Miral war wie erstarrt, als die Gestalt in der grauen Robe den Turm betrat. Das Murmeln der Gäste verstummte, und die Zuschauer sahen erwartungsvoll zu, wie Gilthanas am inneren Rand des Turms entlang lief.
Aber Gilthanas ist tot, schrie es in dem Magier.
Irgend etwas an Gilthanas war jedoch verändert, dachte er. Der Mann wirkte größer; die Robe saß etwas stramm um seine Schultern. Die Gestalt in der Robe sah eher Tanis ähnlich als Gilthanas.
Aber Tanis war doch auch tot.
Mirals Blick folgte der grauen Robe, die mit geschmeidigen Bewegungen zum richtigen Portal rannte, um dann dort zu warten.
Solostaran kam in seinen gold-grünen Gewändern aus einem Nebenraum und ging quer durch den Saal zum Podium. Feierlich stieg er die Stufen zur Plattform hoch und drehte sich der Menge zu, um die kleine Rede zu halten, die seit zweitausend Jahren alle Eltern beim Kentommen eines Kindes sprachen.
»Dieser Tag ist für mich voller Leid«, sagte er schlicht in der alten Elfensprache. »Ich habe ein Kind verloren.«
Oben auf dem Balkon erfaßte Miral plötzlich das Komische der Situation. Schweigend schüttelte er sich vor Lachen. Was wußte Solostaran schon, dachte er. Der Magier beschloß, die Farce noch etwas weitergehen zu lassen. Wer weiß, mit was für anderen unwissentlich absurden Sprüchen die Stimme noch kommen würde?
Solostarans Raubvogelgesicht war ernst, als er fortfuhr: »Ich habe im Hain ein Kind verloren. Darum habe ich keinen Erben. Kann mir jemand Trost spenden?«
Auf dem ersten Balkon, direkt unter Miral, ertönten Trommeln. Er hörte, wie sich weit unten eine Tür öffnete und drei maskierte Elfen in schwarzen Seidenhosen, entsprechenden Umhängen und schwarzen Lederhandschuhen heraustraten. Die Ulathi.
»Wir haben ein Kind gefunden«, sagte der erste.
»Er ist reinen Herzens«, sagte der zweite.
»Dieses Kind ist ein leeres Gefäß, das gefüllt werden kann«, sagte der dritte.
Alle gleichzeitig sprechen: »Wir haben ein Kind gefunden, das dein Erbe sein soll und der deines Geschlechts.«
Der Gong erklang. Gilthanas stieß die Tür auf und verschwand dahinter. Dann schloß sich die Tür.
Als Tanis aus dem grellen Licht des Turms plötzlich in die fast völlige Finsternis trat, mußte er blinzeln. Er konnte die Kerzenflamme flackern sehen, doch Porthios’ Gestalt war nur ein unscharfer Umriß in der Dunkelheit. Die Medaille, die Flint gemacht hatte, glänzte im Kerzenschein.
Er mußte näher an Porthios heran. Was hatte Gilthanas noch für Worte gesagt? Tanis überlegte angestrengt.
»Ich bin deine Kindheit«, deklamierte er, wobei er versuchte, seine Stimme so hell wie die von Gilthanas klingen zu lassen. »Laß mich zurück. Die Nebel sind vorbei – « Das klang nicht richtig, aber er tat sein Bestes. »Geh in deine Zukunft.«
»Gilthanas!« sagte Porthios entsetzt. »Sag die richtigen Worte – und zwar in der alten Sprache!«
Tanis zögerte.
»Hast du sie vergessen?« zischte Porthios. »Hör zu.« Der Sohn der Stimme wiederholte die korrekten Worte in der alten Sprache. »Sag es.«
Tanis zögerte immer noch. Porthios kam näher, wie Tanis es gewünscht hatte.
Einen Augenblick lang spielte Tanis mit dem Gedanken, seinen Cousin mithilfe seiner Körperkraft zu überwältigen. Er hatte Porthios schon einmal ins Gesicht geschlagen, vor langer Zeit im Hof des Palasts. Damit war die einzige Prügelei der beiden Cousins in ihrem ganzen Leben losgegangen. Und die hatte ihm auf Jahre hinaus Porthios’ Feindschaft eingebracht.
»Porthios«, sagte er mit unverstellter Stimme. »Hör mir zu. Geh nicht durch diese Tür.«
»Tanthalas!« Auf Porthios’ Gesicht malte sich der Schreck. »Wo ist Gilthanas? Was hast du –?«
»Hör zu!« zischte Tanis. »Wenn du irgend etwas bei deiner Wache im Hain gelernt hast, dann hör mir jetzt zu.«
Sein Cousin trat zurück und schien bewußt eine unbewegte Miene aufzusetzen. Er atmete einmal tief durch. »Was ist, Tanis?« fragte er mit ruhiger Stimme.
»Es ist eine Verschwörung im Gange, bei der du und die Stimme getötet werden sollen.«
»Die Stimme? Geht es meinem Vater gut?«
»Ja, sicher. Ich bin hier, um den Mörder aufzuhalten.«
»Du?« Porthios lachte kurz, doch sein Gesicht war überraschend freundlich. »Tanis, du bist doch noch ein Kind…«
Tanis redete hastig, denn er wußte, daß die Zuschauer vor der Tür unruhig werden würden. Das Schlimmste, was jetzt geschehen konnte, war, daß jemand die Tür aufmachte und hereinsah. »Porthios, derselbe, der Xenoth und Eld Ailea umgebracht hat, ist hinter dir, der Stimme und Laurana her. Ich weiß es.«
»Woher weißt du das?«
Tanis überlegte. Er hatte keine Zeit mehr, Porthios zu überzeugen. Er konnte die Situation mit Gewalt beenden, doch sein Elfenblut sträubte sich dagegen, einen jungen Mann während seines Kentommen niederzuschlagen, egal aus welchem Grund.
Aber er konnte lügen.
»Porthios«, sagte Tanis. »Gilthanas ist tot.«
Es gab eine Pause. Porthios verzog keine Miene.
»Der Mörder hat auch ihn erwischt. Porthios, wenn du und Laurana und die Stimme umkommen, stürzt dieses Reich in ein Chaos.«
Porthios hatte offenbar Schwierigkeiten, alles zu verdauen, was er gerade gehört hatte. Tanis litt mit ihm, weil er an seinem Schmerz mitschuldig war. »Ich habe einen Plan, Porthios.«
Die Antwort kam ruhig: »Welchen?«
»Hör zu«, sagte Tanis. »Ich bin nicht so wichtig…«
Flint blickte in den Spalt in der Eiche, der ihm vor ein paar Monaten das Leben gerettet hatte. Zu Flints Erleichterung hatte sich der Baum inzwischen wieder geöffnet. Er betrat die Höhle. Windsbraut folgte ihm auf den Fuß, ohne daß Flint sie beachtete.
»Wie bin ich letztes Mal durchgekommen? Was habe ich gemacht?« murmelte er, während er mit einem brennenden Holzscheit in der Hand knöcheltief im trockenen Laub stand. »Die Rune.« Er sah nach unten. »Der Boden des Baums hat Feuer gefangen. Vielleicht war es das.« Er dachte nach. »Nun, wenn ich mich irre, komme ich eben in den Flammen um.«
»Na, schön«, sagte er und berührte die Blätter mit der Fackel.
Flammen loderten auf.
Miral rannte den zweiten Balkon entlang, um die Wendeltreppe zum Erdgeschoß hinunterzulaufen. Gilthanas war schon viel zu lange in dem Korridor. Etwas lief nicht nach Plan. Er tobte innerlich.
Als er die Tür zum Treppenhaus erreichte, hörte er entsetzte Worte in der Menge und drehte sich um.
»Porthios kommt bewaffnet!«
»Was?«
»Zum Kentommen kommt der junge Elf nie bewaffnet!«
»Was hat das zu bedeuten?«
Solostaran erbleichte, als er die Gestalt anstarrte, die er für seinen Sohn und Erben hielt, doch er konnte sich beherrschen. »Porthios«, befahl er. »Sag mir, was das soll.«
»Es ist ein Mörder im Turm«, schrie Tanis und fegte sich die Kapuze vom Gesicht.
Wieder brachen die Adligen in erschrockene Rufe aus, während sich die Menge unwillkürlich teilte und Tanis mit dem Schwert in der Hand hindurch eilte. Mit einem Sprung war er auf dem Podium neben der Stimme.
»Tanthalas!« schrie Miral von oben. »Aber du bist doch tot!«
Der Junge fuhr zu dem Magier herum. Tanis’ Blick traf sich mit dem von Miral, und der Magier sah den Schmerz in den Augen des Halbelfen. »Woher weiß du das, Zauberer?« gab er zurück.
»Wachen!« donnerte Tyresian.
Tanis hielt sein Schwert hoch. Elansas Amulett glitzerte wie eine kleine Sonne. »Der Zauberer hat schon zweimal getötet, und heute will er noch mehr Morde begehen.« Er zeigte mit dem Schwert auf Miral.
Miral bekämpfte einen Lachanfall angesichts des Chaos unter ihm. Gab es einen besseren Zeitpunkt für seinen letzten Spruch? Er begann zu singen.
»Bei den Göttern«, bellte Tyresian. »Der Halbelf hat den Verstand verloren. Und der Zauberer auch. Wachen!«
»Tanis, wo ist Porthios?« kam Lauranas schriller Schrei. »Und Gilthanas?«
Tanis hatte keine Zeit zu antworten. Er drängte sich durch die Adligen zur Treppe. Schwarzgekleidete Palastwachen strömten in den Turm, erkannten jedoch nicht gleich, daß es der Halbelf war, den Tyresian festnehmen wollte. Tanis schlüpfte zwischen ihnen durch, warf sich gegen die Tür zur Treppe und nahm immer drei Stufen auf einmal.
Als wenn die Worte in seinem Kopf dröhnten, hörte Tanis, wie Miral mit seinem Spruch fortfuhr. Über ihnen knirschte die Spitze des Turms.
Plötzlich erschien vor ihm auf den Stufen Eld Ailea.
Tanis warf sich gegen die Wand der ersten Empore.
»Ailea!« rief er. »Du bist nicht tot.« Sie sah ihn an und lächelte.
Dann war es plötzlich nicht mehr Ailea, sondern Xenoth, der laut lachte und spöttisch auf den Halbelfen zeigte. Tanis hielt das Schwert vor sich und kämpfte gegen die Panik an, die in ihm aufstieg.
Xenoth verwandelte sich in einen Elfen mittleren Alters mit schmalem Gesicht und reinblauen Augen. Sein Arm stützte eine blasse Frau mit langen, weizenblonden Locken und braunen Augen. Sie sah Tanis an, hob schwach eine Hand und flüsterte: »Tanthalas, mein Sohn.«
Tanis stand reglos da. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, denn die Qual dieses Moments drang tief in ihn ein. Dann riß er sich los und schrie: »Das ist Zauberei!« Die beiden Gestalten lösten sich schimmernd in Luft auf.
Er stürmte durch den Platz, wo sie gestanden hatten. Kalte Luftfinger streiften seinen Arm, als er vorbeirannte.
»Miral!« schrie er, als er auf den zweiten Balkon sprang.
Drei Mosaikteilchen lösten sich und stürzten in die wimmelnde Elfenmenge. Ein dünner Riß tat sich in der Spitze des Turms auf.
In diesem Augenblick erschienen mit einem Donnerschlag Flint und Windsbraut auf dem Podium.
»Arelas!« brüllte der Zwerg. Seine Stimme hallte durch den Turm. »Arelas Kanan!« Er zeigte mit dem Hammer auf den Magier.
Mirals Singsang wurde langsamer und brach ab. Mit erhobenen, allmählich schweißnassen Händen hielt er den Spruch auf und sah auf Flint hinunter. Plötzlich war es im Turm totenstill bis auf das leise »Pling« der Mosaikteilchen, die von oben herabregneten. Die Luft roch nach Stein und Gips.
»Arelas?« sagte die Stimme zögernd. »Mein Bruder?«
»Dein Bruder ist nicht gestorben, Stimme«, sagte Flint. »Nicht Arelas. Er kam als Miral zu dir.«
Das Maultier schrie und zerstörte damit Flints Bann, woraufhin Miral seinen Gesang wieder aufnahm. Ein Stöhnen, wie in Todesqual, kam von dem Riß zwischen den Mosaiken von Tag und Nacht in der Spitze des Turms.
»Er hat Lord Xenoth umgebracht, weil der herausgefunden hatte, wer er wirklich war«, schrie Flint mit zornbebender Stimme. »Aus dem gleichen Grunde mußte Eld Ailea sterben. Und jetzt will er dich und deine Kinder töten!«
Mit erstaunlicher Ruhe drehte sich die Stimme einfach zu Miral – zu Arelas – um und fragte: »Warum?«
Als dieser auf sie herab sah, spürte er die Wut, die er seit fast zweihundert Jahren in sich trug. Er nahm die Arme herunter und hörte auf zu singen. »Sie haben mich weggeschickt, Solostaran!« brüllte er. »Sie haben mich aus Qualinost weggeschickt!«
»Du lagst im Sterben, Arelas«, erwiderte die Stimme. »Jedenfalls glaubten wir das.«
»Ich war immer der Begabtere, Solostaran«, schrie Arelas. »Ich hätte die Stimme sein sollen. Ich werde die Stimme sein! Und ich werde Qualinesti für die reinen Elfen bewahren. Jetzt, wo ich die Macht des Grau – «
Ein Teil einer Marmorsäule, die den ersten Balkon trug, zerbarst, weil Arelas’ Zauber sie geschwächt hatte. Die Steinsplitter schossen in den Saal, wo die Adligen auseinander stoben. Arelas verzog das Gesicht, warf die Hände hoch und schickte einen Blitz zum Podium. Flint warf sich gegen Solostaran und stieß die Stimme vom Podium. Tyresian warf sich über Laurana, die dadurch in den relativ sicheren Bereich unter dem Balkon rollte. Ein Marmorblock krachte auf den Elfenlord herab, und Laurana schrie auf.
Porthios brach aus dem Yathen-Ilara.
»Arelas!« schrie Tanis wieder und erhob sein Schwert.
Aber der Magier lachte. »Daraus wird nichts, Tanthalas! Gegen mich hat dein Schwert keine Macht.« Er breitete die Arme aus und tanzte höhnisch ein paar Schritte. »Ich habe es nämlich verzaubert, zur selben Zeit, wo ich jene Pfeilspitzen verzaubert habe, die du so trefflich gegen den Tylor und Lord Xenoth verwendet hast.« Das Lachen wurde zu einem hustenden Spruch, und Tanis sah seine Chance. Er sprang zu Arelas hin und schlug zu.
Doch sein Schwert prallte von etwas in der Luft ab und fuhr einfach über den Kopf des Magiers hinweg. Arelas nahm die Arme hoch, kehrte dem Elfen betont den Rücken zu und sang weiter. Ein weiteres Stück Mosaik fiel herab.
Arelas lehnte sich über den Balkon. Einen Arm streckte er nach hinten aus, als wenn er einen weiteren magischen Feuerstuhl auf die Zuschauer schleudern wollte.
Tanis versuchte es erneut. »Miral! Arelas! Gilthanas lebt.«
Tanis sah, wie Porthios’ Kopf herumfuhr. Das Gesicht seines Cousins leuchtete auf vor Hoffnung, als er hörte, daß sein kleiner Bruder nicht tot war. Arelas drehte sich mit schrecklicher Miene um. Aus seinen Augen war jede Farbe gewichen.
»Er lebt?« fragte der Zauberer nach.
Obwohl sein Schwert gegen Arelas anscheinend nutzlos war, hielt Tanis es weiter vor sich. »Gilthanas steht in der Erbfolge über dir, Arelas«, schrie der Halbelf. »Du wirst nicht Stimme, egal, was du heute hier machst.«
Arelas bebte, als ob er am Rande des Abgrunds taumelte. Dann schoß ein Arm nach vorn, und ein Blitz ging gegen den Halbelfen los.
Rein instinktiv erhob Tanis das Schwert. Der Blitz des Magiers traf Elansas Anhänger, der zu flüssigem Stahl zerschmolz. Da zuckte ein zweiter Blitz vom Schwert zum Magier zurück, welcher getroffen aufschrie und vom Balkon stürzte.
Sein Körper ging in Flammen auf, noch bevor er den Boden des Turms erreichte.