Am anderen Morgen traf Flint Tanis auf dem Großen Markt; der Halbelf stand gerade vor einem Zelt mit dem Schild »Lady Kyanna, Seherin aller Ebenen«. Darunter stand auf einem kleineren Schild: »Sonderpreise möglich.« Das mitternachtsblaue Zelt war mit silbernen Umrissen von Monden und Sternbildern geschmückt. Ein paar junge Elfen, die den Kinderschuhen gerade erst entwachsen waren, kramten kichernd ihre Geldstücke heraus, schlüpften an Tanis und Flint vorbei und betraten das Zelt. Weihrauchduft drang aus dem Zelt, als sie die Plane zurückschlugen und eine tiefe Stimme ertönte: »Willkommen zu einem Blick in die Zukunft, schöne Elfen.«
»Seher«, schnaubte Flint. »Schwindler und Scharlatane, alle miteinander. Sag mal, hab ich dir schon erzählt, wie ich damals auf dem Herbstmarkt in Solace war? Warte mal…«, überlegte der Zwerg. »Das muß nicht lange nach dem Tag gewesen sein, wo ich im Wirtshaus ›Zur Letzten Bleibe‹ mit diesen zehn Räubern gekämpft habe.«
Tanis wehrte sich gegen Flints Versuche, ihn vom Zelt der Seherin wegzuziehen. »Ich hätte nichts gegen einen Blick in meine Zukunft«, sagte er. Der Zwerg schnaubte und zerrte ihn den gepflasterten Weg zwischen den Zelten und Ständen entlang. Der Halbelf schien plötzlich zu sich zu kommen. Nach dem letzten, sehnsüchtigen Blick zu Lady Kyannas Zelt ging ein Zucken über sein Gesicht. Er sah Flint an und fragte: »Was hast du gesagt?«
»Ein Zauberer wollte mir in Solace auf der Straße einen Trank verkaufen, der mich angeblich unsichtbar machen sollte«, erzählte Flint und ließ zu, daß der Halbelf an einem Elfenstand stehenblieb, wo ausgerechnet Schwerter auslagen. »Für mich sah es verdächtig nach klarem Wasser aus, aber er sagte mir: ›Natürlich ist es klar. Sonst würde es dich nicht unsichtbar machen, oder?‹ Tja, als ich dann mit dem Elixier nach Hause kam…«
Tanis, der gerade einen Schwertgriff streichelte, drehte sich um. »Das heißt, du hast es gekauft?« fragte er ungläubig.
»Aber bestimmt nicht, weil ich dem Zauberer auch nur ein Wort von seinem Gerede geglaubt habe«, sagte Flint gereizt mit blitzenden Augen und versuchte wieder, den Halbelfen von den ausgestellten Schwertern wegzuziehen. »Ich wußte die ganze Zeit, daß es Betrug war. Ich wollte nur einen Beweis, damit ich ihn vor der Wache als Scharlatan entlarven konnte.«
»Und was passierte, als du das Elixier getrunken hast?« fragte Tanis unbeteiligt, denn seine Aufmerksamkeit galt immer noch den Waffen. »Das sind schöne Schwerter. Ich könnte eins…«
»Schlampige Arbeit«, mischte sich Flint ein, zog den Elf weiter und ignorierte dabei den wütenden Blick des Waffenverkäufers. »Du brauchst kein Schwert. Wen solltest du denn in Qualinost bekämpfen? Jedenfalls kippte ich den Trank runter und dachte, ich könnte doch so einem dreisten Wirt ein oder zwei Krüge Bier wegtrinken. Er hatte mich erst ein paar Tage vorher betrogen: Da hatte er mir einen Krug verwässertes Zeug anstelle von richtigem Bier angedreht«, sagte Flint mit einem verschmitztem Grinsen auf dem Gesicht. Dann aber runzelte er die Stirn. »Bloß hat mich irgendwie der Rausschmeißer – bestimmt ein halber Hobgoblin, wenn er überhaupt irgend etwas war – ertappt und… he!« fluchte Flint, als er erkannte, daß er etwas mehr von der Geschichte preisgegeben hatte, als er wollte.
Wütend sah er Tanis an, doch der Halbelf sah ihn nur ernst an.
»Und…?« fragte Tanis.
»Und kümmere dich um deinen eigenen Kram!« schmollte Flint. »Hast du nichts Besseres im Kopf?«
Langsam, aber bestimmt führte Flint Tanis an den verlockenden Angeboten des Großen Markts vorbei – zum Laden des Zwergs. Sie traten schweigend ein, während Flint sich vergeblich verschiedene kleine Sätze zurechtlegte, bis er schließlich wortlos, weil er nichts zu sagen wußte, zum Tisch ging, wo etwas Langes, Schmales unter einem dunklen Tuch versteckt lag.
»Was ist das?« fragte Tanis näher tretend.
»Bloß etwas, das ich heute nacht fertig gemacht habe«, meinte Flint und zog das Tuch weg.
Darunter lag das Schwert und schimmerte wie ein gefrorener, harter Blitzstrahl. Mehrere Dutzend Pfeilspitzen lagen mattschwarz und äußerst scharf neben dem Schwert.
Tanis’ Augen strahlten beim Anblick des Schwertes. »Flint, das ist ein wahres Wunder«, sagte Tanis leise und streckte die Hand aus, um über das kühle Metall zu streichen.
»Gefällt es dir?« fragte Flint und zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Es ist ein Geschenk, weißt du.«
»Für…« Der Halbelf brach ab, und sein Gesicht versteinerte. Einen entsetzten Augenblick hatte der Zwerg Angst, das Schwert könnte Tanis nicht gefallen. Dann sah er, daß Tanis die Hände zu Fäusten ballte, und erkannte, daß sein Freund darum kämpfte, nicht von seinen Gefühlen überwältigt zu werden. »Oh, das kann ich nicht annehmen«, sagte der Halbelf schließlich leise und betrachtete verlangend die Waffe.
»Natürlich kannst du das«, sagte Flint gereizt. »Du solltest es lieber tun, Junge.«
Tanis zögerte noch ein paar Momente, dann griff er zögernd nach dem Schwert. Schließlich umfaßte er den Griff. Er war kühl und glatt und fühlte sich irgendwie genau richtig an. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Dieses Schwert war mehr als eine Waffe. Es war eine kalte Schönheit.
»Danke, Flint«, flüsterte er.
Der Zwerg tat den Dank des Halbelfen mit einer Geste ab. »Sieh nur zu, daß du das Ding benutzt, dann bin ich glücklich«, sagte er.
»O ja«, versprach Tanis nachdrücklich, »das werde ich.«
Selbst nach all diesen Jahren unter Elfen verspürte Flint noch immer Ehrfurcht, wenn er den Sonnenturm betrat, und er unterließ es nie, einen Augenblick vor den vergoldeten Türen zum Hauptsaal stehenzubleiben, die Augen zu schließen und schweigend den Baumeistern der Zwerge Respekt zu bezeugen, die ihn vor so langer Zeit erbaut hatten.
Heute nachmittag schwangen die großen Türen vor ihm auf, und die Cherubim im Relief grinsten eine Sekunde lang durchtrieben, als sie zur Seite wichen und den Zwerg aus den Augenwinkeln ansahen. Flint schüttelte den Kopf und trat ein, wobei er darauf achtete, nicht zu der sechshundert Fuß hohen Decke hochzustarren.
Nicht, daß mir ein bißchen flau im Magen wird, wenn ich ganz da hoch schaue, nein, nein, dachte Flint. Ich will bloß nicht alles verderben, indem ich jedesmal, wenn ich hier reinkomme, dastehe und es anstarre.
Die meisten Höflinge waren schon da, wie Flint feststellte, doch die Stimme selbst fehlte noch, ebenso Tanis. »So sicher, wie ein Hammer schwer ist, kommt er zu spät«, fluchte Flint leise und schüttelte erneut den Kopf, wobei sein Bart wackelte. Nachdem ihm klar war, daß er eine Weile ohne Begleitung sein würde, löste er sich von den versammelten Elfen, lehnte sich an eine der Säulen um den Saal herum und wartete darauf, daß die Audienz losging.
Prächtig gewandete Höflinge in grünen, braunen und rostroten Seidentuniken, die mit Gold- und Silberfäden bestickt waren, standen grüppchenweise im Saal herum, und ihre Unterhaltungen hallten in den oberen Bereichen des Turms wider. Als Flint so an der Säule stand, fiel ihm auf, daß sich viele Gespräche um die Unfähigkeit der Palastwache drehte, die den Tylor nicht erwischte.
»Wie schwer kann es denn sein, ein zwanzig bis dreißig Fuß langes Monster zu finden?« beschwerte sich ein alter Elf. »Zu meiner Zeit hätte man das Vieh schon vor Tagen erlegt.«
Sein Begleiter versuchte, den Zorn des Alten zu besänftigen. »Der Wald ist groß und voller Magie. Die Stimme sollte einen Spezialtrupp mit einem Magier und den besten Männern aufstellen, damit die Bestie endlich aufgespürt und gefangen wird.« Der alte Elf nickte zustimmend.
»Lauter Experten«, murmelte Flint.
Porthios’ Freunde, Ulthen und Selena, schwebten vorbei und stellten sich auf die andere Seite der Säule. Die Frau hatte ihren schlanken Arm um die Taille des Elfenlords gelegt, doch ihre Augen ruhten die ganze Zeit nicht auf ihrem Begleiter, sondern auf Litanas, der als der neue Assistent von Lord Xenoth neben diesem vor dem Podium stand. Flint bewegte sich unauffällig etwas weiter, weil er hoffte, sie würden ihn nicht bemerken. Er wußte, daß Selena, Litanas und Ulthen zu den Elfen gehörten, die keine Ausländer am Hof haben wollten, auch wenn die blonde Selena es selten versäumte, von Flints »wunderbarer Zwergenkunst« zu schwärmen, wenn sie den Zwerg erblickte.
Ihre schneidende Stimme war gut zu vernehmen.
»Also, Litanas hat mir erzählt, daß Tyresian Xenoth gedroht hat, ihm Steine in den Weg zu legen, falls der Berater nicht aufhören sollte. Aber Litanas wußte nicht genau, worum es bei dem Streit ging. Ich glaube, Xenoth verheimlicht Litanas manches, und das ist einfach ungerecht, wo Lord Litanas doch einer der intelligentesten…«
Ulthen versuchte, sie zum Schweigen zu bringen. »Selena, jeder hört…«, sagte er.
»Oh, Ulthen, laß mich in Ruhe. Jedenfalls hat Litanas gesagt…«
Ulthen schnitt eine Grimasse, und Flint bemerkte, daß der junge Lord diese Litanei wohl häufig zu hören bekam: »Litanas hat gesagt…«
»Also, ich habe gehört, daß die Stimme das Kentommen verschieben will, bis der Tylor gefangen ist.«
Ulthens Stimme wurde allmählich ungeduldig »Ach, Selena, mach dich nicht lächerlich.«
Ihre Stimme erhob sich zu einem Kreischen. »Lächerlich! Was glaubst du, wie sicher es ist, wenn von überall her Leute über genau die Wege kommen, die wegen des Tylors so gefährlich sind?«
Ulthen – und Flint auf der anderen Seite der Säule auch – mußten zugeben, daß Selena in gewisser Hinsicht recht hatte. Vielleicht ging es bei der Bekanntmachung nur um dieses Thema. Es würde bestimmt das erste Mal sein, daß ein Kentommen verschoben wurde, denn die Tradition schrieb vor, daß die Zeremonie am neunundneunzigsten Geburtstag des Lords stattfinden mußte, und es war schon eine arge Krise notwendig, um daran zu rütteln.
In diesem Moment schwangen die goldenen Türen auf, und die Stimme betrat den Raum, gefolgt von Laurana. Der Widerschein des Sonnenlichts, der den Turm füllte, ließ Solostarans grüngoldene Gewänder schimmern, während er königlich in den Saal schritt. Flint ging auf seinen Freund zu.
Die Stimme begrüßte verschiedene Anwesende und tauschte Höflichkeiten aus, doch Flint merkte sofort, daß heute etwas anders war. Wenn die Stimme der Sonne sich in den letzten zwanzig Jahren, seit Flint sie kannte, überhaupt verändert hatte, dann waren dem Zwerg diese Veränderungen nicht bewußt. Die Stimme stand so aufrecht wie der Turm selbst, sein Gesicht war so alterslos wie der Marmor an den Innenwänden. Aber heute lag in den sonst so klaren und warmen Augen ein bedrängter Ausdruck.
»Meister Feuerschmied«, sagte die Stimme, als sie sich umdrehte und den Zwerg geduldig warten sah, der die Unterhaltung der Stimme mit den Höflingen nicht stören wollte. »Ich bin froh, daß Ihr kommen konntet.«
»Ich bin immer da, wenn Ihr es wünscht«, sagte Flint. Zum ersten Mal bemerkte er eine Falte auf der glatten Stirn der Stimme.
Die Stimme lächelte dem Zwerg matt zu. »Danke, Flint«, sagt Solostaran, und der Zwerg war ehrlich erstaunt. Soweit er sich erinnern konnte, war es das erste Mal, daß die Stimme ihn bei einer öffentlichen Audienz mit dem Vornamen ansprach. »Ich fürchte, ich werde heute einen Freund wie dich brauchen.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Flint.
»Freundschaftsbande sind stark, Flint, aber manchmal binden sie zu fest.« Der Blick der Stimme glitt über die Anwesenden, blieb an Lord Xenoth und Litanas hängen und schweifte dann ins Leere.
»Oh, ich sehe schon«, meinte Flint schroff. »Dann lasse ich Euch lieber allein.«
»Nein, Meister Feuerschmied«, sagte die Stimme und legte Flint die Hände auf die Schultern, bevor der Zwerg gehen konnte. Ein verstecktes Lächeln umspielte kurz Solostarans Lippen. »Ich spreche von einer anderen Sorte Freundschaft, der zwischen zwei Häusern. Obwohl mir solche Bande in der Vergangenheit geholfen haben, bedauere ich, welchen Preis ich heute für diese Freundschaft zahlen muß.«
»Aber was soll das sein?« fragte Flint. Was konnte man so Abscheuliches für einen Freund tun?
Die Stimme schüttelte leicht den Kopf. »Ich fürchte, das wirst du früh genug erfahren. Aber versprich mir, Flint, daß du dir später die Zeit nehmen wirst, mit einem alten Elfen einen Schluck Wein zu trinken.«
Die Stimme lächelte wieder, als Flint einwilligte. Dann ging Solostaran zum Podium in der Mitte des Saals. Er bestieg das Podium, woraufhin die Höflinge zu reden aufhörten und ihre Aufmerksamkeit auf die Mitte richteten. Wo war Tanis, fragte sich Flint.
Porthios stand zur Linken seines Vaters neben Lord Xenoth und Litanas. Er versuchte offensichtlich, so majestätisch auszusehen wie die Stimme, wirkte auf Flint jedoch eher wie ein aufgeblasener, junger Gockel. Sein jüngerer Bruder, Gilthanas, stand rechts neben dem Podium bei der Ehrengarde. Die Wachen trugen schwarze Lederwesten, auf denen mit Silberfäden die Symbole von Sonne und Baum aufgestickt waren. Es war dasselbe Symbol, das die Flagge geschmückt hatte, die Kith-Kanan mit sich trug, als er zum ersten Mal den Wald von Qualinesti betrat.
Gilthanas hatte sich vor einem knappen halben Jahr der Garde angeschlossen. Er war nach wie vor nicht viel mehr als ein Junge, nur wenig älter als Laurana, aber Flint wußte, daß Porthios lange und zäh mit dem Hauptmann der Wache um diese Position für Gilthanas gerungen hatte. Obwohl Gilthanas sich nach Kräften bemühte, die straffe Haltung der anderen Wachen nachzuahmen, während er sein Schwert zum traditionellen Salut vor sich hielt, schien die Waffe einfach zu schwer für seine zierliche Gestalt. Flint schüttelte den Kopf. Er hielt es dem Jungen zugute, daß er sich so um Stärke bemühte, doch Flint war sich nicht ganz sicher, was Gilthanas eigentlich beweisen wollte.
Gerade als die Stimme die Hände erhob, um den Hof zu begrüßen, wurde Flint von hinten geschubst. Er fuhr zornig herum, um dem Trampel seine Meinung zu sagen, der nicht aufpassen konnte, wo er hintrat.
»Tanis!« flüsterte er erleichtert. Endlich war auch sein Freund da, Tanis keuchte etwas, und Schweiß glänzte auf seiner Haut. »Wie in Reorx’ Namen kommst du dazu, hier so spät reinzutrampeln?« flüsterte er hitzig.
»Pst, Flint«, sagte Tanis leise und wies zum Podium, wo die Stimme mit ihrer Ansprache begann.
»Ich danke Euch allen, daß Ihr heute hierhergekommen seid«, sagte die Stimme zu den Edlen, die um das Podium herum standen. »Ich möchte Euch große Neuigkeiten mitteilen, die hoffentlich Euch allen Grund zur Freude gegeben werden. Zuerst jedoch muß ich gestehen, daß ich noch einen aktuelleren Grund hatte, Euch alle einzuladen.«
Die Stimme lächelte. »Ihr wißt natürlich, daß ein räuberisches Monster das Land um Qualinost heimsucht. Mehrere von uns sind diesem Wesen zum Opfer gefallen, und die Bauern jener Gegend berichteten, daß sie immer mehr Vieh vermissen. Meine Berater haben mir erzählt, daß diese Bestie, ein Tylor, ohne Zweifel an einem der Wege nach Solace einen Bau haben muß. Die Truppen, die zur Jagd nach dem Monster losgeschickt wurden, konnten es bisher nicht aufspüren, aber sie haben Spuren des Monsters gefunden und glauben, daß sie das eigentliche… Jagdrevier des Untiers eingekreist haben.«
Die Züge der Stimme wurden weicher, als Solostaran die Höflinge ansah.
»Darum bitte ich um Freiwillige, die sich zusammenschließen, um den Tylor zu jagen. Weil die Kreatur gewisse magische Fähigkeiten hat, war der Zauberer Miral freundlicherweise einverstanden mitzugehen.« Miral, der gegenüber von Flint neben einer Säule stand, nickte leicht, verschränkte die Arme und steckte sie tief in seine weiten Ärmel. »Und Lord Tyresian hat zugesagt, die Führung des Jagdtrupps zu übernehmen.« Tyresians kurzes Lächeln wirkte mehr wie eine Grimasse als wie ein Grinsen.
»Ich hoffe, daß die Besten von Euch sich dieser Gruppe von Freiwilligen anschließen werden, um in das Gebiet zu ziehen, wo wir den Bau des Tylors vermuten. Gibt es solche Freiwilligen?«
Porthios sprach als erster. »Ich komme mit.«
Die Stimme zögerte beim Anblick des Erben. Lord Xenoths Silberrobe bauschte sich auf, als er aufgeregt einwarf: »Seid Ihr sicher, Stimme, daß es klug ist, wenn sich der künftige Erbe einer solchen Gefahr aussetzt?« Porthios erstarrte und errötete. Auf dem Gesicht der Stimme stand Mitgefühl.
»Mein Sohn steht kurz vor seinem Kentommen, Lord Xenoth. Ich glaube, es wäre ein schwerwiegender Fehler, ihm das Recht abzusprechen, mit den anderen Männern mitzugehen.«
Porthios entspannte sich und warf seinem Vater einen dankbaren Blick zu. Den Berater hingegen funkelte er wütend an.
»Dann komme ich auch mit. Um ihn zu beschützen«, meldete sich Lord Xenoth wieder und nahm mit seinem gebrechlichen Körper eine rachelustige Haltung ein. Tyresian lachte, und mehrere Höflinge schlossen sich dem an.
Jetzt war es an Miral, sich einzumischen. »Bei allem Respekt, Stimme«, sagte der Zauberer. »Ich denke, die Jagd sollte von den Jungen und Starken betrieben werden, nicht von den Älteren und Kranken.«
Flint fühlte Ärger in sich aufsteigen. Auch wenn er es gut ohne den launischen Fremdenhasser, Lord Xenoth, aushalten konnte, sah dem Magier eine solche Gemeinheit in aller Öffentlichkeit nicht ähnlich – besonders gegenüber einem so verdienten Mitglied des Hofs. Xenoth machte den Mund auf, um etwas dagegen zu sagen, doch die Stimme brachte seinen Berater mit einem herrischen Blick zum Schweigen und sagte ruhig: »Ich werde keine Freiwilligen abweisen, Miral.«
Xenoth durchbohrte den Magier mit Blicken, doch der hielt dem Blick ungerührt stand.
Selena stieß Ulthen an, so daß der Lord sich nervös meldete. Daraufhin trat natürlich auch Litanas vor. Bald hatte ein halbes Dutzend anderer ihre Namen auf die Liste gesetzt. Plötzlich merkte Flint, wie Tanis sich neben ihm rührte. »Und ich, Stimme!« rief er.
»Tanis!« protestierte Laurana.
»Tanis?« echote Flint leiser.
»Wo soll ich sonst mein neues Schwert und die Pfeilspitzen ausprobieren?« flüsterte Tanis seinem Freund zu.
Lord Tyresian bedachte den Halbelfen mit einem eisigen Blick. »Schlimm genug, daß ich einen nutzlosen, alten Greis in meiner Truppe habe, aber einen Halbelfen?«
Das war genug. »Und einen Zwerg, Lord Tyresian«, mischte sich Flint ein.
Was dann geschah, hätte unter anderen Umständen komisch sein können. Die Elfen zwischen Flint und Tyresian wichen auseinander, bis der Raum zwischen den Blicken offen da lag. Elfenlord und Zwerg lieferten sich ein kurzes Blickgefecht, bis Solostaran die Aufmerksamkeit der Versammlung wieder auf sich zog. »Ich nehme euer Angebot an, Meister Feuerschmied.« Als Tyresian den Mund zum Widerspruch öffnete, sagte die Stimme bloß: »Noch bin ich die Stimme, Lord Tyresian.«
»Was sollte denn das nun wieder heißen?« fragte Selena Ulthen deutlich flüsternd.
Tyresian unterwarf sich eiligst. »Wie Ihr befehlt, Stimme. Ihr wißt es natürlich am besten.«
Als sich keine weiteren Stimmen mehr meldeten, befahl Tyresian den Freiwilligen, sich am nächsten Morgen eine Stunde nach Sonnenaufgang am Stall des Palastes einzufinden. Dann drehte er sich wieder zur Stimme um, und die anderen Höflinge folgten seinem Beispiel.
Anscheinend war der Augenblick für die Hauptankündigung gekommen.
»Ihr alle kennt natürlich meine Tochter, Lauralanthalasa Kanan«, sagte Solostaran. »Und Ihr wißt auch, daß die Zeit nicht mehr fern ist, wo sie kein Kind mehr sein wird. Daher ist es angebracht, ihr und Euch allen ihre Zukunft kundzutun, und ich habe den heutigen Tag gewählt, um das zu tun.«
Er streckte die Hand aus, und Laurana kam zu ihm. Ihr grünes Kleid raschelte, als sie über den Boden schwebte, und ihr Haar schimmerte im Sonnenlicht wie geschmolzenes Gold, als sie vor dem Podium stehenblieb. Sie verneigte sich anmutig vor ihrem Vater und dann vor den Höflingen. Suchend durchforstete ihr Blick die Menge, bis sie den Halbelfen fand. Flint merkte, wie Tanis mit den Schultern zuckte, und fragte sich, was da vor sich ging.
Flint beobachtete Tanis’ Gesicht. Dieser fixierte Laurana. Er fingerte an einem kleinen Ding in seiner Hand herum, aber Flint konnte nicht genau sehen, was das war. Laurana tappte anscheinend ebenso wie der Rest des Hofes im dunkeln über das, was nun folgen sollte. Nur Tyresian erschien zuversichtlich. Xenoths runzliges Gesicht sah unendlich verstimmt aus.
Solostaran lächelte seine Tochter an, wirkte jedoch etwas bedrückt, als er sich wieder dem Hof zuwandte. »Zur langjährigen Ehre und Freude meiner Familie zählt das Dritte Haus von Qualinost zu unseren engsten Freunden. In der Tat war es der Lord des Dritten Hauses, der mir in den finsteren Jahren nach der Umwälzung seine starke Hand lieh und mir dadurch half, den Frieden zu sichern, den wir hier in unserer Heimat genießen.« Die Höflinge nickten; das wußten sie.
»Damals hatte der Lord des Dritten Hauses – dessen Namen ich nur noch in der Erinnerung ehren kann, da er die Grenzen dieser Welt inzwischen überschritten hat – einen jungen Sohn, und aus Dankbarkeit versprach ich ihm ein großes Geschenk für diesen Sohn. Der Sohn des Lords vom Dritten Haus steht heute zwischen uns und ist Euch inzwischen selbst als Lord dieses ehrenvollen Hauses bekannt: Lord Tyresian.«
Der schöne, große Elfenlord in der prächtigen, weinroten Tunika verbeugte sich tief vor der Stimme. Zu tief, fand Flint, wenn es so etwas gab. Es war nur, weil die Geste mehr Schau als ernsthafte Ehrenbezeugung zu sein schien.
»Stimme, ich danke Euch, daß Ihr mich an diesem glücklichen Tag aufgerufen habt«, sagte Tyresian. Er warf einen Seitenblick auf Laurana, doch die Elfenfrau beachtete ihn kaum. Ihre Augen hingen an Tanis.
Die Stimme nickte Tyresian zu und hob dann die Arme, als wollte er sowohl den Elfenlord als auch seine Tochter umfassen. »Dann will ich Euch Gelegenheit zum Feiern geben«, sagte er mit einer Stimme, so klar wie eine Trompete. »Denn an diesem Tag ist es mir Pflicht und Freude zugleich, das große Geschenk bekanntzugeben, das Lord Tyresian vor langer Zeit zugesagt wurde. So soll ganz Qualinost erfahren, daß von heute an die Hand meiner geliebten Tochter, Lauralanthalasa, Lord Tyresian vom Dritten Haus versprochen ist, bis zu dem Tag, an dem die beiden zu Mann und Frau verbunden werden.«
Überraschtes Flüstern machte sich breit, dann folgte vereinzelter Applaus, der rasch stärker und lauter wurde. Tyresian schien vor aller Welt zu strahlen, doch Flint sah, wie erschöpft die Stimme wirkte. Miral war aufs Podium gestiegen – entgegen jedem Protokoll –, wo er die Stimme stützte, um sie vor dem Stolpern zu bewahren. Der Magier warf Tyresian einen finsteren Blick zu.
Flint sah zu Tanis, doch der Halbelf schien den Lärm um sich her kaum zu bemerken. Er starrte nur mit glasigen Augen geradeaus und umklammerte fest den kleinen Gegenstand, mit dem er gespielt hatte.
»Aber…«, fing Laurana an und hielt inne. Ihr Bedürfnis, sich klar auszudrücken, kämpfte gegen den Respekt vor der Etikette und die Liebe zu ihrem Vater. »Warum hast du mir nicht gesagt…?« Sie brach ab und schwieg. Der Applaus hörte schlagartig auf, und Spannung breitete sich im Turm aus.
»Ich dachte…« Laurana setzte wieder an und blickte verzweifelt zu Tanis. »Wir haben uns doch schon lange ein Versprechen gegeben…«
Die Höflinge drehten sich teils schockiert, teils erfreut, teils auch einfach von der unerwarteten Wendung überrascht, nach dem verunsicherten Halbelfen um.
Tyresian sah verärgert, aber selbstsicher aus. Porthios kniff die Augen zusammen und sah den Halbelfen drohend an. Das Gesicht der Stimme war voller Sorge; wenig ist einem Elfen so wichtig wie die Ehre. Laurana sah Tanis weiterhin flehend an.
Tanis zwinkerte plötzlich wie aufgeschreckt. »O nein«, sagte er so leise, daß nur Flint es hören konnte.
»Ist das so, Tanis?« fragte die Stimme. »Seid Ihr beide verlobt, ohne mein Wissen und Einverständnis?«
Der Halbelf sah sich wild um. Nur Flints Augen verrieten Mitleid. »Ich…«, sagte er. »Ja, aber… das ist lange her.«
Flint rückte näher und faßte seinem Freund mit fester Hand an den Ellbogen. »Paß auf, was du sagst, Junge«, zischte er. »Oder sei still.«
Aber Tanis stammelte: »Wir waren doch Kinder… nichts Ernstes. Das dachte ich zumindest.«
Laurana schnappte nach Luft und verließ dann eilig die Versammlung, ohne noch irgend jemanden anzusehen. Nur ihre Schritte hallten durch den Saal. Tyresian folgte ihr.
Die Audienz war beendet.