28 »In Schatten fiel das alte Reich«

Flint rutschte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit einen engen Steinschacht hinunter. Verzweifelt versuchte er, sich mit den Händen festzuhalten oder mit den Stiefeln irgendwo zu bremsen. Es mußte doch ein Felsnase oder einen Sims geben, wonach er greifen und seinen Fall verlangsamen konnte. Aber der kalte Stein des Kamins war wie Glas, vom Regenwasser der Jahrhunderte blank gewaschen. Flint rutschte weiter in die Dunkelheit. Der Kamin bog nach rechts ab.

Er fragte sich gerade, wo seine dunkle Fahrt enden würde – plötzlich und unangenehm zweifellos, wenn der Spalt auf einmal an eine Steinwand stieß –, als er merkte, daß es weniger steil wurde. Der Schacht lief sanft aus.

Als er endlich am Ende ankam, war die Spalte fast eben, und Flints Rutschpartie war langsam geworden. Einen Moment lang war er ringsum vom Stein des Schachts umgeben, im nächsten war da nur noch dunkle, feuchtkalte Luft.

»Reorx!« fluchte Flint, als er im Leeren herumruderte und dann platschend in eiskaltes Wasser fiel. Die Strickleiter, die er während des Falls nutzloserweise festgehalten hatte, landete neben ihm.

Der Zwerg schlug spuckend um sich und prustete in dem metallisch schmeckenden Wasser herum – bis er erkannte, daß er irgendwie nicht tiefer in das eisige Naß eintauchte. Erst da merkte Flint, daß er auf Händen und Knien hockte und daß das Wasser ihm nur bis zum halben Unterarm reichte. Wenn er nicht so um sich geschlagen hätte, wäre er wahrscheinlich gar nicht besonders naß geworden.

Das alles – dazu hatte der Sturz noch seine Schulterwunde wieder aufgerissen – machte ihm nicht gerade gute Laune.

»Bei Reorx’ Schmiede!« stammelte er, während er sich aus dem flachen Wasser zog. Doch er bereute seine Worte auf der Stelle. Sie hallten in der Finsternis um ihn herum nach, als wenn er sich in einer riesigen Höhle befände. Flint hatte den beunruhigenden Eindruck, daß die Schwärze wütend aufwirbelte, als wollte sie ihre Stille nicht durch seine Worte stören lassen. Der Zwerg fühlte einen Schauer über seine Haut laufen – eindeutig vom kalten Wasser, versicherte er sich, auch wenn er fürs erste den Rest seiner Beschwerden für sich behielt.

Flint setzte sich kurz auf den kalten Boden und versuchte zitternd, in der Dunkelheit wieder zu Atem zu kommen. Er sah sich um, konnte aber nirgends Licht entdecken – wenig überraschend mitten in der Nacht im Inneren einer Schlucht, fand er. Der Sturz konnte kurz gewesen sein oder die halbe Schlucht runter; das konnte er nicht feststellen. Sein Herz setzte fast aus, als er an Tanis da oben dachte. Flint schüttelte den Kopf. Jetzt konnte er Tanis nur durch ein kurzes Gebet zu Reorx helfen und versuchen, einen Weg nach draußen zu finden, wo auch immer er gelandet war.

Flint spähte in die Finsternis um sich herum. Zwerge haben eine besondere Sehfähigkeit, durch die sie fähig sind, Wärme wahrzunehmen, die von etwas ausgeht – was Flint in der kalten Schwärze hier unten kein bißchen weiterhalf.

Aber auf einmal sah er doch etwas – etwas, das wie zwei blasse Kreise aussah, die nebeneinander schwammen, und zwar dort, wo er den kleinen Teich wußte. Die Kreise waren so matt, daß er sie kaum sehen konnte, und leuchteten in einem kränklichen Grün. Dann bemerkte er ein weiteres Paar kleiner Kreise und noch eins, das langsam vor ihm her trieb.

Flint klopfte die Taschen seines Lederwamses und seiner Hosen ab, bis er gefunden hatte, was er suchte – Flint und Stahl, Zunder und einen Kerzenstummel. Zum Glück waren die Sachen in geöltes Leder eingewickelt gewesen, so daß sie noch trocken waren. Kurz darauf hatte Flint einen Funken geschlagen. Ein Flämmchen leuchtete auf.

Im flackernden Licht sah Flint, wie sich vor ihm die dunkle Wasserfläche wie polierter Onyx erstreckte. Der Zwerg erschauerte, als er die Quelle des seltsam blassen Lichts sah: Fische, die in dem eiskalten Teich schwammen. Die Fische waren blasse, schwächliche Geschöpfe von der Länge seines Unterarms, mit gewölbten Augen, so groß wie Untertassen. Ihre Augen hatten das kränkliche Licht ausgestrahlt. Das Licht seiner Kerze schien sie zu stören, denn sie schwammen still davon, auf der Suche nach der Finsternis, die sie seit Äonen ungestört bewohnten.

»Bei den Göttern, was ist das für ein Ort?« murmelte Flint in sich hinein. Er hob die Kerze in die Höhe und sah sich um. Der Boden war aus grauem Stein – Kalkstein wahrscheinlich, überlegte er, der unter der oberen Granitschicht lag – und die Wände aus dem gleichen Material. Aber der Stein wirkte zu glatt und zu eben, um natürlichen Ursprungs zu sein. Hohe Zapfen erhoben sich wie Stalagmiten aus dem Boden, doch als Flint näher kam, sah er, daß es kunstvoll verzierte Säulen waren. Die waren nicht durch das Wasser entstanden, das wußte er, sondern durch die Hände lebender Wesen. Er ging langsam durch den gewaltigen Raum, in dem er gelandet war. Obwohl er beim Echo seiner Schritte zusammenzuckte, lief er weiter.

Er sah, daß er gar nicht in einer Höhle war, sondern in einer Art großem Saal. Säulen standen an den turmhohen Wänden, die nach oben in die Schatten hochragten, jenseits von Flints schwachem Kerzenschein. Reihen von Bänken waren auf eine Art erhöhtes Podium ausgerichtet, hinter dem eine breite Treppe nach oben in die Schatten zu unbekannten Orten führte.

Die Steinmetzarbeit war unglaublich kunstvoll. Flint fuhr mit der Hand über die sorgfältig polierten Ränder und die verschlungenen Muster der Säulen. Solche Handwerkskunst kannte die Welt heute nicht mehr, aber Flint war sicher, daß sie von Zwergen stammte. Es konnte nichts anderes sein, nicht hier, so tief unter der Erde. Aber es war auch alt. Das Alter lastete hier so schwer wie das enorme Gewicht des Felsens, der zwischen Flint und der Außenwelt lag. Doch was für ein Ort konnte das sein, so nah an dem Elfenreich? Er mußte sehr alt sein, womöglich älter als Qualinesti selbst.

Eine plötzliche Erkenntnis durchzuckte Flint, und die kleine Kerzenflamme zuckte, als seine Hand zu zittern begann. Unwillkürlich fielen ihm die Worte eines alten Gedichts ein, das er als Kind gelernt hatte. Er erinnert sich, wie er als ganz kleiner Junge auf dem Schoß seines Vaters gesessen hatte. Es war eine der wenigen Erinnerungen an seinen Vater, der sehr früh gestorben war. Flint hatte gebannt gelauscht, wenn sein Vater leise am Feuer von einem uralten Königreich gesungen hatte:

So schloß man die Tore auf des Lehnsherrns Wort

Bei kaltem Totengeläut sogleich.

Versperrt vor dem Volke im Sonnenschein,

In Schatten fiel das alte Reich.

Flint erschauerte beim Gedanken an seinen Großvater, der in den Zwergentorkriegen umgekommen war. Dann überlegte er weiter, wo er sich wohl befinden mochte.

»Thorbardin? Pax Tharkas?« flüsterte Flint in die Schatten.

Es war gut möglich, sagte er sich, daß er durch einen anderen dieser verflixten elfischen Sla-Mori gefallen war, einen, der in die alte Hauptstadt der Bergzwerge oder in die Festung der Elfen und Zwerge führte. Wenn das so war, dann würde es ratsam sein, den verhaßten Vettern der Hügelzwerge so rasch wie möglich zu entkommen.

Zögernd, weil er die Wahrheit über seinen Aufenthaltsort zu entdecken fürchtete, ging Flint weiter.


Tanis landete unsanft auf einem schmalen Granitvorsprung, der etwa dreißig Fuß unter dem Rand aus der Klippe ragte – immer noch Hunderte von Fuß über dem Fluß.

Als er aufkam, erzitterte der Vorsprung unter seinem Gewicht. Ein paar Kieselsteine rutschten herunter, um lautlos kreisend ins Leere zu fallen. Der Stein neigte sich leicht zur Schlucht hin. Tanis suchte sich etwas zum Festhalten, als ein Haufen Erde und Steine über ihn hinwegrauschte und ihm in Augen und Mund drang. Seine linke Hand erwischte ein festes Stück Felsen, und er hörte auf zu rutschen.

Er blinzelte den Dreck aus den Augen. Dann schrie er: »Gilthanas!«

Sein Cousin rutschte den Stein hinunter und war drauf und dran, in den Abgrund zu stürzen. Verzweifelt streckte Tanis die Hand aus und konnte Gilthanas gerade noch am Handgelenk festhalten. Zuerst befürchtete der Halbelf, daß er durch das zusätzliche Gewicht selbst den Halt verlieren würde, so daß sie dann beide in die Tiefe stürzen würden, doch er schaffte es, seine Stiefelspitzen in eine Spalte in der Klippe zu graben. Er preßte sich eng an den glatten Stein und hielt Gilthanas mit aller Kraft fest. Tanis konnte nicht feststellen, ob der junge Elf lebte oder tot war.

Die lastende Schwärze der Mitternacht machte alles nur noch schrecklicher.

Tanis merkte, daß seine Handfläche schweißnaß wurde. Der Felsen neigte sich noch weiter. Wie lange konnte er noch festhalten? Es war sowieso egal. Der Stein konnte jeden Moment abbrechen.

Mit enormer Anstrengung verstärkte Tanis seinen Griff um Gilthanas’ Ärmel. Der Stein kippte weiter, und wieder kullerten einige Kieselsteine in die Tiefe. Tanis schloß fest die Augen, betete im stillen, daß Gilthanas’ Schneider einen festen Stoff verwendet hatte, und zog wieder an der Uniform.

Sein Cousin stöhnte, und Tanis’ Herz klopfte schneller. Gilthanas war am Leben! Das gab ihm wieder neue Kraft, und mit einem einmaligen Dankgebet für sein Menschenblut, das ihn so stark machte, riß der Halbelf Gilthanas vom Rand weg zu sich hoch. Dann saß er zusammengekauert auf dem schmalen, drei Fuß breiten und doppelt so langen Vorsprung aus Kalkstein und Granit und umklammerte seinen Cousin.

Tanis setzte sich etwas um, um eine weniger gefährliche Lage einzunehmen, doch das half nichts. Vorsichtig schob er seinen Cousin eng an die Klippenwand, wo der junge Mann hoffentlich nicht herunterrollen konnte, falls Tanis einschlief und ihn losließ. Wer den Halbelfen dann selbst vor dem sicheren Tod bewahren würde, wußte er nicht.

Tanis sah die Klippe hoch, erkannte aber nichts außer den Sternbildern. Bei Mondschein hätten sie Ritzen für Zehen und Finger finden und hochklettern können, aber die Nacht war so schwarz wie in einem Sarg. Weit im Osten konnte Tanis Fackeln auf dem Sonnenturm sehen. Die Diener im Palast waren bestimmt noch fleißig dabei, den Turm für den morgigen Höhepunkt des Kentommen vorzubereiten.

Er sah zu Gilthanas hinüber. Der junge Mann war bewußtlos, aber er atmete zumindest. Doch selbst wenn der Morgen zeigen sollte, daß man die Klippe hochklettern konnte, fragte sich Tanis, wie er Gilthanas die steile Wand hochbekommen sollte.

Bis zur Dämmerung würden sie jedenfalls nirgends hingehen. Er lehnte sich wieder an die Wand an, wodurch ein neuer Schwall Geröll über den Rand rutschte, und versuchte, an etwas anderes zu denken.

Er fragte sich, wo Flint wohl war – und wer den Tod des Zwergs betrauern würde, wenn auch Tanis verschwunden war.

Es konnte noch viel mehr zu betrauern geben, bis die verhüllte Gestalt fertig war, dachte Tanis. Er hatte keinen Zweifel mehr, daß der Mörder auch Laurana und Porthios und vielleicht sogar die Stimme umbringen wollte. Wieder sah er zum Turm, einen hellen Finger in der Dunkelheit, wo die Stimme ihre eigene Wache für Porthios’ Kentommen hielt. Dann blickte er zur Seite zum Palast. Er hoffte, daß Laurana in Sicherheit war. Zumindest war die Wache, die bestimmt noch vor Tanis’ Tür stand, nicht weit von Lauranas Zimmern entfernt, wenn auch nicht in Sichtweite. Und er wußte, daß Flint Laurana gesagt hatte, sie solle sich bis zum Morgen einschließen.

Tanis sah auf den dunklen Fleck rechts vom Turm, wo der Hain lag, und hoffte, daß der Mörder nicht gerade jetzt auf die Bäume jenes heiligen Orts zuschlich, um den wehrlosen Erben anzugreifen.

Als er schließlich sicher war, daß das nächste Opfer des Mörders Porthios sein würde, fragte sich Tanis, wie er den Erben warnen konnte, mal angenommen, daß der Halbelf sich aus seiner gegenwärtigen Lage befreien konnte. Er würde auf keinen Fall das Melethka-Nara unterbrechen können; das würden die drei Fragenden zu verhindern wissen, selbst wenn er an den Wachen vor dem Raum tief unter dem Palast vorbeikäme.

Vielleicht gab es einen Weg, Porthios auf seinem Weg von jenem Raum zum Turm abzufangen. Der junge Mann ging diesen Weg traditionell allein, denn es war der dritte Teil des Kentommen, genannt Kentommen-Tala. Es gab zwei Hauptprobleme: Alle Palastwachen wußten, daß Tanis unter Arrest stand, und es würde nicht leicht sein, Porthios davon zu überzeugen, daß der älteste Sohn der Stimme in Gefahr war. Vielleicht…

Plötzlich schrie in der Dunkelheit über ihm ein Maultier.

Tanis ließ um ein Haar Gilthanas los, denn der Ton ließ seinen Puls rasen. »Windsbraut!« rief er, und der Vorsprung bewegte sich etwas. Das Maultier wieherte wieder, diesmal etwas näher.

Tanis’ Gedanken rasten. Wie konnte er sich das Maultier zunutze machen? Flint hatte es mit dem langen Seil von der Leiter festgebunden. Wenn es vielleicht genau am Rand stand und das Seil herunterhing…

Er schrie wieder, und Windsbraut antwortete. Ein Huf stieß oben gegen einen Stein und ließ ihn an Tanis vorbeifallen. Gilthanas regte sich neben Tanis und murmelte etwas über den Lärm. Einen Augenblick war der Halbelf voller Hoffnung.

Dann entfernte sich das Maultier von der Klippe. »Windsbraut!« schrie er. Gilthanas stöhnte, versuchte, sich aufzusetzen, und sackte wieder zusammen. Aber die Hufschläge von Windsbraut wurden leiser.

Natürlich, dachte Tanis. Sie suchte Flint. Er sackte wieder an die Wand zurück.

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