4 Eine Lektion

AC. 288, Frühherbst

Tanis schlurfte über die blau-weißen Pflastersteine in der Straße vor Flints Geschäft. Er verfluchte sich für seine Dämlichkeit. Warum war er so kurz angebunden gewesen? Flint Feuerschmied hatte gewiß die besten Absichten gehabt; warum hatte der Halbelf nicht angemessen reagiert?

Tanis hatte nicht auf den Weg geachtet und stellte irgendwann fest, daß er durch den Himmelssaal in der Mitte von Qualinost lief. In den Pflastersteinen des offenen Platzes sah man auch jetzt in der Dämmerung noch das Mosaik, das den Teil von Ansalon zeigte, der die Elfenstadt umgab. Die Karte stellte alle Länder von Solace und dem Krystalmirsee im Nordwesten, über Que-Shu im Nordosten und Pax Tarkas im Süden dar. Der Halbelf jedoch starrte nur auf einen Punkt auf der Karte: Solace, die Wahrheit des Zwergs. Was für ein Ort mochte das sein?

»Stell dir bloß vor, in einem Baumhaus zu leben«, sagte er. Sein Flüstern verklang in der Stille, die über dem verlassenen Platz lag. Er dachte an die Steinhäuser der Elfen, die nie ganz ihre Kälte verloren. Würde ein Holzhaus in einem Baum richtig warm sein?

Er trat gegen einen losen Stein, der den Ort Torweg zwischen Qualinost und Solace markierte. Verlegen und in der Hoffnung, daß niemand mitbekommen hatte, wie er die geheiligte Karte behandelte, sprang er dem Steinchen hinterher und kniete sich hin, um es wieder einzusetzen. Dann hockte er sich hin und sah über den offenen Platz.

Die kühle Luft der Dämmerung trug köstliche Essensdüfte und Gesprächsfetzen heran. Tanis stand langsam auf und sah sich im Himmelssaal um. Um ihn herum stachen die lila Quarzspitzen der Elfenhäuser mit erleuchteten Rechtecken in den abgerundeten Seiten wie die Schnäbel junger Vögelchen aus den runden Baumkronen hervor. Von den Brückenbögen umgeben und mit dem hohen Sonnenturm in der Mitte, dessen Gold immer noch die abendlichen Sonnenstrahlen zurückwarf, war die Stadt wirklich ein beeindruckender Anblick. Wie verständlich, daß die Qualinesti-Elfen sie für die schönste Stadt der Welt hielten. Aber daß die Elfen es aushalten konnten, am selben Platz geboren zu werden und zu sterben?

Tanis fragte sich, ob seine Unzufriedenheit von seinem Vater stammte. Von seiner menschlichen Seite.

Er erhob seinen Blick zum Abendhimmel. Es wurde zusehends dunkler, und direkt über ihm tauchten die ersten Sterne auf. Er dachte über die Legende nach, daß der Himmelssaal einst ein richtiges Gebäude gewesen sein sollte, in dem ein seltener, kostbarer Gegenstand gehütet wurde. Angeblich hatte Kith-Kanan Haus und Gegenstand auf magische Weise in den Himmel gehoben, um beides zu verstecken, und nur die Karte zurückgelassen, die den Fußboden des Hauses gebildet hatte. Als er klein war, hatten ihm die anderen Elfenkinder erzählt, daß der genaue Mittelpunkt der Karte ein »Glückspunkt« sei. Wenn man dort steht und sich etwas ganz fest wünscht, dann bekommt man es auch, hatten sie behauptet.

»Ich möchte gern an jenen Ort und das Versteck am Himmel sehen«, flüsterte er jetzt inbrünstig. »Ich möchte ganz Ansalon sehen. Ich möchte reisen, wie Flint… und Abenteuer erleben… und Freunde finden…«

Peinlich berührt sah er sich um und hoffte, daß ihn niemand beobachtet hatte. Insgeheim wartete Tanis auf ein magisches Wesen, das plötzlich erschien und ihm seinen Wunsch erfüllte – obwohl er kaum ernsthaft daran glaubte. Selbstverständlich nicht, sagte er sich. Das war ein Kindertraum, nicht der eines jungen Mannes. Dennoch wartete er noch ein paar Minuten, bis der Wind zwischen den Birnbäumen ihm eine Gänsehaut auf den Armen verursachte und ihn nach Hause trieb.

Wo auch immer das sein mochte, dachte er.

»Geschichte«, erklärte Meister Miral Tanis am nächsten Morgen, »ist wie ein breiter Strom.«

Der Halbelf sah auf. Er wußte, es hatte keinen Sinn, den Lehrer zu fragen, was er meinte. Miral würde seine Feststellung entweder erklären oder Tanis auffordern, es selbst herauszufinden. Auf jeden Fall würden Fragen dem Halbelf nur eine abwiegelnde Handbewegung einbringen.

Heute jedoch war der Zauberer in seinen dämmrigen Räumen im Palast der Stimme zum Reden aufgelegt.

»Ein breiter Strom«, wiederholte er. »Es fängt mit kleinen, klaren Bächen an, einzelnen Stimmen, die rasch am Ufer entlangspringen, bis sie ihr Wasser mit anderen vereinigen können und immer größer werden, je mehr sie sich mit anderen vermischen, bis die zarten Stimmen von tausend kleinen Bächen sich zum brüllenden Lied eines großen Flusses vereint haben.« Er holte weit mit den Händen aus, weil er ganz in seiner Metapher versunken war.

»Und?« hakte Tanis nach. Der Halbelf mußte in dem schattigen Raum weit die Augen aufsperren, denn der Zauberer hielt stets alle Fenster zu seinen Zimmern geschlossen. Helles Licht, hatte Miral erklärt, beeinträchtige die Wirkkraft der Kräuter und Gewürze, die die Grundstoffe für die wenige Magie darstellten, die er ausübte. Außerdem tat starkes Licht den fast farblosen Augen des Zauberers weh, die Miral hinter der Kapuze seiner tiefroten Robe verbarg. Tanis hatte sich oft gewundert, warum Solostaran einen Zauberer eingestellt hatte, um seine Kinder zu unterrichten. Ursprünglich hatte Miral Laurana, Gilthanas und Tanis als Schüler gehabt – Porthios war schon zu alt für einen Tutor gewesen, als Miral an den Hof kam. Inzwischen wurde Laurana von einer Elfendame unterrichtet, und Gilthanas und Miral waren von Anfang an nicht miteinander ausgekommen. Der jüngste Sohn der Stimme bekam jetzt nur noch eine Ausbildung im Kampf – von Ulthen, einem Freund von Porthios, der aus guter Familie stammte, jedoch immer in Geldnot war.

Tanis hatte an dem exzentrischen Zauberer Gefallen gefunden und war bei Miral geblieben, weil der einer der wenigen Leute am Hof war, die dem Halbelfen nicht mit eisiger Höflichkeit begegneten. Vielleicht hatte Mirals Verhalten ihm gegenüber damit zu tun, daß der Zauberer Jahre außerhalb von Qualinesti verbracht hatte, überlegte sich Tanis. Miral war zwar ein Elf, war aber nicht unter Elfen aufgewachsen. Ein Grund mehr, Qualinost eines Tages zu verlassen, dachte der Halbelf.

Jetzt zeigte Miral mit seinem knochigen Finger auf Tanis, wobei seine Kapuze etwas zurückrutschte. Seine Wimpern und Brauen waren blond, ebenso wie das schulterlange Haar, das aus der Kapuze drang. Miral mit seinen Bücherregalen, seinen Zaubertränken und der Angewohnheit, sich fit zu halten, indem er spät in der Nacht in den Gängen des Turms auf und ab lief – eine Angewohnheit, die bei den jungen Elfen für viel Gekicher und Geflüster sorgte –, hatte das farblose Aussehen von einem, der zuviel Zeit im Dunkeln verbringt.

»Der breite Strom«, fuhr Miral fort, und Tanis konzentrierte sich wieder auf den Gedankengang seines Lehrers, »fließt seinerseits ins endlose, tiefe Meer. Geschichte ist wie das Meer.«

Der Zauberer lächelte angesichts von Tanis’ Verwirrung, und mit diesem Ausdruck ähnelte Mirals hartes Gesicht dem eines Falken. »Und auch wenn es am einfachsten sein mag, die großen Ozeane und Flüsse zu untersuchen – die Kriege und die großen Ereignisse vergangener Zeiten –, versteht man die Vergangenheit mitunter am besten, wenn man statt dessen den Tönen von wenigen dieser Rinnsale lauscht, den Geschichten der einzelnen Leben, die eins ums andere und Tropfen für Tropfen die Welt zu dem machten, was sie war.«

Eingelullt in die Rhetorik des Zauberer, atmete Tanis das Durcheinander würziger Düfte ein, die aus den verkorkten Behältern in den Regalen entwichen. Er wußte, daß Miral irgendwann zum Kern der Sache kommen würde. Während andere junge Adlige diese Stunden vielleicht gefürchtet hätten, freute sich Tanis stets auf die Zeit mit Miral. Es gab noch andere Fächer neben Geschichte: Schreiben, die Vorgänge am Himmel, die Gewohnheiten und Eigenarten von allem Lebenden. Und das alles interessierte den Halbelfen. »Zum Beispiel«, sagte Miral, während er sich auf ein dickes Kissen setzte, das mit gegerbtem Hirschleder bezogen war, und Tanis zu einem ähnlichen, kleineren, aber nicht weniger bequemen Stuhl an seiner Seite winkte, »habe ich dir schon von Joheric erzählt?«

Als Tanis den Kopf schüttelte, begann der Zauberer mit seiner Geschichte:

»Wie du weißt, Tanis, sind die Elfen die Verkörperung des Guten, denn sie waren die erste Rasse auf Krynn.« Tanis machte den Mund auf, um zu fragen, ob die anderen Rassen auch von sich glaubten, daß sie die ersten waren, aber der Magier brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

»Die Elfen waren vom Auftauchen des Grausteins weniger betroffen als andere, schwächere Rassen, aber…«

»Erzählt mir vom Graustein«, unterbrach ihn Tanis in der Hoffnung, die Geschichten würden bis zu seiner Bogenstunde bei Tyresian am frühen Nachmittag dauern.

Miral sah ihn grimmig an, und es wurde noch dunkler im Raum, als ob das Licht auf die schlechte Laune des Magiers reagieren würde. »Ich habe dir bereits vom Graustein erzählt. Jetzt…« Die rauhe Stimme des Zauberers nahm den Faden wieder auf. »Wir waren weniger vom Graustein betroffen als andere Rassen, aber dennoch sorgte der Stein – der, wie du weißt, die Verkörperung des Chaos ist – überall für Unruhe, wo er auch hinkam. In Silvanesti, wo ich herkomme…« Das war Tanis neu. Er setzte sich auf und wollte eine Frage stellen, doch bei einem weiteren, strengen Blick des Magiers sackte er wieder in sich zusammen.

»In Silvanesti lebte einst bei der Hauptstadt Silvanost ein Elfenlord mit seinen beiden Kindern, einem Sohn namens Panthell und einer etwas jüngeren Tochter namens Joheric. Wie es damals, vor den Sippenmord-Kriegen, Brauch war, würde der älteste Sohn Titel, Ländereien und Reichtum seines Vaters erben. Die Tochter, Joheric, würde eine ausreichende Mitgift erhalten, um für eine Ehe mit einem jungen Elfenlord interessant zu sein, aber sie würde kein Anrecht auf irgend etwas anderes von den Besitztümern ihres Vaters haben.«

»Wenn man es so darstellt, klingt das ungerecht«, warf Tanis ein.

Miral nickte und zog die Robe fester um die Schultern. »Das fand Joheric auch«, fuhr der Magier fort. »Die Situation machte Joheric zu schaffen, besonders weil es für sie offensichtlich war, daß sie das Erbe mehr verdient hatte. Elfenfrauen lernten damals wie heute den Umgang mit Waffen, auch wenn sie diese – wie heute – dann fast nur bei Zeremonien in die Hand nahmen. Es war doch eher immer schon Aufgabe der Männer, zu kämpfen, wenn es nötig war.

Nun, Joheric war mit dem Schwert so gewandt, daß sie ihren Bruder Panthell bei den Übungskämpfen im Schloß besiegen konnte. Sie war stärker und schlauer als ihr älterer Bruder. Aber weil sie das jüngere Kind war, wußte sie, daß sie wahrscheinlich miterleben würde, wie alles, was ihr zustand, an den Unwürdigeren fiel. Es müßte doch jeder sehen können, überlegte sie, daß Panthell ein schlechter Kämpfer ohne jegliches moralisches Urteilsvermögen war. Sie wußte, daß er sich nicht zu fein zum Stehlen war, daß er gierig und feige war und außerdem nicht übermäßig gescheit.«

Tanis knurrte der Magen, und er blinzelte zu dem Teller mit geröstetem Quith-Pa, den der Zauberer genau außer Reichweite auf einem Tischchen neben den zwei Sitzen stehen hatte. Der Halbelf war am Vorabend zu spät gekommen, um sich noch mit der Familie der Stimme an den Abendbrotstisch zu setzen. Dann hatten ihn Selbstvorwürfe über seine Unterhaltung mit Flint bis in den frühen Morgen beschäftigt, und nachdem er endlich eingeschlafen war, war er zu spät aufgewacht und ohne Frühstück zu Miral geeilt.

Der Zauberer jedoch interpretierte das Magengrummeln und den verlangenden Blick richtig und sagte einen Befehl in einer fremden Sprache, woraufhin der Teller ohne die Hilfe von Elfenhänden quer über den Tisch zu dem Halbelfen rutschte. Tanis dankte ihm, bestrich eine Scheibe Quith-Pa mit Birnenmus und schob sie sich in den Mund.

Miral fuhrt fort. »Joheric wurde immer bitterer bei dem Wissen, daß all ihr Können und all ihre Begabung ihr nichts einbringen würden. Sie sehnte sich danach, in die Schlacht zu ziehen und dem Haus Ehre zu machen. Bald bekam sie im Drachenkrieg dazu Gelegenheit. Der Krieg zog ihren Vater in die Kämpfe hinein, und trotz seines entschiedenen Protests wurde Panthell losgeschickt, sich den anderen Elfensoldaten anzuschließen. Joheric dagegen blieb zu Hause und übte mit dem Schwert und mit dem Bogen, bis sie sicher war, daß sie sich ehrenhaft verteidigen konnte. Aber lange Monate verstrichen ohne eine Nachricht von Panthell.«

»Wurde er getötet?« fragte Tanis.

»Genau das befürchtete Joherics Vater. Er hatte Angst, sein Sohn und Erbe wäre gefangengenommen worden. Joheric ging zu ihrem Vater und schwor, sie würde ihren Bruder finden – ein Schwur, den niemand besonders ernst nahm, denn sie war schließlich ein Mädchen und erst an die Fünfundzwanzig, also jünger, als du jetzt bist. Im Schutze der Nacht verließ sie das Schloß und durchquerte die Wälder von Silvanesti auf der Suche nach dem Regiment ihres Bruders.«

»Hat sie ihn gefunden?« fragte Tanis, den Mund voll Quith-Pa. Er las einen Krümel von seinen sandfarbenen Hosen auf.

Miral nickte. »Das hat sie. Doch alles war anders, als sie es erwartet hatte. Sie stieß auf Panthell, während sein Elfenregiment gerade gegen eine Truppe Menschen kämpfte. Sie kämpfte sich zu ihm vor, und da entdeckte sie zu ihrem Entsetzen…« Die Stimme des Zauberers brach ab. »Was meinst du, was sie entdeckte, Tanis?« hakte Miral nach.

Tanis blickte auf und schluckte. »Was denn?« wiederholte er.

Miral nahm die Erzählung wieder auf. »Panthell kämpfte auf Seiten der Menschen.«

Der Halbelf fühlte einen Schauer durch seinen Körper rinnen. Er schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen. Was wollte Miral ihm sagen?

Ohne weitere Pause fuhr der Magier fort, wobei er den Halbelfen nicht mehr ansah. »Joheric war so wütend, daß sie, ohne nachzudenken, ihren Bruder beim Namen rief, und als er sich umdrehte, durchbohrte sie ihn mit ihrem Schwert. Es stellte sich heraus, daß die Elfen den Menschentrupp verfolgt hatten, dem Panthell sich als Führer angeschlossen hatte. Die Elfen töteten viele Menschen und führten Joheric als Heldin nach Hause.«

»Als Heldin? Weil sie ihren Bruder getötet hat?« schluckte Tanis. Er hatte gehört, daß die Silvanesti-Elfen kälter und berechnender waren als die Qualinesti, aber…

»Weil sie einen Verräter getötet hat«, stellte Miral richtig. »Sie erbte den Besitz ihres Vaters und wurde ein sehr erfolgreicher Elfengeneral.« Er brach ab und warf seinem Schüler einen Blick zu.

Tanis war entsetzt. »Und das war’s?« wollte er wissen, wobei er unwillkürlich seine Stimme hob. »Sie hat ihren Bruder getötet und wurde dafür belohnt?«

»Der Rest ihres Lebens war von Trauer überschattet«, gab Miral zu. »Jahrelang verfolgten sie Träume über ihren Bruder, Alpträume, in denen sie ihn wieder und wieder durchbohrte, bis sie schreiend erwachte.«

Tanis dachte nach, während er sich in dem abgedunkelten Raum umsah, doch statt dessen erblickte er eine Elfenfrau in Rüstung, die in der Schlacht ihren eigenen Bruder angriff. »Schlimme Träume scheinen ein armseliger Preis zu sein, wenn man den Tod eines anderen Elfen zu verantworten hat«, sagte er schließlich.

»Kommt auf die Träume an«, sagte der Zauberer.

Die beiden saßen kurze Zeit schweigend da, bis Miral sich vorbeugte. »Verstehst du die Moral meiner Geschichte?«

Der Halbelf nahm das letzte Stück Quith-Pa und dachte wieder nach. »Daß eine Person den Lauf der Geschichte verändern kann?« bot er an.

Das Gesicht des Zauberers verriet Zustimmung. »Gut. Was noch?«

Tanis überlegte intensiv, doch ihm fiel weiter nichts Vernünftiges ein. Der Magier beugte sich zu ihm. Seine Augen starrten ihn zwingend an. »Entscheide dich, auf wessen Seite du stehst, Tanis.«

Der erschrockene Elf merkte, wie sein Gesicht weiß wurde. »Was habt Ihr gesagt?« fragte er matt.

»Entscheide dich, auf wessen Seite du stehst.« Dann wandte sich der Magier ab.

An dieser Stelle der Morgenlektion kam Laurana herein, und Miral legte eine Pause ein, die ohnehin schon durch den Schock nötig war, der immer noch im Gesicht seines jungen Schülers zu lesen stand. Der Junge mußte die harte Wahrheit früher oder später erfahren, dachte der Magier. Tanis konnte nicht als Halbelf oder Halbmensch leben, ohne sich zu entscheiden, welcher Rasse er sich zugehörig fühlen wollte. Dennoch hatte es Miral sehr leid getan, seinen Schüler zu verletzen, und er wünschte, er hätte einen sanfteren Weg gefunden. Wenn Tanis keinen Abstand zwischen sich und dem Hof aufbaute, würde er voller seelischer Narben durchs Leben gehen. Trotzdem war es schade, fand der Magier.

Tanis kam ein paar Minuten später zurück, nachdem er erfolgreich die Bemühungen seiner kleinen Cousine abgewehrt hatte, ihn zum Spielen in die Sonne zu locken.

»Es sind vielleicht nicht mehr viele solcher Tage bis zum Winter«, hatte die Tochter der Stimme argumentiert. »Ehe du dich umdrehst, ist der Winter schon da, Tanis.«

Sie hatte gelacht, aber Tanis war etwas erschauert. Er konnte schon den Winterwind in den Knochen fühlen, und er wußte irgendwie, daß der Wechsel der Jahreszeiten für ihn bedeutsamer war als für andere Elfen. Vielleicht kam es daher, weil er spürte, wie er sich mit den Jahreszeiten veränderte und älter wurde. Vielleicht bedeuteten die einzelnen Jahreszeiten den Rassen, die weniger Sommer sehen würden, mehr als den Elfen. Ein Halbelf lebt kürzer als ein reiner Elf, der Jahrhunderte vor sich hatte, auch wenn ein Halbelf wiederum eine längere Lebenserwartung hatte als die Menschen.

Der Zauberer und sein Schüler wendeten sich einem neuen Thema zu – der Funktionsweise eines Flügels. Miral hatte am Morgen bei einem Waldspaziergang einen toten Sperling und eine braune Fledermaus gefunden. Zusammen mit Tanis untersuchte er die beiden Tiere, die vor ihnen auf einem Tablett auf dem Tisch lagen. Die helle Lampe füllte den Raum mit dem Duft von Gewürzöl. Doch als die beiden so Kopf an Kopf beieinander standen, um die tote Fledermaus und den Vogel zu untersuchen, lag eine gewisse Spannung zwischen Lehrer und Schüler in der Luft. Tanis bemühte sich sehr, seine Aufmerksamkeit wieder auf Mirals Unterricht zu lenken.

»Du siehst doch den Unterschied zwischen der Fledermaus und dem Sperling, Tanis?« fragte Miral nach. Sein Atem roch nach Lorbeerblättern.

»Ich glaube schon«, erklärte Tanis. Er fuhr die zarten Linien des Fledermausflügels mit dem Finger nach. »Bei der Fledermaus besteht der Flügel aus Haut, die zwischen den Fingerknochen ausgestreckt wird. Diese Knochen sind ausgesprochen lang, bis auf den Daumen.« Dann betrachtete er den Sperling, der reglos auf dem Tisch lag. »Und bei dem Vogel gibt es keine Finger mehr, und der Flügel besteht aus Federn, die direkt aus dem Arm wachsen.«

»Gut«, sagte Miral ernst. »Ich denke, das reicht für heute. Ich möchte nämlich nicht, daß du darauf kommst, selber fliegen zu wollen.«

Tanis lächelte Miral an. »Ich fürchte, wenn ich das versuche, dann teile ich das Schicksal dieser beiden Kerlchen.« Er betrachtete nachdenklich die beiden stillen Tiere auf dem Tisch.

»Leben und Tod sind gleichermaßen Teil des natürlichen Kreislaufs«, meinte Miral. »Und wenn wir vom Tod lernen können, um so besser.« Er stellte das Tablett beiseite und goß jedem ein Glas Wein ein, damit sie beim Weiterreden etwas zu trinken hatten. »So, ich glaube, wir haben noch Zeit für eine weitere Geschichte. Was möchtest du hören?«

»Von Euch«, erwiderte Tanis. »Ich möchte Eure Lebensgeschichte hören.«

Es wurde wieder dunkler im Raum, als die klaren Augen des Zauberers den ernsten Gesichtsausdruck des Halbelfen wahrnahmen. Der Steinboden schien Kälte auszustrahlen, und Tanis fröstelte. Miral hatte offensichtlich eine Entscheidung getroffen. Er nahm einen Schluck Wein und fragte: »Was für eine Geschichte soll ich denn von mir erzählen?«

»Wie wär’s mit all Euren Reisen?« bohrte der Halbelf nach.

Miral drehte sich vom Tisch weg. »Das war nur zielloses Umherstreifen eines dummen, jungen Elfen«, sagte der Zauberer schulterzuckend. »Mein Leben war ziemlich uninteressant, bis ich endlich so schlau war, nach Qualinost zu gehen.«

Tanis trank noch einen Schluck Wein, dann einen weiteren, damit er sich traute, weiterzufragen. »Wie seid Ihr hierhergekommen? Ihr sagt, Ihr seid ein Silvanesti. Warum dann nach Qualinost?«

»Es ist schon Nachmittag. Kommst du nicht zu spät zu deiner Schießstunde?«

»Ihr habt gesagt, die Zeit reicht noch für eine Geschichte«, beharrte Tanis stur.

Miral seufzte. »Ich sehe, du gibst erst auf, wenn ich dich ein wenig über das Leben eines Zauberers aufgeklärt habe. Also, komm. Ich begleite dich zu deiner Stunde bei Tyresian. Wir können unterwegs reden.«

Sie leerten ihre Kelche, dann folgte Tanis Miral auf den Gang, wo der Magier sorgfältig die Tür verschloß. Auf Mirals Bitte hin war der Gang vor seinen Zimmern immer nur schwach beleuchtet. Es gab nie eine Wache – ebenfalls auf seine Bitte hin.

»Was weißt du von mir, Tanis?« fragte Miral, als sie langsam den Korridor entlanggingen.

Tanis paßte sein Tempo dem des Zauberers an. Beide machten wenig Lärm beim Gehen, denn der Halbelf trug lederne Mokassins, und der Magier hatte weiche Schuhe an. »Ich weiß, daß Ihr ein Freund vom Bruder der Stimme, Arelas, wart. Und daß Ihr hierhergekommen seid, als ich noch ein Kind war.« Tanis wurde rot. Er hoffte, der Magier würde nicht sagen, daß der Halbelf immer noch ein Kind war.

Miral jedoch schien ganz in die Betrachtung des Marmorfußbodens versunken zu sein. Sie waren schon so weit von den Zimmern des Zauberers entfernt, daß an den Wänden wieder Kerzen brannten, daher traten sie abwechselnd aus dem Licht ins Dunkle und dann erneut ins Licht. Endlich erzählte Miral weiter.

»Wir waren alte Freunde«, sagte der Zauberer rauh. »Du weißt, daß Arelas nicht bei Hof aufgewachsen ist?«

Tanis nickte. Dann wurde ihm klar, daß Miral das nicht sehen konnte, weil er die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen hatte. »Ja, natürlich«, sagte er.

»Arelas war der jüngste von den drei Brüdern. Solostaran war natürlich der älteste. Kethrenan war viele Jahre jünger, und Arelas nur wenige Jahre jünger als Kethrenan. Arelas wurde schon als ganz kleines Kind vom Hof fortgeschickt – angeblich, weil er kränklich war und hier nicht gedieh«, berichtete Miral. »Man schickte ihn zu ein paar Klerikern bei Kargod, mehrere Wochen Reise nördlich von hier, durch die Berge und über die Straße von Schallmeer. Kurze Zeit davor war ich als Zauberlehrling in die gleiche Gegend gekommen.

Man möchte meinen, daß zwei Elfen, die in einer Menschenstadt leben, leicht Freundschaft schließen, schon aus Einsamkeit«, fuhr Miral fort. »Aber so war es nicht. Wir lebten jahrelang in der Nähe derselben Stadt, begegneten uns auf dem Marktplatz und nickten uns zu, ohne je ein Wort zu wechseln. Er ging nie wieder heim nach Qualinost. Ich ging nie wieder heim nach Silvanost.« Er machte eine Pause, während der Tanis seinen Freund regelrecht nach den richtigen Worten suchen hören konnte. Als sie an einer Tür vorbeikamen, trat gerade Lord Xenoth, der alte Berater der Stimme, mit wehender, silbergrauer Robe heraus, ging jedoch ohne Gruß an ihnen vorbei.

»Xenoth hat mich von Anfang an abgelehnt«, murmelte Miral. »Warum, weiß ich nicht. Ich habe ihm nie etwas getan. Ich bin auch bestimmt keine Bedrohung für seine Stellung am Hof, und etwas anderes scheint ihn ja nicht zu kümmern.«

Sie kamen an einem Fenster vorbei, einem senkrechten Schlitz im Quarz, und Tanis wich einem großen Farn aus. »Aber irgendwann habt Ihr Arelas kennengelernt«, hakte er nach.

Miral bog rechts ab, und sie stiegen die breiten Steinstufen in den Hof hinunter. »Wir haben uns durch eine Magie kennengelernt. Eines Tages brach Arelas auf dem Marktplatz von Kargod zusammen. Er war ein schwächlicher Elf. Ich war gerade in der Nähe und eilte ihm zur Hilfe. Ich kenne viele Sprüche, um kleinere Unpäßlichkeiten zu lindern, auch wenn ich kein richtiger Heiler bin, wie du wohl weißt.« Tanis wollte eilig Einspruch erheben, doch Miral wehrte seine höflichen Versicherungen mit einer seiner typischen Gesten ab. Der Halbelf schwieg. Miral war wirklich kein bedeutender Zauberer, aber seine freundliche Art und seine Zugänglichkeit hatten ihn ziemlich beliebt gemacht.

»Jedenfalls«, erzählte Miral, »konnte ich Arelas’ Schmerzen lindern und habe ihn in den Tagen danach oft besucht. So wurden wir schließlich Freunde.«

Sie waren an der zweiflügeligen Tür angekommen, durch die man den Hof betreten konnte. Die Tür war aus poliertem Stahl – was sie in einer Zeit, wo Stahl durch die ständige Drohung des Krieges wertvoller war als Gold und Silber, doppelt kostbar machte. Jeder Flügel war so hoch wie zwei Elfen übereinander und so breit wie einer, auch wenn aufgrund der Kunst der Elfenhandwerker jeder Elf, egal wie schwach, die Türen aufdrücken konnte. Tanis machte eine auf. Das reichte, um zu sehen, wie Tyresian draußen hochmütig an einer Säule lehnte. Miral trat in die Schatten zurück, woraufhin der Halbelf die Tür wieder zuschwingen ließ.

»Wie seid Ihr dann nach Qualinost gekommen?« fragte Tanis. »Und was ist aus Arelas geworden?«

Miral schlug die Kapuze vom Gesicht zurück. »Vielleicht sollte das bis zum nächsten Mal warten. Es ist nicht die schönste Geschichte, wenn sich zwei Freunde trennen.« Aber bei Tanis’ Blick fuhr er fort: »Arelas beschloß, Qualinost zu besuchen und bat mich, ihn zu begleiten. Ich hatte immer schon die westlichen Elfenländer sehen wollen, darum war ich einverstanden. Wir hätten bestimmt in Qualinost, bei Hof, um eine Eskorte bitten können, aber Arelas wollte Qualinesti unerkannt betreten – warum, habe ich nie herausgefunden. Er war in vielerlei Hinsicht ein Geheimniskrämer.

Es war in den unruhigen Zeiten in den frühen Jahrhunderten nach der Umwälzung. Räuberbanden waren auf den Fernstraßen nicht selten. Aber Arelas versicherte mir, daß wir in unserer kleinen Reisegruppe sicher wären.«

Miral ließ den Kopf hängen. Er schien um Atem zu ringen. Tanis war von der Erzählung fasziniert, doch er wünschte, er hätte den Magier nicht gebeten, ein offensichtlich schmerzhaftes Erlebnis wieder aufzuwärmen.

Schließlich seufzte der Zauberer. »Arelas hatte unrecht. Wir segelten sicher von Kargod nach Abanasinia und reisten ohne Zwischenfall eine Woche über Land. Aber eine Tagesreise hinter Solace, bei Torweg, wurde unsere kleine Reisegruppe von menschlichen Banditen überfallen. Den einen Räuber konnten wir töten, aber sie brachten die Wachen um, die mit uns reisten.«

»Und Arelas?« fragte Tanis. Hinter der Tür hörte er ungeduldige Schritte und erriet, daß es Tyresian sein mußte, der ihn zur Bogenstunde holen wollte.

»Es gab eine… eine Explosion«, sagte Miral leise, wobei er noch einen Schritt zurücktrat, als die Tür aufging. »Arelas wurde schwer verletzt. Ich tat, was ich konnte. Er riet mir, hierher zu gehen, weil sein Bruder schon einen Platz am Hof für mich finden würde. Du siehst, selbst Arelas, der doch ein guter Freund war, wußte, daß meine Zauberkünste nicht ausreichen würden, um aus eigener Kraft eine Stellung zu finden.«

In diesem Moment stürmte Tyresian durch die Tür und brüllte: »Tanthalas Halbelf! Ich warte…« Er sah die beiden und hielt inne, um dann den Magier offenbar als unter seiner Würde einzustufen. »Du kommst zu spät!« fauchte er den Halbelfen an.

Tanis beachtete den zornigen Elfenlord zunächst nicht weiter. »Und so seid Ihr hierhergekommen«, sagte der Halbelf zu Miral.

Der nickte. »Und bin seitdem nicht mehr fortgegangen. Ich bin glücklich hier – vermutlich glücklicher, als ich in Silvanesti gewesen wäre. Trotzdem vermisse ich Arelas. Ich träume immer noch von ihm.«

Während Tyresian hinter ihm still vor sich hin schäumte, sah Tanis mitleidig zu, wie der Magier wieder die Stufen hinaufstieg.

»Nimm den Kopf hoch«, schimpfte Tyresian. »Halt diesen Arm gerade. Und die Füße stellst du so. Laß das Ziel nicht aus den Augen. Bei den Göttern, willst du jemanden umbringen?«

Drüben an der Seite lachte Lady Selena. Sie war eine eindrucksvolle Elfendame mit Veilchenaugen und dunkelblonden Haaren, aber ihr Gesicht strahlte eine beunruhigende Härte aus. Das große Vermögen jedoch, das sie beim Tod ihrer Eltern erben würde, wertete ihre Attraktivität in den Augen vieler Elfenlords wieder auf.

Tanis schoß schon seit zwei Stunden Pfeil um Pfeil in mehrere Heuballen, die auf Tyresians Anordnung hin vor einer kahlen Wand des riesigen Hofes zu einem Block aufgetürmt waren. »Auf diese Weise können wir einigermaßen sicher sein, daß du nicht einen vorbeigehenden Höfling triffst«, hatte Tyresian erklärt, wodurch er Litanas, Ulthen und Selena noch mehr zum Lachen gebracht hatte. Porthios saß auf einer Bank und beobachtete seinen Vetter, den Halbelfen, so intensiv, daß Tanis schon allein deshalb neun von zehn Malen daneben traf.

»Könnt Ihr Eure Freude nicht bitten zu gehen?« hatte Tanis Tyresian gebeten, der die Augen zusammengekniffen hatte.

»Glaubst du, sie werden eines Tages das Schlachtfeld für dich räumen, Halbelf, damit du sicher bist, daß keine kritischen Blicke auf dir ruhen?« hatte der Elfenlord laut erwidert. Litanas hatte die Nase gerümpft, und Tanis war rot geworden. Mit Ausnahme von Porthios schien die Gruppe Tanis’ Vorstellung äußerst unterhaltsam zu finden.

Tanis tat der Arm weh, und seine Finger wurden langsam taub. Seine überanstrengten Hände ließen einen Pfeil fallen, und er lief rot an, als die Zuschauer hinter ihm sich darüber lustig machten, wie er sich bemühte, den Pfeil vom Moos aufzuheben. Seine Finger weigerten sich einfach, zu tun, was er wollte. Denn eigentlich wollten sich seine Finger um Tyresians Hals legen und zudrücken. Tanis fiel es schwer, seine Wut zu unterdrücken. Lady Selena hatte zudem ein besonders aufreizendes Lachen – ein Kichern, das die ganze Tonleiter hochlief und wieder zum Anfangston zurückgurgelte. Das reichte, um ihm die Haare zu Berge stehen zu lassen, aber Litanas und Ulthen schienen es bezaubernd zu finden.

»Es reicht absolut nicht, dich gegen einen Feind in der Ferne verteidigen zu können, wenn dich ein Feind verletzen kann, der vor dir steht«, sagte Tyresian wichtigtuerisch.

Allerdings, dachte Tanis, verzog aber das Gesicht, als der Elfenlord ihm ein schweres Stahlschwert in die Hand drückte. Der Halbelf war gezwungen, es zu einer hastigen Parade gegen den hinterhältig grinsenden Tyresian zu erheben. Schwungvoll stellte Tyresian einen Fuß hinter den von Tanis und schlug ihm mit der flachen Klinge vor die Brust. Tanis fiel strampelnd hintenüber, wobei er gerade noch seinem eigenen Schwert ausweichen konnte.

Dann lag er keuchend da, litt unter dem schrillen Lachen der anderen und der Wucht des Falls, weigerte sich aber, zu den feinen Herrschaften zu sehen, die sich auf der Steinbank kugelten.

Plötzlich erhob sich Selenas Kreischen aus dem Lärm. »Er hat sich die Hosen zerrissen!« schrie sie und prustete wieder los. Tanis sah an sich herunter. Sein Schwert hatte wirklich die rechte Seite seiner Hose aufgeschlitzt, und beim Fall war sie noch weiter aufgerissen, wodurch ein Stück seines unanständig behaarten Oberschenkels den Blicken von Porthios’ Freunden ausgesetzt war. Schließlich hörte er eine neue Stimme zwischen den anderen, und Tanis sah, wie sich Porthios die Tränen aus den Augen wischte, als er aufstand und seine Freunde kopfschüttelnd durch die Stahltüren in den Palast zurückführte. Tyresian beugte sich herunter und hob mit Leichtigkeit Tanis’ Schwert auf, salutierte damit vor dem gestürzten Halbelfen und ging hinter seinen Freunden her. An der Tür blieb er jedoch stehen, während er sie mit starker Hand aufhielt.

»Bis morgen, Halbelf«, sagte er grinsend.

Von drinnen drang Selenas Lachen zu Tanis heraus.

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