22 Rettung naht

»Flint! Kannst du mich hören?« Tanis rüttelte den Zwerg vorsichtig, dann stärker, doch Flint rührte sich nicht. Seine Hand lag immer noch um den Dolch. Die Finger waren dunkel von geronnenem Blut.

»Flint!«

Tanis schüttelte den Zwerg ein letztes Mal, woraufhin Flint plötzlich laut stöhnte. Tanis atmete erleichtert auf.

»In Reorx’ Namen«, stöhnte Flint schroff, »kannst du einen armen, toten Zwerg nicht in Ruhe lassen?«

Tanis legte Flint den Arm unter den Kopf und half dem Zwerg, sich aufzusetzen, damit er leichter atmen konnte.

»Flint«, sagte der Halbelf freundlich, »du bist nicht tot.«

»Wer hat dich denn gefragt«, fragte Flint gereizt, aber schwach. »Jetzt laß mich hier liegen, damit ich in Frieden sterben kann, ja? Dieses ganze Gerüttel macht mir Kopfschmerzen.« Der Zwerg stöhnte wieder und sank in Tanis’ Arm zurück. Ein erleichtertes Grinsen ging über das Gesicht des Halbelfen.

»Du kannst nicht ernstlich verletzt sein«, flüsterte der Halbelf. »Du beklagst dich ja noch.«

Behutsam, damit die Wunde nicht wieder anfing zu bluten, hob Tanis Flint hoch und legte den Zwerg so vorsichtig wie möglich auf sein Feldbett. Er untersuchte die Wunde, beschloß dann, daß er den Dolch nicht ohne Hilfe entfernen wollte, und lief los, um jemanden zu holen.

Vor dem Laden kämpfte er mit sich, wer das sein sollte – Miral oder Eld Ailea. Miral war vollauf mit Kentommen-Vorbereitungen beschäftigt, aber der Turm lag näher als das Haus der Hebamme im Westteil. Das gab den Ausschlag.

Zehn Minuten später kehrte Tanis rennend mit dem keuchenden Magier im Schlepptau zurück. Bald hatten Tanis und Miral den Zwerg mit einigen Kissen abgestützt und das Messer entfernt. Flints Atem ging leichter.

»Keine Ärzte«, murmelte er. »Zu spät.« Wie von ferne sprach er: »Ich sehe schon Reorx’ Schmiede.«

»Das ist deine Schmiede, Flint«, sagte Tanis.

»Du kannst einem wirklich auf die Nerven gehen«, nörgelte der Zwerg.

»Hier«, sagte Miral, der hinter Tanis stand. Er reichte dem Halbelfen eine dampfende Tasse. Auf dem Wasser trieben kleine Blättchen. »Laß ihn das trinken.«

Tanis hielt Flint die Tasse unter seine Knubbelnase, damit der Zwerg daran schnüffeln konnte. Es roch nach bitteren Mandeln. »Das ist aber kein Bier«, meinte er anklagend.

»Stimmt«, sagte Miral. »Aber das hier ist besser für dich.«

»Unmöglich«, schmollte der Zwerg. Trotzdem holte er tief Luft und leerte den Becher.

Als Miral gerade dabei war, die Wunde zu säubern und zu verbinden, traf Eld Ailea ein, die einer der Kentommen-Artisten geholt hatte, den Tanis mit einer Stahlmünze bestochen hatte. Die Dolchwunde erwies sich als relativ leicht zu versorgen, auch wenn Flint die Sache erschwerte, indem er die ganze Zeit herumschimpfte und zappelte. Überraschenderweise schien ihn die Versorgung eher zu ärgern, als daß sie ihm Schmerzen bereitete. Miral krempelte die Ärmel bis zu den Ellbogen hoch, seifte seine Unterarme ab und verschloß die Wunde mit sieben Stichen – begleitet von sieben Zwergenflüchen und sieben an Eld Ailea gerichteten Zwergenentschuldigungen. Dann trug Miral eine walnußgroße Portion Salbe auf und verband die behaarte Zwergenbrust mit einer weichen Leinenbandage.

»Es geht mir gut!« rief Flint schließlich. »Jetzt hör aber auf!«

Daraufhin erklärte Miral den Zwerg für halbwegs wiederhergestellt und wollte wieder zum Turm zurückkehren. Der Magier krempelte seine Ärmel wieder herunter. Seine rechte Hand war fast verheilt, aber die Finger, die ihre Nägel verloren hatten, sahen immer noch häßlich aus.

»Ich muß eine Schauspielertruppe abhören, die die Menge mit den letzten Worten von Kith-Kanan unterhalten will«, sagte er und zog eine Grimasse.

»Was ist schlecht daran?« fragte Tanis.

»Ich bin mir nicht sicher, daß er welche gesagt hat«, erklärte der Magier mit einer neuerlichen Grimasse. Miral gab Tanis ein Kuvert mit Kräutern und trug ihm auf, dem Zwerg stündlich daraus eine Tasse Tee zu kochen und es ihm einzuflößen, »und wenn du ihn dazu festbinden mußt.«

»Wenn er sich zu sehr anstellt, dann misch es ihm ins Bier«, flüsterte Miral Tanis an der Tür zu.

»Ich verspreche, daß ich mich anstellen werde!« schrie Flint vom Feldbett herüber, wo Eld Ailea erfolglos versuchte, ihn zum Schlafen zu bringen. Daraufhin ging der Magier.

Eld Ailea versuchte, Flint mit einem Wiegenlied zu beruhigen, das bei Kindern ihrer Aussage nach Wunder wirkte. Er war sich nicht so sicher, wie er das zu verstehen hatte, lauschte aber ihrer warmen Altstimme, als sie die alte Melodie anstimmte.

»Schlafe, schlafe, kleiner Elf«, sang sie, »schlaf bis zum Morgen bei den Sternen, kleiner Elf. Reite durch die Wälder, reite durch die Bäume, erwach morgen früh mit einem Lächeln, kleiner Elf. – Das ist ein sehr altes Lied. Meine Mutter hat es mir schon vorgesungen«, sagte sie und schaute dann zu Tanis, der die Falle untersuchte, die die Dolche geworfen hatte. »Und ich habe es dir und Elansa vorgesungen, als du erst ein paar Minuten alt warst, Tanthalas.«

Tanis lächelte. »Ich wette, es gefiel mir damals genausogut wie heute«, sagte er.

»Schmeichler«, meinte Ailea. »Mit deiner silbernen Zunge wirst du keine Probleme haben, eine Elfenfrau zu finden.«

Tanis wurde rot und beschäftigte sich noch eifriger mit der Falle. Vorsichtig entschärfte er sie und baute sie zur genaueren Untersuchung ab. »Wer diese Falle gebaut hat, wußte, was er tat, Flint. Es ist eine ausgeklügelte Konstruktion, die perfekt gezielt war. Ein Glück, daß der Mechanismus beim zweiten Dolch geklemmt hat. Deshalb hat er zuerst nur einen nach dir geworfen. Ein paar Augenblicke später ist der zweite dann durch die Spannung losgeschnellt.«

Tanis vermied es, die alte Hebamme anzusehen. »Und wenn ich eine Menschenfrau finde, Eld Ailea?« meinte er schließlich mit sorgsam beherrschter Stimme.

Ein Schatten glitt über Aileas katzenartiges Gesicht, als sie Flint wieder die Decke um sein bärtiges Kinn zog. »Das wird dir auf die Dauer hauptsächlich Kummer bereiten, Tanthalas«, sagte sie. »Menschen sind schwach, und selbst wenn du eine Liebste findest, ist es schrecklich zuzusehen, wie sie alt wird, während du jung bleibst. Nur eine starke Liebe kann das verkraften.« Sie hörte sich müde an.

Er blickte von der Falle hoch. Runde braune Augen trafen mandelförmige braune Augen, und ein Funke sprang zwischen den beiden Elfenmischlingen über.

»Versuch, daran zu denken, Tanthalas«, sagte Ailea traurig.

Tanis schluckte. »Ich werde es versuchen.«

»He!« meckerte Flint von seinem Feldbett. »Wird es nicht Zeit für mein Bier?«

Da vergaß Eld Ailea ihren Kummer und klopfte dem Zwerg lachend auf die heile Schulter. »Du tust mir gut, Meister Feuerschmied.« Mit frischer Energie huschte sie zum Tisch, wo Tanis die Tüte mit den Kräutern hingelegt hatte.

»In der Quelle steht ein Eimer Bier«, erklärte Flint hilfsbereit.

Nach kurzem Nachdenken beschloß Eld Ailea, daß Bier dem Zwerg beim Einschlafen helfen könnte – und ihn vor allem ruhig halten würde. Also holte sie den fast leeren Behälter aus der Quelle und goß den Rest in einen Krug. Als sie das Päckchen mit den Kräutern aufmachte, ging ein befremdlicher Ausdruck über ihre klaren Züge. Dann trug ihr Gesicht wieder die übliche Freundlichkeit zur Schau. »Flint, hat Miral dir aus diesen Blättern einen Tee gekocht?« fragte sie beiläufig.

»Ja«, sagte Flint. »Mit Wasser. Schmeckte scheußlich. Mit Bier ist es bestimmt viel besser.« Er grinste zutraulich über seinen weißen Verband hinweg. »Viel Bier.«

Eld Ailea stand einen Augenblick mit dem Päckchen da. Dann machte sie es wieder zu und steckte es in eine Tasche des grauen Mantels, den sie bei ihrer Ankunft über die Bank geworfen hatte. Aus einer anderen Tasche zog sie, ohne daß Tanis und Flint es merkten, ein kleines Säckchen, das mit einem Lederband zugebunden war, und maß einen Teelöffel von dem Pulver darin ab. Während Tanis dann den Rest des Ladens nach weiteren Fallen absuchte, mischte Ailea das Pulver in das Bier und gab es dem Zwerg zu trinken. Er kippte es mit einem Zug herunter.

Was es auch war, es bekam ihm nicht. Flint fiel in einen festen Schlaf, erwachte jedoch bald darauf, um sich in den leeren Biereimer zu übergeben, den Ailea am Bett stehengelassen hatte. Dann fiel der Kopf des Zwergs zurück, und er schlief weiter, wobei sich sein grauschwarzer Bart mit seinen tiefen Atemzügen hob und senkte.

Tanis stellte sich zu Ailea an Flints Bett. Die zarte Elfin sah mit einem leichten Lächeln auf den Zwerg hinunter, das ihre Erschöpfung kaum verbergen konnte.

»Wird er wieder gesund?« flüsterte Tanis.

»Aber sicher«, sagte sie. »Meine Kräuter bringen ihn wieder auf die Beine. Zumindest funktionieren sie bei stillenden Müttern…« Als sie Tanis’ überraschten Blick bemerkte, tätschelte sie seinen Arm. »Nur ein Scherz, Tanis. Flint wird wieder gesund.«

»Soll ich dich nach Hause bringen?« fragte Tanis. »Ich bleibe heute nacht bei ihm. Ich kann ihm Mirals Tee geben, wenn du ihn hier läßt.«

Da hob Eld Aileas den Kopf, und sie sah Tanis tief in die Augen. »Im Moment sollte er lieber überhaupt nicht allein gelassen werden«, sagte sie. »Ich bleibe hier. Wir können abwechselnd Wache halten.«

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