«

»Doch, natürlich«, sagte der Zwerg und klopfte an die Tür. Er schob Tanis vor sich und trat selbst in die Schatten zurück. Sie warteten im Dunkeln und froren in der kalten Luft, während sie zusahen, wie im Haus eine Lampe anging, und hörten, wie Schritte die Treppe herunter und zur Tür kamen. »Komme, komme, komme«, sang eine volle Stimme. Bald ging die Tür auf, und Eld Ailea steckte ihr Katzengesicht heraus, um Tanis anzuschauen.

»Wie oft kommen die Wehen?« wollte sie wissen. »Was?« fragte Tanis.

Ihre Stimme schlug einen ungeduldigen Tonfall an. »Wie lange hat sie schon Wehen?« Tanis schluckte. »Wer?«

»Deine Frau.«

»Ich bin nicht verheiratet«, sagte er. »Das ist nämlich ein Teil des Problems. Laurana will…«

Doch Eld Ailea hatte Flint entdeckt. Sie blickte von dem Zwerg zu Tanis, und auf ihrem Gesicht konnte man verfolgen, wie es ihr langsam dämmerte. Sie machte die Tür weiter auf. »Du bist Tanthalas«, flüsterte sie. »Das bin ich.«

»Komm rein, Junge. Komm rein, Flint.« Gleich darauf standen Halbelf und Zwerg in einem der überladensten Häuser, die Flint je gesehen hatte. Kleine Bildchen in Rahmen aus Holz, Stein oder Silber standen auf jeder ebenen Fläche, hingen an jedem Fingerbreit freier Wand. Selbst an der Rückseite der Haustür hatte die Hebamme Bilder befestigt. Fast alle Bilder zeigten Kinder – Neugeborene, Krabbelkinder, Kleinkinder. Auf einigen waren zur Abwechslung auch die Mütter mit abgebildet.

Eld Ailea schob ihre Gäste zu Polsterstühlen am Kamin, wo der Halbelf das Schwert abschnallte und die Waffe an die Steinmauer um die Feuerstelle lehnte. Dann machte die alte Elfin neues Feuer, ohne auf die Hilfsangebote der Besucher zu achten, und eilte geschäftig in die Küche, um alles für einen Abendtee zu holen.

Flint nahm eines der kleinen Gemälde von einem quadratischen Tischchen. Es zeigte ein neugeborenes Elfenkind mit hängenden Ohrspitzen, zum Schlaf geschlossenen Mandelaugen und winzigen Fäustchen, die es wie ein Eichhörnchen unters Kinn gezogen hatte. Unten links war als Initiale ein »A« zu sehen.

Ailea kam mit einem Teller dunkelbrauner Kekse mit Johannisbeerfüllung und Zuckerguß zurück. Flint schloß die Augen und atmete den Duft ein; es roch nach Ingwer und Gewürznelken. Diese Delikatessen würden das fehlende Bier wettmachen, beschloß er. Er stellte das Bild wieder auf den Tisch und bemerkte, daß ein paar von den Holzspielsachen, die er der Hebamme geschenkt hatte, daneben herumlagen.

»Oh, du hast Clairek gefunden«, frohlockte die Hebamme. »Die Tochter einer Freundin, erst letzten Monat geboren. Und das«, sie zeigte auf die anderen Miniaturen auf dem Tisch, »sind Terjow, Renate und Marstev. Alle im letzten Jahr zur Welt gekommen.«

»Ich dachte, du hättest dich zur Ruhe gesetzt«, äußerte Flint dazu.

Sie zuckte mit den Schultern, wobei eine Locke aus dem silbernen Knoten an ihrem Hinterkopf entwischte. »Kinder kommen immer zur Welt. Und wenn mich jemand braucht, werde ich nicht sagen: ›Tut mir leid, ich bin im Ruhestand.‹«

Nachdem schließlich beide Gäste einen ihrer Kekse geknabbert und eine Tasse Schwarztee getrunken hatten, wollte Eld Ailea das Teegeschirr auf dem kleinen Tisch abstellen, doch der war komplett mit Bildern und Spielzeug bedeckt. Sie sprach ein paar scharfe Worte in einer fremden Sprache, und – Flint blinzelte – plötzlich gab es ein freies Fleckchen in genau der richtigen Größe zwischen den Porträts. Dort stellte sie die Teekanne und den Keksteller in Reichweite ihrer Gäste ab und setzte sich dann auf einen kleinen Schemel. Sowohl Tanis als auch Flint sprangen auf, um ihr einen Polsterstuhl anzubieten, doch sie lehnte ab.

»Das hier ist besser für den Rücken einer alten Frau«, sagte sie augenzwinkernd.

Sie starrte Tanis an, als hätte sie auf diesen Augenblick jahrelang gewartet. Sie betrachtete eingehend und prüfend sein Gesicht und achtete dabei überhaupt nicht auf das Unbehagen des Halbelfen. Sie murmelte: »Die Augen seiner Mutter. Derselbe Schwung. Haben sie dir gesagt, Sohn, daß du Elansas Augen hast?«

Tanis sah beiseite. »Meine Augen sind braun. Sie sagen, daß ich Menschenaugen habe.«

»So wie ich, Tanthalas«, erwiderte Eld Ailea sanft. Das Licht des Feuers flackerte über ihr dreieckiges Gesicht, und ihre Augen verzogen sich humorvoll. »Ich habe auch die geringe Größe meiner menschlichen Vorfahren geerbt. In einem Wald von Elfen, die so groß wie Espen sind, bin ich… ein Busch. Aber die Welt braucht wohl auch Büsche, glaube ich.«

Sie lachte fröhlich, doch der Halbelf schien nicht überzeugt. Dann fuhr sie fort.

»Ich bin teils Mensch, Tanthalas, aber ich bin auch teils Elf. Ich bin vielleicht klein, aber ich bin schlank – und das ist elfisch. Meine Augen sind rund und braun, aber mein Gesicht ist spitz wie das der Elfen. Sieh dir meine Ohren an, Tanthalas – elfisch, aber meine Haare trage ich wie eine Menschenfrau, was, wie ich sagen darf, manche meiner Elfenpatienten befremdet.«

Als sie wieder lachte, funkelten ihre warmen Augen im Feuerschein. »Wie Menschen bin ich offen für Veränderungen. Wie Elfen habe ich allerdings Gewohnheiten, die ich nie verändere – selbst wenn jemand so unglaublich dreist sein sollte, mir einen Weg vorzuschlagen, der möglicherweise besser ist.«

In Tanis’ Blick entdeckte Flint Verwunderung – und Einsamkeit. Doch als der Halbelf sprach, klang seine Stimme bitter. »Aber ich wette, daß dein menschlicher Anteil nicht von einem Vergewaltiger stammt.«

Eld Ailea zuckte zusammen, und Tanis schien sich immerhin zu schämen. Die Hebamme entschuldigte sich mit der Ausrede, die Kekse nachzufüllen. Als sie wiederkam, waren ihre Augenlider gerötet.

»Verzeih mir, Eld Ailea«, sagte Tanis. »Ich habe Elansa geliebt«, erwiderte sie schlicht. »Selbst ein halbes Jahrhundert hinterher tut es mir noch weh, wenn ich daran denke, was ihr zugestoßen ist.«

Sie reichte ihm den Teller, den er ohne einen Blick darauf an Flint weitergab. Dann setzte sie sich wieder und schlang die Arme um ihre Knie. Plötzlich sah Flint, wie sie als junge Elfin in Kargod ausgesehen haben mußte – geschmeidig, lebhaft und wunderschön. Er hoffte, daß sie auf ein glückliches Leben zurückblicken konnte.

»Tanthalas«, sagte sie, »ich hatte gehofft, dich eines Tages wiederzusehen – um den Mann mit dem Kind zu vergleichen. Ich muß sagen, als Mann bist du viel, viel ruhiger«, sie lachte still in sich hinein, »aber du bist auch weniger vertrauensvoll, was man wohl von jedem Erwachsenen erwarten muß. Aber ich sehe schon, dein Leben im Palast war gewiß nicht einfach. Ich hatte gehofft, von deinem Freund hier etwas über dich zu erfahren. Ich bin froh, daß er dich jetzt zu mir gebracht hat.«

»Warum hast du dich nicht früher gemeldet?« fragte Tanis. Seine Augen waren verhangen.

Eld Ailea seufzte, griff nach einem Gewürzkeks und biß mit ihren kleinen, weißen Zähnen in die Leckerei. Sie kaute und wischte sich mit einer Serviette den Mund ab, bevor sie antwortete. »Ich habe vor langer Zeit beschlossen, daß ich keinen Kontakt mit dir aufnehmen würde, solange du noch ein Kind warst, denn da die Stimme der Sonne entschieden hatte, dich als Elf aufwachsen zu lassen, würde mein Auftauchen dich nur immer an deine ›andere‹ Hälfte erinnern. Heute ist mir klar, daß meine Zurückhaltung ein Fehler war. Und ich bitte um Verzeihung.«

Ohne den Blick von ihrem alten Gesicht abzuwenden, griff Tanis zu seiner Teetasse und trank einen Schluck. Eld Ailea schenkte heißen Tee nach, woraufhin Tanis wieder trank.

»Ich habe dir deinen Namen gegeben, weißt du«, sagte Ailea. »Er bedeutet ›immer stark‹. Das habe ich gemacht, weil ich wußte, daß du viel Kraft brauchen würdest, um in der Elfenwelt zu leben. Vielleicht glaubst du wie ich, daß du eine Weile außerhalb von Qualinesti leben mußt, bevor du beide Teile deines Ichs akzeptieren kannst.«

Tanis’ Stimme war voller Verachtung. »Den Teil von mir akzeptieren, der wie ein Tier ist?«

Sie lächelte. »Ich glaube immer daran, daß ich die besten Eigenschaften beider Rassen in mir habe. Denk daran, Tanthalas. Du hast einen Vater, der ganz gewiß ein brutaler, gemeiner Mensch war. Aber über ihn bist du mit vielen anderen Menschen verwandt, die höchstwahrscheinlich viel besser waren als er.«

Tanis blinzelte mit den Augen. Flint erkannte, daß die alte Hebamme die Dinge in ein anderes Licht gestellt hatte.

»Ich…«, stammelte er und kippte dann seinen Tee in einem Schluck herunter. »Darüber muß ich erst nachdenken.«

Eld Ailea nickte, und die Unterhaltung wandte sich anderen Themen zu, besonders den Neuigkeiten, die es am Nachmittag im Palast gegeben hatte. Wie sich herausstellte, hatte Ailea bereits davon gehört.

»Lord Tyresian…«, überlegte sie. »Ich habe gehört, daß er sehr… konservativ ist.«

Flint fragte nach: »Hast du auch ihn entbunden?«

Ailea schüttelte den Kopf. »Oh, nein. Das heißt, nicht richtig, junger Zwerg.«

Jung? Flint schüttelte den Kopf. Doch dann fiel ihm auf, daß er im Vergleich zu ihr womöglich wirklich jung war.

»Wieso ›nicht richtig‹?« fragte Tanis.

Ailea zögerte. Tanis hakte nach: »Es war wegen deines menschlichen Blutes, nicht wahr?«

Wieder zögerte Eld Ailea, bevor sie nickte: »Ich hätte es anders ausgedrückt, aber es läuft darauf hinaus, ja. Ich habe Tyresians Mutter im Anfangsstadium ihrer Niederkunft versorgt; es schien alles gut zu laufen, und ich war bester Hoffnung, daß sie ein gesundes Kind gebären würde.«

Sie brach ab. »Und?« fragte Tanis.

Ailea schaute ins Feuer. Sie sprach monoton. »Tyresians Vater kam herein und entdeckte, wer seine Frau betreute. Er warf mich hinaus, aber ich blieb draußen vor dem Haus, falls man mich doch noch brauchen würde. Er schickte nach einer reinen Elfin, die Estimia beistehen sollte, aber es war keine zu haben. – Als er das erfuhr, befahl er der Kinderfrau, das Baby zu entbinden«, fuhr die Hebamme fort. »Die Arme war noch nie bei einer Geburt dabei gewesen, geschweige denn, daß sie wirklich einem Baby auf die Welt geholfen hat. Aber Tyresians Vater – ich konnte ihn sogar durch die Felswände seines Hauses schreien hören – sagte, daß jede reine Elfin besser wäre, als eine mit Menschenblut.«

Tanis machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch Eld Ailea redete weiter. »Dann hörte ich Tyresians Mutter schreien.« Aileas Gesicht verzerrte sich, als wäre sie noch immer dort.

»Ich klopfte an die Tür. Ich bettelte sie an, mich hineinzulassen, damit ich Estimia helfen könnte, aber Tyresians Vater kam persönlich heraus und schickte mich weg. Er sagte, er würde mich einsperren lassen, wenn ich nicht verschwände.«

»Wie interessant, wenn man bedenkt, daß Qualinesti kein Gefängnis hat«, bemerkte Flint trocken.

Eld Ailea stand auf und nahm die Miniatur einer hübschen Elfenfrau vom Kaminsims. Mit schlanken Fingern fuhr sie über die Farben. »Tyresian überlebte, aber Estimia starb.«

Sie lief im Zimmer hin und her, und Flint und Tanis schauten im Feuerlicht zu, wie sie hier einen Rahmen, dort ein Gesicht berührte. Als sie an der Tür ankam, drehte sie sich um und sagte schlicht: »Tyresians Vater sagte, ihr Tod wäre meine Schuld.«

Tanis riß die Augen auf. »Wieso?«

Sie schaute auf den Boden und strich plötzlich geschäftig ihren weiten, grauen Rock glatt. »Er sagte, ich müßte etwas falsch gemacht haben, bevor er mich wegschicken konnte.«

»Das ist doch absurd«, schalt Flint. Tanis nickte mit wütender Miene.

Ailea nickte. »Ja, so ist es«, sagte sie ruhig. »Ich habe meine Schwächen, aber Unfähigkeit gehört nicht dazu.« Sie brachte Teekanne, Tassen und Teller in die Küche zurück. Flint wollte ihr helfen und ließ Tanis zurück, der in dem leeren Raum die Bilder der Kinder betrachtete.

»Als du in meinem Laden warst«, begann Flint in der Hoffnung, die Unterhaltung noch weiterzuspinnen, obwohl schon fast Mitternacht war, »da hast du gesagt, du hättest die Stimme entbunden.«

»Und seine Brüder«, fügte Ailea hinzu. Sie gab Flint eine Tasse und ein Geschirrtuch, das anscheinend einmal ein ähnliches Hemd gewesen war wie das, das sie bei ihrem Besuch bei Flint angehabt hatte. »Warum?«

»Mich interessiert der dritte Bruder.«

»Arelas? Warum?«

»Die Stimme sagte, man hätte Arelas vom Hof weggeschickt, weil er krank war, aber sie sagte nicht, welche Krankheit der Bruder hatte. Weißt du es?«

Ailea spülte die Teekanne in einem Eimer mit klarem Wasser aus einem Brunnen hinter dem Haus. »Ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt irgend jemand weiß. Es ging ihm gut, solange er klein war, aber um die Zeit, als er laufen lernte, hm, da hat er sich verändert.«

Flint blickte sie unter seinen graumelierten Augenbrauen an. »Verändert? Wie?«

Eld Aileas Stimme klang wie die einer Person, die oft beim Kinderhüten Geschichten erzählt. »Eines Tages«, sagte sie, »gingen er, sein Bruder Kethrenan, seine Mutter und ich zu einem Picknick in den Hain«, das war das Wäldchen zwischen dem Sonnenturm und dem Himmelssaal. »Arelas wanderte herum und ging verloren.«

»Habt ihr ihn wiedergefunden?«

»Zuerst nicht. Wir haben die ganze Gegend durchkämmt, aber es war, als hätte ihn die Erde verschluckt. Wir fanden keine Spur.« Sie gab dem Zwerg die Teekanne. »Jemand muß ihn gefunden haben, aber wir haben nie herausbekommen, wer das war. Nach drei Tagen vergeblicher Suche, zu der Solostarans Vater wohl fast jeden Soldaten von Qualinesti abgeordnet hatte, fand man den kleinen Arelas eines Morgens schlafend auf dem Moos im Hof des Palasts. Er muß durch das Gartentor hereingelaufen sein – oder jemand hat ihn an den Wachen vorbei hereingebracht. Er lag unter einer Decke, die ihn warm hielt.«

Flint polierte den gehämmerten Kupferkessel ein letztes Mal und stellte ihn dann auf den Küchentisch. »Danach wurde er krank?«

»Sehr. Er hatte Fieber, als wir ihn fanden. Tagelang schwebte er zwischen Leben und Tod. Ich verabreichte alle Mittel, die ich kannte. Ich verwendete jeden Zauber, den ich beherrschte, aber ich kann nicht heilen. Ich kann nur Symptome lindern. Niemand konnte helfen. Schließlich ordnete die damalige Stimme an, daß Arelas zu einem Elfenkleriker außerhalb von Qualinost geschickt werden sollte.«

Flint lehnte sich an eine Anrichte, während Eld Ailea das Tongefäß, in dem sie abgewaschen hatte, mit klarem Wasser ausspülte. Das Gespräch schien sie an andere Dinge erinnert zu haben, denn sie redete weiter, nachdem sie das Gefäß umgedreht neben Flints Ellbogen gelegt hatte. »Solostaran und Kethrenan waren vergleichbar leichte Geburten. Aber Arelas… schon bevor er geboren wurde, war er nicht… richtig. Er lag einfach nicht richtig in seiner Mutter. Die Geburt hat über einen Tag gedauert, und ich mußte ihn schließlich mit der Zange holen, was ich immer zu vermeiden suche. Damals ging es allerdings gut«, sagte sie gutgelaunt. »Nur ein kleiner Kratzer am Arm, der schnell geheilt ist. Es gab nur eine kleine Narbe von der Form eines Sterns. Erinnerte mich an das Zeichen, das bei manchen Menschenvölkern aus den Ebenen angeblich die jungen Männern bekommen, wenn diese erwachsen werden.«

»Jetzt komm, Meister Feuerschmied«, sagte sie knapp und legte dem Zwerg ihre starken Arme auf die Schultern, um ihn umzudrehen, »mal sehen, was der kleine Tanthalas anstellt.«

Sie kehrten ins Wohnzimmer zurück. Tanis stand vor einem Regal bei der Haustür. »Hast du all diese Porträts gemalt?« fragte er. Sein rotbraunes Haar streifte sein Lederwams, als er sich umdrehte.

»Ja, aus der Erinnerung«, sagte Ailea, wobei sie den Zopf glattstrich, der um ihren Kopf ging und in dem Knoten auf ihrem Hinterkopf endete.

»Gibt es auch eins von mir?« Seine Stimme klang rauh von dem Versuch, unbeteiligt zu erscheinen. Flint hoffte innerlich, daß die Hebamme ihn nicht enttäuschen würde.

»Nicht hier unten, nein.« Tanis’ Schultern sackten bei dieser Antwort zusammen.

»Dein Bild habe ich in meinem Zimmer«, ergänzte sie und lief sogleich zu einer Steintreppe, die links von der Tür zur Küche aus dem Eingangsraum nach oben führte.

Flint stellte fest, daß er wortlos einen Blick mit dem Halbelfen wechselte, während sie über sich den Schritten der alten Hebamme lauschten. Mitternacht war inzwischen längst vorüber, und schon in wenigen Stunden würden sie zur Jagd auf den Tylor aufstehen müssen, doch Flint wäre lieber gestorben, als Tanis jetzt zum Aufbruch zu drängen.

Plötzlich stand Eld Ailea auf der ersten Stufe, und Flint fragte sich, ob ihre magischen Fähigkeiten das Teleportieren einschlossen. Für jemanden, der mehrere Jahrhunderte alt war, war sie jedenfalls erstaunlich leichtfüßig.

»Hier«, sagte sie und reichte Tanis ein Porträt in einem Silberrahmen, der filigran mit Gold verziert war, dazu einen Stahlanhänger an einer Silberkette. »Der Anhänger gehörte Elansa. Sie hat ihn mir vor ihrem Tod gegeben.«

Fast ehrfürchtig nahm Tanis das Bild in die eine Hand und den Anhänger in die andere. Er schien nicht zu wissen, was er zuerst ansehen sollte. Die grünbraunen Augen des Halbelfen glänzten feucht, doch das konnte auch vom Licht herrühren. »Dieses Gesicht hat sie also gesehen«, flüsterte der Halbelf, und Flint drehte sich unwillkürlich zur Seite und starrte ins Feuer. Gewiß war der Rauch daran schuld, daß er selbst alles verschleiert sah.

Eld Ailea blickte Tanis über die Schulter. »Du warst ein kräftiges Kind, Tanthalas – erstaunlich gesund für jemanden, dessen Mutter bei seiner Geburt so schwach war.«

Tanis schluckte. Als Ailea fortfuhr, konnte Flint, der nur wenige Fuß entfernt stand, sie kaum verstehen. Er fragte sich, ob das die Stimme war, mit der die alte Hebamme Mütter in den Wehen tröstete und Babys mit Koliken beruhigte. »Elansa hat Kethrenan innigst geliebt, Tanthalas. Schon ganz früh in der Schwangerschaft hat sie, glaube ich, beschlossen, daß sie ohne ihren Mann nicht mehr leben wollte, aber sie lebte weiter, weil sie hoffte, daß das Baby von ihm sein würde.«

Tanis’ Gesicht wurde hart. »Als sie mich dann sah«, sagte er, »wußte sie die Wahrheit.« Er wollte der Hebamme das Bild zurückgeben, doch sie nahm es nicht.

»Nein, Tanthalas.« Eld Aileas Stimme war freundlich, doch ihre Hand lag fest auf seiner Schulter. »Als sie dich sah, als sie dieses Gesicht sah, das du jetzt betrachtest, hat sie, glaube ich, ihre Meinung geändert. Sie hat sich soweit zusammengerissen, daß sie ihr Baby stillen konnte, aber es war alles zuviel für sie. Durch all das, was sie seit Kethrenans Tod durchgemacht hatte, war sie einfach zu schwach.« Die Stimme der Hebamme verklang. »Bis zu ihrem Tod hielt sie dich im Arm.«

Es wurde still im Zimmer, und nur schwere Atemzüge waren noch zu hören – seine eigenen, erkannte der Zwerg. Er räusperte sich und hustete.

Nach einer Pause, in der keiner der drei einen der anderen ansah, fragte Tanis: »Was ist mit dem Anhänger?«

Eld Ailea nahm ihn in die Hand. »Er ist aus Stahl und sehr wertvoll. Kethrenan hat ihn ihr zur Hochzeit geschenkt. Sie hat ihn immer getragen. Ich hielt es für einen Segen, daß die Räuber ihn ihr nicht genommen hatten, denn sie schien das bißchen Kraft daraus zu ziehen, das sie in jenen letzten Monaten hatte.« Sie ging zu Flint und zeigte ihm das Amulett. Efeu und Espenblätter umrahmten die verschlungenen Initialen »E« und »K«. Eine muschelartige Verzierung schmückte den Rand der runden Scheibe.

Anscheinend war alles gesagt. Flint und Tanis schwankten vor Müdigkeit, und selbst die betont unermüdliche Hebamme wirkte erschöpft. In unausgesprochenem Einverständnis gingen die beiden Männer zur Tür. Eld Ailea holte Tanis’ Schwert, das er am Kamin stehengelassen hatte. Sie steckte es in die Scheide, doch dann zögerte sie. Auf ihrem Gesicht zeigte sich ein merkwürdiger Ausdruck.

»Dieses Schwert…«

Tanis sagte stolz: »Das hat Flint gemacht.«

»Ja, ich weiß«, sagte sie etwas stotternd. »Es ist wunderbar. Aber…«

Zwerg und Halbelf warteten, während die Hebamme ihre Gedanken ordnete. Sie holte tief Luft und wirkte plötzlich entschlossen. »Flint.« Ihre Stimme war schneidend. »Komm her.«

Flint ging zu ihr und schaute in ihre braunen Augen. »Kannst du diesen Anhänger an dem Schwert befestigen?« fragte sie. »Würde das der Waffe schaden?«

»Nun, das geht bestimmt, und es würde auch nichts schaden, aber…«

»Auf Dauer? Geht das?«

Er nickte. Ihre Mimik fesselte ihn; es war eine beunruhigende Mischung aus Drängen und Angst. Er deutete auf eine Stelle am Heft der Waffe. »Ich könnte es da festmachen.«

Sie legte ihre Hand auf seine. »Dann mach das«, drängte sie. »Heute noch.«

»Es ist so spät«, druckste Flint herum.

Eld Ailea packte ihn am Arm. »Es muß heute nacht sein. Machst du es? Ganz bestimmt?« So nah bei der Hebamme sah Flint plötzlich die Erschöpfung der Jahre, die ihr lebhafter Charakter normalerweise überdeckte. Er versprach es ihr, woraufhin sie ihn losließ.

Am Himmelssaal trennte sich Flint von Tanis. Der Halbelf ging nach Norden zum Palast der Stimme und Flint mit dem Schwert seines Freundes nach Hause.

Die nächsten zwei Stunden brachte der Zwerg mit dem Auftrag der Hebamme zu.


Miral machte kaum ein Geräusch, als er an den beiden Wachen in den schwarzen Lederwesten vorbeikam, die vor den Privatgemächern der Stimme standen. Die Wachen grüßten ihn und winkten ihn durch. Da er sich in der Dunkelheit gut zurechtfand und seine Augen nur hin und wieder durch Fackellicht geblendet wurden, gelangte er rasch zur Treppe. Aber anstatt in den Hof hinunterzugehen, stieg er in den ersten Stock hoch.

Bei Xenoths Zimmer hielt er an. Nachdem er das durchdringende Schnarchen des Beraters sogar durch die Tür hören konnte, schlich er an Tanis’ Tür vorbei, die leicht offen stand. Miral stellte sich vor, wie der Halbelf durch die Straßen von Qualinost strich und unter den Ereignissen des Tages litt.

Nacheinander kam der Magier an den Räumen von Porthios und Gilthanas vorbei, bis er bei Laurana ankam. Unter ihrer Tür war ein Lichtschein zu sehen, und er hörte sie drinnen auf und ab laufen.

Er klopfte leise. Das Tapsen der Schritte hörte auf. Dann näherte es sich der Tür. Laurana fragte leise: »Wer ist da?«

»Miral, Lady Laurana. Verzeiht, daß ich zu so unmöglicher Zeit störe, aber ich muß mit Euch reden.«

Sie machte die Tür auf. Wie immer, wenn Miral die junge Prinzessin sah, hielt er den Atem an. Sie trug eine hinreißende Robe aus wasserblauer Seide. Die Farbe betonte das Glitzern ihres aschblonden Haars und das Korallenrot ihrer geschwungenen Lippen. Einen Augenblick war er sprachlos, bis er sich wegen seiner mangelnden Selbstbeherrschung schalt.

»Darf ich unter vier Augen mit Euch sprechen, Laurana? Es geht um die Bekanntmachung der Stimme zu Eurer Verlobung.«

Laurana riß ihre schmalen Augen auf, und ihre Wangen röteten sich. »Aber gewiß… nur nicht hier.«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete Miral sofort. »Also im Hof? Ich möchte niemanden stören. Es wird nicht lange dauern.«

Sie dachte nach und legte dabei den Kopf schief. »Ich muß mich erst anziehen. Ich treffe Euch dort in zehn Minuten.« Dann machte sie die Tür zu.


Pünktlich saß Laurana – jetzt mit Mantel und einem Kleid aus taubengrauem Satin passender gekleidet – auf einer Steinbank im Hof. Es war dieselbe Bank, die vor so vielen Jahren Zeuge des Wettschießens von Porthios und Tanis gewesen war. Jetzt aber waren die Birn- und Pfirsichbäume in das silberne Licht von Solinari getaucht, und der Blütenduft benebelte einen regelrecht. Die Stahltür des zweistöckigen Marmorgebäudes glänzte im Mondschein. Sie hüllte sich fest in ihren Mantel.

Miral kam den gepflasterten Weg vor ihr entlang. Mitten in der Nacht wirkte seine rote Robe fast schwarz. Irgend etwas hatte ihn innerlich aufgewühlt. Seine Kapuze war etwas zurückgerutscht, weshalb sein blasses Gesicht und seine nahezu farblosen Augen zu sehen waren.

»Was ist los, Miral?« gab Laurana freundlich das Stichwort. »Ihr sagtet, es hätte etwas mit Vaters Bekanntmachung zu tun.«

»Ich… ich wollte Euch mein Mitgefühl aussprechen.« Der Magier senkte den Kopf. »Ich weiß, daß Ihr Tanthalas Tyresian vorzieht – was, wie ich hinzufügen möchte, beträchtlichen Geschmack Eurerseits beweist.« Er lächelte gewinnend, und sie tat das gleiche. »Tanthalas paßt viel besser zu Euch, trotz seines… gewaltsamen… Erbes. Ich bin sicher, daß Ihr sein unbeherrschtes Temperament zügeln könntet, Lady Laurana. Schließlich sind nicht alle Menschen Wilde, und Tanthalas beeindruckt mich schon seit langem.«

Er senkte etwas den Kopf, wodurch die Kapuze nach vorn fiel und sein Gesicht wieder verdeckte.

Laurana war durcheinander, denn sie wußte nicht, wie sie es zu verstehen hatte, daß der Zauberer Tanis gleichzeitig pries und verurteilte. »Danke, aber ich sehe nicht – «

»Es gibt jemanden, der sogar noch besser zu Euch paßt.«

Laurana merkte, daß ihr Gesicht ihr Erstaunen verriet, bevor die Jahre bei Hof die Oberhand gewannen und sie ihr Gesicht wieder unter Kontrolle hatte. »Und wer ist das, Miral?«

»Ich.«

Laurana war aufgesprungen, bevor das Wort in der Nachtluft zwischen ihnen verklungen war. »Ihr?« fragte sie ungläubig. »Oh, ich glaube nicht – «

Miral sprach mit drängender Stimme. »Bitte hört mich erst an, Laurana. Wenn Ihr mich abweist, werde ich nie wieder davon anfangen. Das schwöre ich.«

Laurana überlegte fieberhaft. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie ihr Vater mit einer so delikaten Situation umgehen würde. Miral hatte dem Hof immer treu gedient und hatte durch seine Dienste für ihren Onkel Arelas schon vor langer Zeit die Gunst ihres Vaters gewonnen. In einer ähnlichen Situation würde Solostaran den Zauberer auf jeden Fall aussprechen lassen.

»Bitte setzt Euch, Laurana. Es wird nicht lange dauern.«

Sie setzte sich hin. Sie hatte Tyresian für zu alt gehalten, und Tyresian war im gleichen Alter wie ihr Bruder Porthios. Der Magier hingegen war Jahrzehnte älter. »Ich bin zu jung zum Heiraten, Miral.«

»Aber nicht zum Verloben. Ist es nicht das, was Ihr und Tanis seid? Verlobt? Versprochen?«

Unaufgefordert setzte sich Miral neben Laurana auf die Bank.

»Ich habe Euch vor Jahren zum ersten Mal gesehen, als ich auf Arelas’ Drängen hierher kam. Ihr kennt meine Geschichte?« Laurana nickte, denn sie traute ihrer Stimme nicht. Plötzlich war ihr bewußt, wie still und verlassen der Innenhof bei Nacht war. Sie versuchte, sich zu erinnern, ob die Wachen nicht nur im Innern des Palastes, sondern auch auf dem Hof patrouillierten.

»Damals wart Ihr nur ein kleines Mädchen – aber was für ein Mädchen! Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so vollkommen war. Ein bißchen verwöhnt, na gut, und etwas wilder, als ich es bei einem Elfenmädchen von bester Herkunft schätze, aber ich dachte, diese Energie käme vielleicht daher, daß Ihr aus der Linie von Kith-Kanan abstammt.«

Laurana rückte von dem Magier ab, doch seine Hand schoß vor und hielt die ihre fest. Er war stärker, als sie je gedacht hätte. Und seine Augen… Sie konnte sie merkwürdigerweise in der Dunkelheit gut erkennen, selbst unter seiner Kapuze. Die Angst kroch ihr den Rücken hoch. Die Stimme des Zauberers redete weiter und durchschnitt damit die Stille der Nacht von Qualinost.

»Ich habe Euch so gern betrachtet, Laurana. Ich habe mich freiwillig angeboten, Euch zu unterrichten, auch wenn das bedeutete, daß ich diesen Dummkopf von Bruder, Gilthanas, dazubekam. Und Tanis. Ich liebte Tanis und vertraute ihm, wie Ihr wißt. Schließlich wurdet ihr zwei ja wie Bruder und Schwester erzogen. Wie sollte er meine Werbung bedrohen können, wenn es an der Zeit war? Dann fand ich gestern heraus, wie falsch ich Tanis eingeschätzt habe.« Mirals Griff wurde fester, und Laurana gab einen Protestlaut von sich. Der Laut durchbrach ihre Angst, und sie stand auf, obwohl der Magier sie zurückziehen wollte.

»Wartet!« zischte er. »Laurana, wählt mich. Ich bin vielleicht nicht allmächtig, aber ich bin ein besserer Zauberer, als viele Leute meinen. Am Ende kann ich Euch mehr Macht und mehr Reichtümer bieten als Tyresian und Tanis zusammen, wenn Ihr nur Geduld habt.«

Laurana riß sich mit klopfendem Herzen los und wich mehrere Schritte zurück. Miral stand langsam auf. »Wie lautet Eure Antwort?« fragte er gespannt.

Jeder Gedanke an Hofetikette war Laurana jetzt fern. Sie konnte nur noch an Flucht denken. Jetzt war es unwichtig, ob sie den Zauberer vor den Kopf stieß. Nur ihre Flucht zählte. Die Stimme würde Miral nicht länger am Hof dulden, wenn sie von heute nacht erfuhr.

»Laßt mich in Ruhe«, verlangte sie, indem sie alle Kraft zusammennahm und ihrer Stimme soviel Nachdruck wie möglich verlieh. »Verlaßt diesen Hof. Wenn Ihr bis morgen verschwunden seid, verspreche ich, daß ich meinem Vater nicht sagen werde, was hier vorgefallen ist. Damit entgeht Ihr der Demütigung, vom Hof verjagt zu werden.«

Der Magier stand auf, und sie drehte sich um und lief im Mondschein auf die Tür zu. Hinter sich hörte sie den Magier etwas murmeln, weshalb sie zu rennen begann. Nur wenige Fuß vor der Stahltür holte sie der Zauberspruch jedoch ein. Sie stolperte und fiel in Ohnmacht.

Sie erwachte in dem Gang vor ihrem Zimmer. Zwei Palastwachen mit einer Lampe blickten besorgt auf sie herab. Ihr Kopf und ihre Schultern lagen in Mirals Schoß. Verwirrt sah sie hoch. »Miral?« Laurana schaute sich um. »Wie bin ich denn hierhergekommen?«

»Ich ging gerade durch den Korridor, als ich hörte, daß Ihr die Tür aufmachtet«, sagte Miral mit seidiger Stimme. »Ich wußte, daß Ihr einen schlimmen Tag hinter Euch hattet, und bin deshalb hergeeilt, um nachzusehen, ob Ihr krank seid oder Hilfe braucht. Als ich näher kam, wurdet Ihr ohnmächtig. Erinnert Ihr Euch nicht mehr?«

Laurana lehnte sich erschöpft zurück. »Ich… erinnere mich an gar nichts. Ich weiß noch, daß ich in meinem Zimmer herumgelaufen bin, und dann war ich plötzlich hier.« Trotzdem kam es ihr so vor, als ob sie gerade etwas Wichtiges vergaß. Sie schüttelte den Kopf, weil sie sich nicht erinnern konnte.

Die klaren Augen des Zauberers waren unergründlich. Eine Hand glitt in eine Tasche seiner Robe und kam mit einem kleinen Päckchen getrockneter Blätter wieder hervor. »Tut das in eine Tasse heißes Wasser, Lady Laurana. Es wird Eure Stimmung heben und Euch beim Einschlafen helfen. Ich werde einen Diener mit dem Wasser herschicken.«

Sie wartete, weil sie immer noch versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Dann nickte sie. Miral und eine der Wachen halfen ihr auf die Beine; dann verschwand der Magier den Korridor entlang. Als sie in der Tür stand, beobachteten die Wachen sie besorgt. Unten, am Ende des Gangs, ging Lord Xenoths Tür unvermittelt auf, und der Berater warf einen Blick heraus – merkwürdigerweise voll bekleidet. Laurana beachtete ihn nicht weiter, weil sie immer noch über sein nach wie vor engstirniges Verhalten gegenüber Tanis und Flint verärgert war.

Ihr Ärger über den Berater ließ nach, während sie versuchte, ihre Gedanken zu klären. Da war doch noch etwas! Bloß was?

Nun, was es auch war, wenn es wichtig war, würde sie sich wieder daran erinnern. Sie wünschte den Wachen eine gute Nacht und schloß sich wieder in ihrem Zimmer ein.

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